| # taz.de -- Ehrung für Schriftsteller Uwe Johnson: Der Stifter und der Macher | |
| > 25 Jahre lang arbeiten ein Unternehmer und ein Germanist auf ein | |
| > gemeinsames Ziel hin: die erste Uwe-Johnson-Werkausgabe. | |
| Bild: Eine undatierte Aufnahme des Schriftstellers Uwe Johnson. | |
| Am Rande der Rostocker Altstadt steht ein gelbes Torhaus. Früher fuhren | |
| hier die Kutschen zur städtischen Klinik durch. Heute leuchtet an der | |
| Einfahrt das Wappen der Universität Rostock in der Sonne: „Traditio et | |
| Innovatio“. Ein treffendes Motto für eine 600 Jahre alte Hochschule, an der | |
| die vielleicht modernste Werkausgabe eines deutschen Schriftstellers | |
| entsteht. | |
| Im ersten Stock steht Holger Helbig im „Erschließungsraum“ und beobachtet | |
| seine Mitarbeiter. Vier Wissenschaftler sichten an einem großen Tisch | |
| Dokumente, die aus dem privaten Nachlass des Schriftstellers Uwe Johnson | |
| stammen. 150.000 Manuskriptseiten, Briefe oder kommentierte | |
| Zeitungsausschnitte müssen sie entziffern, vermessen und Vermerke in eine | |
| Onlinedatenbank eintragen. | |
| „Nach uns wird das kein Mensch mehr machen“, sagt Helbig und nimmt einen | |
| beliebigen Zettel aus einer grauen Archivmappe. Helbig – 49, Nickelbrille, | |
| Tweedsakko – ist Inhaber der Uwe-Johnson-Professur. Den Zettel hält er wie | |
| ein Beweisstück in die Höhe. „Wir sichten hier alles, was zum Leben eines | |
| Schriftstellers gehört.“ Es ist ein Steuerbeleg der Swiss Bank Corporation, | |
| ausgestellt im Juni 1971. | |
| ## Hüben wie drüben | |
| Uwe Johnson gilt als Chronist der deutschen Teilung. Er wuchs in der DDR | |
| auf und flüchtete 1959 nach Westdeutschland, lebte ein paar Jahre in New | |
| York und starb mit nur 49 Jahren in England. In seinen Romanen dokumentiert | |
| Johnson präzise die Zeitumstände, hüben wie drüben. „Johnson konnte wie | |
| kein Zweiter die Zerrissenheit der DDR-Bürger zu ihrer Heimat in Worte | |
| fassen“, sagt Helbig. „Es gab Gründe zum Bleiben und Gründe zum Gehen. Mi… | |
| hat fasziniert, dass das jemand so schön sagen kann.“ | |
| Dass Johnson heute kaum gelesen wird, bedauert Helbig. Und dass er vielen | |
| gar kein Begriff ist. Seine Zeitgenossen Grass oder Böll kenne jeder, weil | |
| sie den Literaturnobelpreis bekommen hätten. Auch Johnson hätte ihn | |
| verdient, findet Helbig. Doch nun wird Johnson eine andere Ehre zuteil: die | |
| eigene Werkausgabe. Als erster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wurde er | |
| in ein Förderprogramm der deutschen Akademie der Wissenschaften | |
| aufgenommen. Dank Professor Helbig – und dank eines spendablen | |
| Unternehmers. | |
| Ulrich Fries ist Holzunternehmer, promovierter Germanist und neben dem | |
| Hamburger Millionär Jan Philipp Reemtsma der wohl größte Mäzen im | |
| akademischen Literaturbetrieb. Für die Rostocker Uwe-Johnson-Professur hat | |
| Fries schon rund 750.000 Euro seines Privatvermögens ausgegeben. Für den | |
| privaten Johnson-Nachlass, den er 2012 nach Rostock bringen ließ, zahlte er | |
| dem Suhrkamp-Verlag außerdem einen siebenstelligen Betrag. | |
| ## Ein Argument für die Akademie | |
| Dass sich Fries damals einen Kredit bei der Hausbank nehmen musste, war es | |
| ihm wert: „Was heute in Rostock entsteht, ist ein Wunder. „Seit das Archiv | |
| 2013 öffentlich zugänglich ist, reisen nicht nur Johnson-Forscher aus aller | |
| Welt nach Rostock. Das Archiv – zusammen mit der Professur – war das | |
