Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Roman von Autorin Dorothee Elmiger: Eine Kammer des Wunderns
> Die Schriftstellerin Dorothee Elmiger feiert im Roman „Aus der
> Zuckerfabrik“ des schwelgende Lesen – und greift Themen wie Kolonialismus
> auf.
Bild: Dorothee Elmiger öffnet mit ihrem Buch eine Wunderkammer
Und jetzt noch mal alles auf Zucker! Da hält die Erzählerin nun also eine
Mappe in ihren Händen, auf der geschrieben steht: Zucker. Gerne imaginiert
der Leser, dass der feine Raffinadezucker, strahlend weiß und
kristallschön, aus den Ritzen des Hefters bröselt. Allein, der Hefter, er
enthält nur Worte. Sätze. Zitate. Die Grundlage für einen Essay, für einen
Versuch.
Einen Versuch über den Zucker? Einen Versuch übers Erzählen. Oder über die
Unmöglichkeit des Erzählens. Weil jeder erzählerische Ansatz eines Ichs,
das behauptet, jetzt hier zu sein, irgendwie immer schon gelogen ist. Denn
jetzt und hier ist nur die Autorin, die schreibt, und die beim Beschreiben
vielleicht abgelenkt wird. Zum Beispiel von gurrenden Tauben oder tobenden
Spätsommerstürmen.
Jedenfalls erzählt „Aus der Zuckerfabrik“, dieser literarische Essay aus
den Händen von [1][Dorothee Elmiger,] eben gerade nicht vom Zucker und
seinen Raffinerien. Vielmehr ist der Essay ein, ähm, raffiniertes Spiel mit
zitierten Texten und Motiven. Ein Sammelsurium in und über Zucker. Nun
klingt „Sammelsurium“ abwertend, ungeordnet, wahllos. Tatsächlich meint
Sammelsurium so etwas wie die Wunderkammer des 17. Jahrhunderts, die sich
der für uns heute selbstverständlichen Ordnung der Dinge entzieht.
Noch mal auf Anfang, was macht dieser ungemein spannende Versuch? Er geht
von Menschen, Dingen und Bildern aus. Von dem Ananaskönig, der den
Zuckergehalt seines Obstes misst, von dem Lottokönig, der schon bald seine
Lottomillionen verlieren wird, von den Zuckerrohrplantagen in den Amerikas,
den ökonomischen Zusammenhängen der Zuckerproduktion, macht weder bei Adam
Smith und seiner unstillbaren Zuckerlust noch bei der Marx’schen
Kolonisationstheorie halt. Folgt ferner Marie Luise Kaschnitz und Max
Frisch, und anderen.
## So ungefähr; oder doch ganz anders
Geordnet wird dieser Wunderkammer-Essay durch Orte und Stichworte. Man
könnte ihn auch ganz anders ordnen, Ordnung ist hier ja relativ.
Folgerichtig beginnt der Essay mit den Worten „So ungefähr“. So ungefähr
könnte es gewesen sein, so ungefähr könnte man erzählen. Oder ganz anders.
Es gibt so viele Möglichkeiten für ein erzählerisches Einsetzen wie
Zuckerkristalle.
Als Leser lässt man sich auf ein literarisches Spiel, einen Leserversuch
ein, auf den man Lust haben muss. Jedenfalls hat Dorothee Elmigers Text
keine Lust, uns einen erzählbaren Plot, eine griffige Story zu liefern.
Außer eben die Suche nach dem Zucker und seinen Bedeutungen.
