# taz.de -- Erasmusparadies Türkei: Studieren im Ausnahmezustand | |
> Die Türkei ist im Umbruch und deshalb meiden viele Europäer das Land. | |
> Warum Studierende dennoch ein Auslandssemester in Istanbul verbringen. | |
Bild: „Aber ich spüre diese Lebensfreude immer noch, diese Energie im Nachtl… | |
Jörg Schrader kennt die Kreuzung, auf der die Leichen liegen. Nach einem | |
Heimspiel von Beşiktaş hatte er genau diese Kreuzung zwei Wochen zuvor | |
überquert. Nun sind dort zwei Bomben explodiert, 46 Menschen sterben. Jörg | |
sieht die Bilder im Fernsehen, das Blaulicht, die Toten. „Der Anschlag hat | |
mich aus meiner Blase rausgeholt“, sagt der Erasmus-Student Mitte Dezember. | |
„Auf einmal ist der Terror so nah.“ | |
Vor diesem weiteren blutigen Attentat am Fußballstadion schwärmte Jörg noch | |
von seinem Leben als Erasmus-Student: das Gewusel auf den Straßen, die | |
Gesänge der Marktverkäufer, die frische Zitronen anpreisen. Dazwischen Jörg | |
aus der Studentenstadt Erfurt, der mit seinen 27 Jahren so aussieht wie | |
viele junge Städter: Bart, Hornbrille, eine selbst gedrehte Kippe in der | |
Hand. Am Abend geht es auf eine Party. So stellt man sich das Leben als | |
Austauschstudent vor. | |
„Beim Erasmus-Studium verbringt man seine Zeit weniger im Hörsaal und mehr | |
auf den Straßen“, erzählt Jörg. „Wer Jura studiert, Politik, Soziologie, | |
Ethnologie, Geschichte, kann in Istanbul wirklich etwas lernen – bei dem, | |
was hier gerade passiert.“ Jörg selbst studiert in Erfurt Stadtplanung. | |
Istanbul ist für ihn ein einziges Anschauungsobjekt, weil die türkische | |
Regierung ganze Viertel abreißt und neu baut. | |
„Manchmal fahre ich in einen neuen Stadtteil und staune einfach nur – aus | |
dem Nichts ziehen sie hier in wenigen Monaten Häuser für Tausende Menschen | |
hoch“, sagt der junge Stadtplaner, wohl wissend, dass viele Istanbuler seit | |
den Gezi-Park-Protesten schlecht auf Bauprojekte der Regierung zu sprechen | |
sind. | |
## Spannend für Politologen und Stadtplaner | |
Dass Jörg in der Türkei studieren kann und dabei gefördert wird, verdankt | |
er dem Erasmus-Programm der Europäischen Union. Die Türkei nimmt daran | |
teil, genauso wie andere europäische Länder außerhalb der Union. | |
Als Leiter des Erasmus-Referats im Deutschen Akademischen Auslandsdienst | |
(DAAD) bekommt Markus Symmank mit, warum Studenten trotz der angespannten | |
Lage die Türkei als Zielland wählen: „Von den Studierenden hören wir, dass | |
sie die türkische Gesellschaft gerade jetzt in dieser spannenden Situation | |
erleben wollen. Aus manchen Fachrichtungen macht das ja auch besonders | |
Sinn, für Juristen oder Politikwissenschaftler etwa.“ | |
Zu viel Interesse kann gefährlich sein, warnt das Auswärtige Amt auf seiner | |
Website: „Es wird dringend davon abgeraten, sich von politischen | |
Veranstaltungen und grundsätzlich von größeren Menschenansammlungen | |
fernzuhalten.“ Als im November ein deutscher Tourist Flyer gegen die | |
Festnahme des HDP-Vorsitzenden Demirtaş verteilte, verprügelten ihn | |
Polizisten in einem Hauseingang, wie türkische und deutsche Medien | |
berichteten. | |
Und die Inhaftierung des deutschen Journalisten Deniz Yücel, der auch eine | |
türkische Staatsangehörigkeit besitzt, zeigt, dass auch die türkische | |
Justiz nicht an der Landesgrenze haltmacht. Jörg glaubt dennoch: „Der | |
deutsche Pass ist ein starker, der schützt mich. Wenn ich gehen muss, gehe | |
ich.“ Zumal sich Jörg in der Türkei nicht politisch engagiert. | |
## Einblicke bekommt nur, wer mit Türken zusammenlebt | |
Die türkische Politik verstehen will er dennoch. Das ist nicht einfach, | |
weil es kaum noch unabhängige Zeitungen gibt und Facebook und Twitter nach | |
Anschlägen gesperrt werden. Vielen Erasmus-Studierenden fällt es zudem | |
schwer, gegenüber ihren türkischen Kommiliton*innen politische Themen | |
anzusprechen, sagt Jörg: „Die Kommilitonen hier sind nett und hilfsbereit. | |
Es ist eher zu Hause, dass die Leute mal offen reden. Ich kenne aber | |
niemanden, der für Erdoğan wäre.“ | |
Tiefere Einblicke in die türkische Gesellschaft bekommt nur, wer eng mit | |
Türken zusammenlebt. So wie Annabelle Häusler. Vor mehreren Jahren hat sich | |
die Wienerin in einen jungen Türken verliebt und besucht ihn seitdem | |
regelmäßig in Istanbul. Das Auslandssemester in Istanbul war nun die | |
Chance, das erste Mal länger mit ihrem Freund zusammenzuwohnen, zu schauen, | |
ob es funktioniert. Weil sie ihren Freund nicht in Gefahr bringen will, | |
soll hier nichts über ihr Alter und ihr Studienfach stehen, auch ihr Name | |
