# taz.de -- Erwachsenwerden im Literaturbetrieb: Kreativ sein wollen müssen | |
> Über das Jungsein und Erwachsenwerden im Literaturbetrieb: Die | |
> Trapezkünstler des Kreativitätsparadigmas. | |
Bild: Goethe (l.) und Schiller in Weimar: Schon erwachsen – aber leider tot. | |
Einer dieser klugen Suhrkamp-Bände, die einem helfen können, die Kultur der | |
Gegenwart zu verstehen, heißt „Die Erfindung der Kreativität“ und wurde | |
geschrieben von dem Soziologen Andreas Reckwitz. Sei kreativ! So einen Satz | |
mag man nach der Lektüre nicht mehr naiv verwenden. Die einstmals elitäre | |
(Avantgarde) und oppositionelle Orientierung am Kreativen ( „Phantasie an | |
die Macht!“) ist längst, so Reckwitz, „allgemein erstrebenswert und | |
zugleich für alle verbindlich geworden“. | |
Vielleicht ist es gar nicht mal so wichtig, ob diese These rundherum stimmt | |
oder nicht (in manchen Milieus geht es sicherlich weiterhin statt um | |
Kreativität um Profitmaximierung). Vielmehr ist diese These ein Werkzeug, | |
das man bei vielen kulturellen Phänomenen gut gebrauchen kann. | |
Zum Beispiel hilft sie schon mal, die Szenerie einzuordnen, wenn man etwa | |
in Berlin auf die Verleihung eines Kunstpreises geht und sich plötzlich | |
inmitten von 2.000 selbstbewussten und zumindest schon mal kreativ | |
angezogenen Kunststudenten wiederfindet. Mit der älteren Perspektive, die | |
behauptet, die Kultur sei unmittelbar bedroht, kommt man da nicht weiter. | |
Wenn eine Teilnehmerin den derzeit in Klagenfurt stattfindenden | |
Bachmannwettbewerb mit den „Hunger Games“ aus „Die Tribute von Panem“ | |
vergleicht, lässt sich das mit Reckwitz auch gut einordnen. Mit | |
Kreativsein, sagt er, ist nicht mehr nur Selbstverwirklichung verbunden, | |
sondern auch eine gesellschaftliche Forderung. Man will nicht mehr nur | |
kreativ sein, man muss es auch wollen. In dieser Sachlage kann man sich in | |
der Arena des Klagenfurter Vorlesewettbewerbs durchaus als Gladiatorin | |
unter dem gesellschaftlichen Kreativimperativ fühlen. | |
Zugleich gibt das Buch ein Vokabular an die Hand, um zu beschreiben, was in | |
den vergangenen ein, zwei Autorengenerationen passiert ist. Aufmüpfig/brav, | |
kritisch/angepasst, das sind übliche Beschreibungsmuster. Aber sie sagen | |
nicht alles. | |
## Glanz in Elternaugen | |
Ich kann mich gut an einen Schulfreund erinnern, der, früher | |
Sechzigerjahrgang, von seiner Mutter noch zum Arzt geschickt worden ist, | |
weil er so viel gelesen hat; das könne doch nicht gut sein, erst recht | |
nicht für die Augen. Dahinter stand die Überzeugung, dass die Berührung mit | |
der Literatur nicht hilfreich dabei ist, das elterliche Geschäft zu | |
übernehmen (er übernahm es dann auch wirklich nicht). | |
Gleich der erste Satz bei Andreas Reckwitz lautet: „Wenn es einen Wunsch | |
gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren | |
sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen.“ Tatsächlich | |
versteht man das Verhalten dieser Mutter – in Zeiten sofortigen Glanzes in | |
Elternaugen, sobald die Kleinen nach einem Bilderbuch greifen – nicht nur | |
nicht mehr. Es scheint einem auch so fremd zu sein, als komme die Frau vom | |