Trotzdem tut der Text, was jeder gute Thriller, jede gute
Verschwörungstheorie leistet: Er beweist, dass alles mit allem
zusammenhängt, dass es eine Verbindung zwischen den Dingen gibt, wenn man
nur bereit ist, sie zu suchen. „Mit jedem Gang durch das Chaos […] scheinen
die Dinge in neue Verhältnisse zueinander zu treten.“
Nun sind es aber, anders als zum Teil bei Proust, nicht die Dinge selbst,
aus denen plötzlich die wahre Wirklichkeit aufleuchtet, sondern eben die
Fluchtlinien und Knotenpunkte, die sich auf der Suche nach den Dingen
abzeichnen. Leitmotiv ist nicht nur der Zucker, sondern der Hunger, das
unstillbare Verlangen, das uns in seiner verwandelten Form als Begehren
begegnet.
## Der Körper, zutiefst verwickelt
Auch die Körper, jedenfalls die weiblichen, sind Dinge, in Texten und
Erzählungen. „Es ist mein Körper, der da liegt, zwischen den verstreuten
Dingen anderer, der zutiefst verwickelt ist in alles, was passiert, und
das, was ich zuvor als Material abgelegt habe.“ Kein Wunder, dass der Text
Maurice Merleau-Ponty als Gewährsmann zitiert, den großen Körperphilosophen
par excellence.
„Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser
Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ‚Roman‘ auf dem Umschlag stehen.“ Sc…
klar, sonst kauft es ja niemand. Dorothee Elmiger, Jahrgang 1985, hat
bereits zwei Romane vorgelegt. Dass „Aus der Zuckerfabrik“, dieser ja doch
etwas sperrigere, suchende, dem klassischen Erzählen misstrauende Text, nun
auf der [2][Shortlist des Deutschen] wie auch des Schweizer Buchpreises zu
finden ist, was soll man davon halten?
Ist Elmigers Text nun ein literarisches Feigenblatt, eines, das beweisen
soll, dass „schwierigere“ Texte, keine klassische Romanerzählung und schon
gar nicht allzu Gefälliges, dann eben doch eine Chance auf eine
Nominierung, auf eine Publikation sowieso, haben?
## Sperriges erlaubt
Man muss nur noch einmal an die Diskussion über den letztjährigen Buchpreis
erinnern, als eine österreichische Buchhändlerin bekannte, dass sie das,
was sie nicht lesen und verstehen, auch nicht verkaufen könne. Und dass es
schwierige Texte deswegen zu verhindern gelte. Das schien ein Affront,
gegen das Künstlerische, das Sperrige, auch das Experimentelle. Und warum
sollte ein Preis das auszeichnen, was sich auch sonst leicht verkaufen
lässt, was in der Aufmerksamkeitsökonomie also sowieso schon weit oben
rangiert?
Die Debatte offenbarte, dass der Buchpreis eben auch ein
Marketinginstrument ist. Reich gefüllte Büchertische begrüßen den
potenziellen Leser in den Buchhandlungen. Der soll dann auch zugreifen
wollen. Aber sollte es nicht um das beste Buch gehen? Nur, was heißt
eigentlich „gut“, wenn die Möglichkeiten des Erzählens oder Nichterzähle…
beinahe unendlich groß erscheinen? Zu welchen Kriterien greift man?
Andererseits: Ist das alles nur Germanistendünkel? Wir (die Rezensentin
gehört nun einmal auch dazu), die wir uns an literarischen Parodien,
stilistischen Volten und Reflexionen über Erzählparadigmen delektieren,
vielleicht sind wir dann doch nicht repräsentativ für das Lesepublikum?
Vielleicht nicht. Aber auch das ist das Schöne an Elmigers Essay. Er ist
eine Feier des schwelgenden Lesens, des ziellosen Suchens, an dem sich
gewiss nicht nur Germanisten erfreuen.
„Diese Verwirrung, die das Schreiben stiftet, statt für Klärung zu sorgen
…“ Der Text befindet sich im permanenten Modus des Sichwunderns; die Leser
werden nicht in Welterklärungszusammenhänge geworfen, die die Erzählerin
paternalistisch aufbereitet. Sie staunt, der Leser staunt mit – Prinzip
Wunderkammer eben.
