Introduction
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# taz.de -- Essayband übers Schreiben und Lesen: Sprache, die weiß, dass sie …
> Der Literaturbetrieb rotiert. Zwischendurch kann man mit Thomas Stangls
> Essays innehalten und sich fragen, worum es in diesem geht.
Bild: Geht es bei neuen Büchern um Snackability? Oder um Sprache?
Während ich die Essays von Thomas Stangl las, habe ich mir nicht vorstellen
können, dass dieser Autor jemals so etwas wie creative writing unterrichten
könnte. Es hat mich deshalb überrascht, als er mir mitteilte, er habe vor
Kurzem, zum ersten Mal in seinem Schriftstellerdasein, an der Universität
für Angewandte Kunst in Wien, eine Lehrveranstaltung durchgeführt, in sehr
offener Form, „ohne dass ich Formeln oder Rezepte anbieten musste“.
Glück gehabt. Auf Dauer, das weiß man, lässt der akademische Rahmen diesen
freien Raum nicht, schon allein deshalb, weil die Studenten etwas anderes
erwarten, „so, als wüsste man, wie Erinnerung, Handlung, Bewusstsein
funktionieren, was ein Abbild zu sein hat, wie die Wörter zu den Dingen
stehen, was eine Metapher ist, wie Figuren funktionieren, interagieren und
möglicherweise zum Leben erwachen und so weiter“.
Thomas Stangl weiß das alles nicht, und gerade das macht den Rang dieser
Essays aus. Sein Herangehen an Literatur hat zunächst, mit Wittgenstein zu
sprechen, „die Form: Ich kenne mich nicht aus.“ Es ist weit entfernt von
der klassischen Poetikvorlesung, die verdiente Autoren irgendwann in
Frankfurt oder anderswo halten dürfen. Es ist weit entfernt von
Schreibschulen, Literaturfestivals, Klagenfurter Riten, Rezensionsprosa und
der Einschätzung angeblicher Trends in der aktuellen Literatur.
An einer Stelle bekundet Stangl sein grundsätzliches Unbehagen, über „die
Literatur“ zu sprechen, statt über einzelne Bücher und Texte. Dennoch kann
man aus diesen sechs Essays, die aus verschiedenen Anlässen für
verschiedene Medien geschrieben wurden, gerade über „die Literatur“ enorm
viel lernen.
## Eine einfache Wahrheit
Im zweiten davon erinnert Stangl an eine einfache Wahrheit, die weitgehend
in Vergessenheit geraten ist: „Literatur ist Sprache, die weiß, dass sie
Sprache ist.“ Nimmt man das beim Wort und wirft dann einen Blick nur einmal
auf die in den letzten fünf Jahren erschienenen Titel, lässt sich ein
Großteil der Bücher, die unter dem Label „Literatur“ gehandelt wurden, oh…
Weiteres aussortieren. In ihnen geht es nicht um Sprache, sondern zunächst
einmal ums „Thema“, das zudem möglichst aktuell sein soll und dann
literarisch „gestaltet“ wird.
Die Verantwortung für diesen Trend – denn das ist wirklich einer – liegt
weniger bei den Autoren als bei den Verlagen, die schon gern mal, bevor sie
sich mit einem Manuskript beschäftigen, ein „Exposé“ haben wollen. Als
wüsste der Autor, bevor er zu schreiben beginnt, schon über alles Bescheid.
Stangl dagegen weiß, dass hinter der Sprache wenig Gesichertes steht, schon
gar nicht eine gesicherte Sprecherperson, weder der Autor selbst noch etwa
seine „Helden“. Literatur als Sprache, die sich ihrer selbst bewusst ist,
beansprucht so etwas wie eine körperliche Wirklichkeit. „Jeder Blick, jeder
Satz versucht, sich der Wirklichkeit zu versichern … hier, im Raum
verteilt, finde ich die Wörter, sobald die Wörter da sind, finden sich auch
die Dinge ein.“ Und natürlich entziehen sie sich auch ständig, die Dinge
ebenso wie die „Menschen, die im Innern der Bücher ihre Art von Leben oder
Beinahe-Leben führen“.
Der Autor hat nie die volle Verfügungsgewalt über seine Figuren, ebenso
wenig wie über den „Sinn“ (Stangl verwendet den Begriff tatsächlich)
dessen, was er schreibt. Es gibt in seiner Arbeit einen „Moment der
Einsamkeit, der sich dem Sozialen – und damit der Gewalt, auch der Gewalt
des Erzählens – entzieht … Die Wahrheit beruht auf der Distanz; darauf,
dass das Zentrum leer ist, es keinen Punkt der Auflösung des Gelingens –
der Bewältigung, Sinngebung – gibt.“
Nicht zufällig eröffnet Stangl, dessen Blick und dessen Erzählen auch und
gerade im Kino geschult wurden, diesen Essay mit einer bekannten
Buñuel-Geschichte. In dessen „Belle de Jour“ „zeigt ein Bordellkunde, ein
selbstzufriedener Japaner, ein kleines Kästchen vor. Er öffnet es,
außerhalb des Blickwinkels der Kamera, ein Surren ertönt, die Prostituierte
erbleicht. Als Buñuel gefragt wurde, was sich in dem Kästchen befinde,
meinte er schlicht: Keine Ahnung.“
Eine bestimmte Antwort, führt Stangl fort, wäre auch lächerlich, denn damit
wäre nicht nur das Geheimnis aufgelöst, sondern auch das Geheimnis des
Geheimnisses: „… dass es sich auf nichts Bestimmtes beziehen kann, wenn es
geheimnisvoll bleiben will … Von einem solchen Muster her lässt sich das
Verhältnis der Literatur zu ihrem Gegenstand lesen.“ Es versteht sich, dass
ein Autor mit diesem Literaturbegriff auf die beliebte Frage „Worüber
schreiben Sie denn gerade?“ nichts zu antworten weiß.