Mars. Sie stammt noch aus einer Zeit, in der bürgerliche Lebensentwürfe die | |
Berührung mit kreativen Sphären nur im Rahmen von Sonntagskonzerten und | |
Theaterabonnements zulassen durften. | |
Diesen ersten Satz muss man einmal ganz an sich heranlassen. Er zeigt | |
nämlich auch, was mit dem Kreativitätsparadigma teilweise überschrieben | |
wird. Die Künstlerkarriere als heroischer Weg der Selbstfindung innerhalb | |
einer ignoranten Umgebung, der Künstler als positiv besetzter Außenseiter, | |
der stellvertretend für die Masse seine Potenziale auslebt – solche Topoi | |
werden fragwürdig, sobald alle Menschen kreativ sein wollen müssen (und | |
Zuwiderhandlungen mit Langeweile und Sinnlosigkeitsgefühlen bestraft | |
werden). | |
Das heißt aber keineswegs, dass solche Künstlermythen verschwunden wären. | |
Im Gegenteil. Sie sind zum freien Flottieren freigegeben. An der derzeit | |
rasenden Karriere der Autorin Ronja von Rönne kann man das gut sehen. Es | |
hatte nicht nur mit der Aufregung um ihren naiven (und gegen eine Autorin | |
wie Laurie Penny langweiligen) Feminismustext zu tun, dass sie innerhalb | |
eines halben Jahres von einer unbekannten Bloggerin zur Welt-Redakteurin | |
und meistkommentierten Autorin der sozialen Medien wurde. Mit Andreas | |
Reckwitz ist sie auch ein Stück weit lesbar als Musterschülerin des | |
Kreativitätsparadigmas. | |
## Ronja-von-Rönne-Hymne | |
„Kurz vor Silvester kam sie dann zu einer Party nach Berlin […]: Sie trank | |
viel und redete mit den richtigen Leuten und fiel einer Lektorin um den | |
Hals. Ein paar Wochen später hatte sie einen Buchvertrag und eine | |
Redakteursstelle“. Das hat der Kritiker Georg Diez soeben in seine | |
Ronja-von-Rönne-Hymne im Spiegel geschrieben. In der Tat ist das eine | |
Szene, in die man sich gleich verknallen kann. Sie ermöglicht es zu | |
behaupten, dass es Autorinnen gibt, die das vom Kreativitätsparadigma | |
geforderte Neue auch tatsächlich erfüllen; und man darf sich als Beobachter | |
selbst als Speerspitze dieses Paradigmas fühlen. | |
Noch etwas kann man mit Andreas Reckwitz gut einordnen. In den sozialen | |
Medien ist Ronja von Rönne vorgeworfen worden, sich von den männlichen | |
Chefriegen des Springer-Verlages allzu bereitwillig ausbeuten zu lassen. | |
Das ist zu kurz gegriffen. Aber es kann auch sein, dass sich in diesen | |
Anwürfen ein Unbehagen darüber ausdrückt, wie öffentlichkeitswirksam diese | |
Autorin ihre Rolle einer Trapezkünstlerin des Kreativitätsparadigmas | |
auslebt. | |
Mal sehen, wie sie in Klagenfurt abschneidet. Fürs Frühjahr ist ihr Roman | |
angekündigt. Auch da mal sehen. Aber schon jetzt lässt sich feststellen, | |
dass widerspenstigere Autoren-Inszenierungen, wie sie Dorothee Elmiger, | |
Franz Friedrich, Leif Randt und andere pflegen, ein Stück weit auf das | |
Ausstellen des eigenen Jungseins verzichten. | |
Bleibt bei alledem nur die Entscheidung zwischen Übererfüllung und | |
Langeweile? Aber nein. Mindestens ebenso interessant wie die Versuche, im | |
durchgesetzten Kreativitätsparadigma die offenen Türen des Künstlertums | |
einzurennen, sind sowieso die Ansätze, die neuen Räume selbstreflexiv zu | |