ist geändert. | |
Annabelle fällt auf, wie schwierig der politische Austausch mit Türken ist. | |
Wenige Monate vor dem Referendum über die neue Verfassung ist die | |
Gesellschaft gespalten wie nie. Es ist ungewiss, ob man einen Freund durch | |
eine beiläufige Aussage zum Terrorunterstützer macht und damit in Probleme | |
bringt. Und niemand will mit einer offenen Meinung den Abend sprengen, so | |
unversöhnlich wie derzeit Gegner und Anhänger des türkischen Präsidenten | |
Recep Tayyip Erdoğan aufeinander losgehen. | |
## Einheimische sind Schreckensnachrichten gewöhnt | |
Durch ihren Freund und dessen Familie hat Annabelle dennoch einen anderen | |
Zugang zur aktuellen Situation: „Nach dem Putschversuch im Juli herrschten | |
Schock und Ungläubigkeit“, erzählt Annabelle. „Für meinen Freund und sei… | |
Familie war es aber fast schon normal, die hatten das recht schnell | |
verarbeitet. Das ist hier oft so. Als ich den Bericht von Amnesty zu Folter | |
im türkischen Polizeigewahrsam gelesen hatte, war ich völlig geschockt. | |
Mein Freund dagegen meinte, klar, das gibt es hier, nichts Neues.“ | |
Obwohl Annabelle durch ihren Freund die Normalität des Alltags in Zeiten | |
politischer Verunsicherung miterlebt, hat sie manchmal Angst: „Auf meinem | |
Weg zur Uni merke ich, dass die Polizeipräsenz eine ganz andere ist. In | |
Österreich ist die Polizei mein Freund und Helfer, hier versuche ich nicht | |
bei denen zu sein. Du weißt nie, ob jemand gerade etwas gegen die Polizei | |
im Schilde führt. Das ist ein unangenehmes Gefühl.“ Sie geht dann auf die | |
andere Straßenseite, versucht, nicht neben der Polizei herumzustehen. | |
Die Angst vor Terror und staatlicher Repression hat Folgen. Die Zahlen | |
ausländischer Studierender in der Türkei sind drastisch eingebrochen. Kamil | |
Can Erdem vom türkischen Erasmus Student Network (ESN) sagte gegenüber der | |
türkischen Zeitung Hürriyet, dass sich von 2015 zu 2016 die Zahl der | |
Erasmus-Studierenden in der Türkei halbiert habe. Konkrete Zahlen gibt es | |
von der Universität Boğaziçi im europäischen Teil Istanbuls, einer der | |
renommiertesten Hochschulen des Landes. | |
„Wir empfangen normalerweise 600 bis 700 internationale Studenten“, | |
beschreibt Jana Stoláriková vom Büro für internationale Angelegenheiten die | |
Situation. Ganz anders in diesem Jahr: „Es kommen 132 Studenten, aus | |
Deutschland etwa 60 Prozent weniger als sonst.“ Zur Boğaziçi kommt also nur | |
noch ein Fünftel der sonst üblichen Zahl an Austauschstudierenden. | |
Nachfragen bei verschiedenen deutschen Universitäten bestätigen das. Meist | |
reist nur noch die Hälfte der sonst üblichen Zahl von Studierenden in die | |
Türkei. | |
## Keiner kommt zu Besuch | |
Wer dennoch geht, stößt auf Unverständnis. „Als ich mich im Januar 2016 f�… | |
Erasmus angemeldet habe, hieß es von meinen Freunden: ‚Toll, wir kommen | |
dich besuchen!‘“ schildert Annabelle ihre Erfahrungen. „Seit Juli heißt … | |
nur noch: 'Was, du gehst da wirklich hin? Ich glaube nicht, dass ich dich | |
da besuchen komme.“ Annabelle flog trotz allem nach Istanbul. | |
„Weil ich stur bin“, sagt sie. „So traurig das alles hier ist, es ist eben | |
auch extrem spannend. Du erlebst Veränderungen, die du woanders nie spüren | |
könntest.“ Manchmal kommen die Einschläge näher. Ein enger Bekannter von | |
Annabelles Freund landet im Gefängnis. Jörg bemerkt, dass der Anschlag auch | |
ihm hätte gelten können. Oder man hört von einer türkischen Freundin, dass | |
ihr Cousin beim letzten Terroranschlag getötet wurde. | |
„Aber ich spüre diese Lebensfreude immer noch, diese Energie im | |
Nachtleben“, konstatiert Annabelle. „Ich meine, die Leute haben so viel | |
erlebt, Putsche, Anschläge, das geht auch alles wieder vorüber. Man liest | |
zwar fast jeden Tag von den neuen Entwicklungen, aber als Ausländer spürst | |
du ja fast nichts.“ | |
Also geht man abends feiern. In eine der vielen Bars oder kleinen Clubs, | |
wo auch weiterhin Schwule und Lesben willkommen sind, wo Bier getrunken und | |
Rockmusik gespielt wird. Das ist in Istanbul nicht nur weiterhin toleriert, | |
es ist hier zu Hause. Gesellschaftlicher Backlash hin oder her. Auf dem | |
Balkon wird schnell eine Kippe gedreht und der Unmut über Erdoğan | |
rausgelassen – und dann geht es wieder rein zu den Europäern und Asiaten, | |
zu den Syrern, den Türken, den Franzosen, den Deutschen. Weitertanzen. | |
21 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Nico Schmolke | |
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