## Das richtige Lesen
Vergessen wir nicht, dass es nicht allein aufs „richtige Schreiben“,
sondern auch aufs „richtige Lesen“ ankommt. Dass der Leser eine
stiefmütterlich behandelte Figur ist, dass man versucht, herauszufinden,
„was der Autor sagen wollte und mitnichten, was der Leser versteht“, darauf
hatte schon Roland Barthes aufmerksam gemacht. Und selbstverständlich ist
jeder Autor zunächst ein Leser, so wie jeder gute Regisseur zunächst ein
fleißiger Kinogeher ist.
„Zuerst als Leser“, schreibt Stangl, „noch nicht als Autor, habe ich
gemerkt, dass die Regionen der Sprache und des Wirklichen, wo anscheinend
nichts geschieht, die entscheidenden sind. Die Zwischenräume, die Ab- und
Umwege wurden mir wichtig, das, was manchmal als Atmosphäre bezeichnet
wird.“ Wobei sofort zu betonen ist, „dass es bei den Details oder
sogenannten Atmosphäre nicht um etwas wie ein hübsches Beiwerk oder um
abstrakte Romankonzepte geht“, „… sondern darum, sich der Welt zu
versichern; es ist wichtig wie die Atemluft“.
Stangl schreibt über den Raum der Literatur (so der Untertitel eines der
Essays), aber auch über ihre Zeit. Die Beschreibung trage immer eine
„Signatur der Abwesenheit. Sie ist eine Beschwörung.“ Erst durch die
Beschwörung des Abwesenden wird das Beschriebene evoziert, wird es
wirklich. „Manchmal glaube ich, dass die Wirklichkeit diese Art von
Verdoppelung braucht. Sie ist da, weil sie gewesen sein wird.“
Dieser letzte Satz trifft natürlich mitten ins Herz und damit ins Schwarze,
ins Zentrum dessen, was Literatur ausmacht. In einem anderen Essay
beschäftigt sich Stangl mit Rimbauds bekannter Forderung, es gelte, absolut
modern zu sein. „Aber was verspreche ich mir davon, was hat sich jemand
davon versprechen können?“ Und dann wieder so ein Satz ins Schwarze:
„Befreiungen haben nichts mit Zukunft zu tun (die nicht einmal ein Abgrund
ist), nur mit der Gegenwart und der Vergangenheit.“
## Die Zerstörung der Formen
Bestimmte Autoren, so Stangl, hätten „sozusagen versehentlich Literatur der
Zukunft geschrieben: Sätze, Gedichte, Figuren hervorgebracht, die aus ihrer
eigenen Zeit oder womöglich aus fast jeder Zeit herausfielen.“ Rimbauds
Forderung aber, die ja auch Zerstörung der Formen einschließt, werde heute
schon von „außerliterarischen Instanzen“ besorgt, etwa der Digitalisierung.
Man sollte das nicht als bloßen Kulturpessimismus lesen: „Der vom Autor
befreite, sozusagen selbständig im Netz wachsende Text erscheint … als eine
erfüllte Utopie, mit der seltsamen Leere der erfüllten Utopie … Sind da nur
noch Sätze, die von irgendjemandem stammen, irgendwoher kommen und sich mit
irgendwelchen Sätzen verbinden, dann gibt es keine Literatur mehr.“
Offenkundig, das gesteht Stangl zu, gibt es sie aber noch, nur dass ihr
Status unsicher ist. Sie hat nicht mehr jenen Spiel- und Freiraum, den sie
in der klassischen bürgerlichen Gesellschaft hatte. Dieser Spielraum ist
auch weniger durch die technologische Entwicklung bedroht als durch die
ausschließliche Geltung ökonomischer Effizienzkriterien. Jeder, der
Handelnder im Literaturbetrieb ist, ob als Programmchef eines Verlags, als
Vertreter, Pressefrau, Literaturagentin, Jurymitglied, Rezensionsautomat
oder Buchhändler, weiß, was damit gemeint ist. Auf der einen Seite steht
diese Maschinerie, auf der anderen stehen „irgendwelche Irren, die, mit
mehr oder weniger Naivität, aber letztlich immer nach Kriterien, die diesen
Rastern völlig unzugänglich sind, … ihre Texte schreiben und etwas Eigenes,
fast Lebendiges in dem sehen, was sie doch nur für diese Maschinerie
produzieren …“
Wie gesagt: kein Kulturpessimismus, nur eine exakte Beschreibung des
Ist-Zustands. Wer Tipps zum creative writing haben möchte, muss diese
Essays nicht lesen. Wer aber ganz einfach wissen will, was Lesen und
Schreiben bedeuten kann und was uns die Bücher sagen (oder verschweigen),
der muss sie unbedingt lesen.
7 Oct 2016
## AUTOREN
Jochen Schimmang
## TAGS
Literatur
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