## Stoff für große Erzählungen
Dabei greift Elmiger Themen auf, die durchaus Stoff für große Erzählungen
und Romane liefern könnten und obendrein politisch heikel oder eben
hochsensibel sind. Themen wie Kolonialismus, Geistes- und
Entdeckergeschichte der letzten vier Jahrhunderte, und mehr. Nur dass der
Text in der essayistischen Form seine Themen der Emotionalisierung und
Personalisierung entzieht und sie nüchtern betrachtet. In einem Modus des
Unaufgeregten, Unemotionalen, der geradezu – man wagt es gar nicht
auszusprechen – so häufig mit männlichem Betrachten, Kontemplieren
verbunden scheint, was eben nur ein weiteres Klischee widerlegt.
Die ebenfalls zum Buchpreis nominierte Anne Weber hat mit „Annette, ein
Heldinnenepos“ die klassische Romanform hinter sich gelassen. Schöner
Gedanke eigentlich, dass die literarische Avantgarde, oder jedenfalls die
Riege der Experimentierfreudigen, plötzlich weiblich besetzt ist. Früher
waren für die literarischen Experimente und Grenzsprengungen ja die Männer,
vor allem die dandyhaften wie Rainald Goetz oder Christian Kracht,
zuständig.
Elmigers Zugriff auf die Dinge jedenfalls ist ein tastender, beinahe
zarter: „Die Dinge, die ich beschreibe, mir nicht zu nehmen, sie nicht
haben zu wollen und sie nicht zu schmälern, so eindeutig zu bestimmen,
sondern sie im Gegenteil noch freier und unabhängiger zu machen, als sie es
waren, bevor ich zum ersten Mal ein Auge auf sie warf.“
Elmiger liefert ein lustvolles Spiel mit den erzählerischen Möglichkeiten,
ein frei assoziatives Spiel, das dann aber doch Struktur und (verborgene)
Ordnung besitzt. Und nur weil die Erzählerin dem Erzählen misstraut, heißt
das noch lange nicht, dass es keine erzählerischen Passagen gibt.
„Ich lag am Fenster und sah zu, wie der Schnee, vom Wind beschleunigt, in
hohem Tempo auf mich zustürzte, als bestürmten mich die Flocken lautlos,
als wären sie alle Trägerinnen ein und derselben Nachricht, die sie so
lange inständig wiederholten, bis ich sie schließlich entschlüsselt haben
würde.“ Der Leser darf helfen, die Zeichen in Zucker und Flocken zu
entschlüsseln.
23 Sep 2020
## LINKS
[1] /Erwachsenwerden-im-Literaturbetrieb/!5207156
[2] /Shortlist-zum-Deutschen-Buchpreis/!5709782
## AUTOREN
Marlen Hobrack
## TAGS
Literatur
Essay
Zucker
Handel
Kolonialismus
Deutscher Buchpreis
Christian Kracht
Literatur
Buch
deutsche Literatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Roman von Christian Kracht: Selbstporträt im Ökopulli
Der Schriftsteller Christian Kracht bricht aus dem Rad des Missbrauchs aus
und testet erzählerische Grenzen. „Eurotrash“ ist seine Familiengeschichte.
Shortlist zum Deutschen Buchpreis: Erinnerung an das Literarische
Von Vereinheitlichung der Literatur kann keine Rede sein. Die diesjährige
Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht für eine erzählerische Erneuerung.
Wiederentdeckung des Versepos': Die Widerstandskämpferin
Die Schriftstellerin Anne Weber erzählt die Geschichte einer
beeindruckenden Frau in Versen: „Annette – ein Heldinnenepos“.
Büchnerpreis für Elke Erb: Da öffnet sich was
Elke Erb, die stets auf dem Eigensinn der Lyrik beharrte, bekommt den
Büchnerpreis. Damit wird die Vielfalt der deutschsprachigen Literatur
gewürdigt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.