nutzen. | |
Der Schriftsteller Andreas Maier beschreibt etwa in seinem Roman „Der Ort“, | |
dem aktuellen Band einer weitläufig angelegten Erinnerungsreihe, eine | |
Jugend, in der zunächst alles eingetreten ist, was die Mutter meines | |
Freundes von zu vielem Lesen befürchtet hatte. Nahe an einer Form des | |
Irreseins, flüchtet sich die jugendliche Hauptfigur in die einsame Lektüre | |
von Dostojewski und Thomas Mann. Nur allmählich und immer wieder gefährdet | |
arbeitet sie sich auf Partys und Anti-CDU-Demos aus der Einsamkeit heraus. | |
## Selbstentwürfe, Zweifel | |
„Der Ort“ ist ein hochseltsames Buch, es hat etwas von diesen schroffen, | |
unerbittlichen Selbstporträts, auf die man manchmal in der Malerei stößt. | |
Mit Andreas Reckwitz lässt es sich verstehen als Versuch, wenigstens im | |
Rückblick Kontrolle über den eigenen Weg in die Kreativität zu bekommen und | |
sich aus dem Aufgezwungenen herauszuschreiben. Darin ähnelt es dem | |
akribischen Erinnerungsepos von Karl Ove Knausgard, Band fünf, „Träumen“, | |
erscheint im September. In den ersten vier Bänden ist bereits deutlich | |
geworden, dass Knausgard insgesamt einen Künstlerroman erzählt, eine dichte | |
Beschreibung der vielen Umwege und der komplizierten | |
Rationalisierungsarbeit, derer es bedarf, um den Wunsch, Künstler zu sein, | |
in kreative Arbeitsfähigkeit zu transformieren. | |
Bei Maier und bei Knausgard kann man erfahren, dass Kreativität tatsächlich | |
keineswegs unschuldig ist. Wenn man so will: Statt den Weg zur | |
Selbstverwirklichung leben ihre Helden die großen Dramen zwischen | |
Selbstentwerfen und Scheitern an den eigenen Ansprüchen aus, die mit ihr | |
verbunden sein können. Hinzufügen lässt sich aber gleich, dass der Wunsch, | |
dann eben nicht kreativ sein zu wollen, nichts bringt. Das schaffen wir | |
nicht. In unserer Angestellten- und Beziehungswelt muss man, um ein eigenes | |
Leben zu gewinnen, durch solche Dramen hindurch, auch als Nichtkünstler. | |
Das Gute daran ist: Wenn man sie nicht mehr genialisch verbrämen muss wie | |
zu Avantgardezeiten, kann man sie wenigstens genau analysieren, auch in | |
ihren unfreien Aspekten. | |
Der Essayist Stephan Wackwitz ordnet diese Gemenlage in seinem Buch „Die | |
Bilder meiner Mutter“, das Ende Juli erscheint, ins Große und Ganze ein. Er | |
erzählt davon, wie der unausgelebte Künstlerwunsch seiner Mutter – in den | |
Fünfzigern wurde sie in eine Hausfrauenrolle gedrängt – auf ihn vererbt | |
wurde und wie er erst allmählich lernte, ihn sich handhabbar zu machen. | |
Unter anderem beruft Stephan Wackwitz sich auf die klassischen Muster von | |
Goethes Entwicklungsroman „Wilhelm Meister“, in dem der Held die | |
narzisstisch aufgeladene Theaterschauspielerei hinter sich lässt und | |
schließlich Arzt wird. | |
Sich immer wieder neu ausprobierend, das eigene Erwachsenwerden im Auge | |
behalten – es ist kompliziert. Aber das Neue, das im Kreativitätsparadigma | |
ständig gefordert wird, kann ja auch in einem abgeklärten Umgang mit der | |
Forderung nach ständig Neuem bestehen. | |
5 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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