| ausschlaggebende Argument für die Akademie, die Werkausgabe zu fördern. | |
| „Die haben gespürt, in Rostock könnte etwas Einmaliges entstehen“, ist si… | |
| Professor Helbig sicher. | |
| 40 Bände in 24 Jahren. Seit vergangenem Jahr läuft die Förderung. Der erste | |
| Band „Mutmassungen über Jakob“ soll 2016, der letzte 2038 erscheinen. Dann | |
| ist Helbig schon im Ruhestand. Die Laufzeit ist nicht die einzige | |
| Herausforderung: Parallel zur gedruckten soll eine digitale Ausgabe | |
| entstehen. Alle Dokumente des Nachlasses sollen darin enthalten sein, vom | |
| Originalzeitungsartikel der New York Times bis zum Briefwechsel mit | |
| Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. | |
| „So eine moderne Akademie-Ausgabe gab es noch nie“, schwärmt Helbig. Für | |
| das Mammutprojekt zahlen Bund und das Land Mecklenburg-Vorpommern je 4 | |
| Millionen Euro. Auf dem Festakt im vergangenen Jahr erinnerte Helbig: „Die | |
| 24 Jahre öffentliche Finanzierung hätte es nicht ohne die 24 Jahre private | |
| Finanzierung gegeben“. Und der Saal wusste, wer damit gemeint war. | |
| „Ich wollte mit meinem Geld gar nicht unbedingt die akademische Forschung | |
| ankurbeln“, sagt Ulrich Fries. Fries, 65, frisch rasiert, trägt Hemd und | |
| Sakko. Sein Blick schweift zur Decke des Ausstellungsraums in seiner | |
| Hamburger Filiale, einer Exerzierhalle aus der Kaiserzeit. Um Fries herum | |
| glänzen Bodenbeläge, Türen, Fenster. Es richt nach Holz. „Holger und ich | |
| wollten, dass die Leute Johnson lesen. Nebenbei haben wir ihn zu einem der | |
| meistbeforschten Schriftsteller der Gegenwart gemacht.“ | |
| ## Die Liebe zu Johnson | |
| Als sich Fries und Helbig vor 25 Jahren kennenlernen, ist der eine Student | |
| in Jena und der andere promovierter Unternehmer, der die Germanistik | |
| zugunsten des Familienbetriebs aufgegeben hat. Ein Schritt, den Fries bis | |
| heute nicht bereut: „Als wir anfingen, wusste ich viel mehr über Johnson | |
| als Holger. Heute ist das andersherum. Auf diese Vorarbeit bin ich stolz.“ | |
| Die Liebe zu Johnson verbindet sie auch in den Folgejahren, als Fries mit | |
| dem Ausbau des väterlichen Unternehmens beschäftigt ist. Die zwei Firmen in | |
| seiner Heimatstadt Kiel erweitert Fries auf eine Unternehmensgruppe mit | |
| heute 13 Standorten in ganz Norddeutschland, die fast 500 Mitarbeiter | |
| beschäftigt. | |
| Dennoch blieb auch Zeit für die gemeinsame Leidenschaft. „Ich spreche gerne | |
| vom Johnson-Sound“, erklärt Helbig. „Die Anziehungskraft seiner Sprache hat | |
| bis heute nicht abgenommen.“ Von 1994 bis 2004 gaben Fries und Helbig | |
| gemeinsam die wissenschaftliche Reihe „Johnson Jahrbuch“ heraus, sie | |
| organisierten Johnson-Tagungen in London und publizierten einen | |
| Kommentarband zu den „Jahrestagen“. | |
| 2012 bot sich dann eine einmalige Gelegenheit: Der Suhrkamp Verlag wollte | |
| den Johnson-Nachlass verkaufen. Fries kaufte das Archiv und stellte es der | |
| Universität Rostock dauerhaft zur Verfügung. „Ich wollte, dass es jedermann | |
| offensteht, der sich für Johnson begeistert.“ | |
| ## Ein Schlaglicht auf die Hochschulfinanzierung | |
| Sieben Doktoranden forschen derzeit in Rostock zu dem Schriftsteller. | |
| Deutschlandweit weiß Professor Helbig von 17: „An keiner anderen | |
| Universität wird annähernd so intensiv zu Johnson geforscht.“ Ein Umstand, | |
| der auch ein Schlaglicht auf die öffentliche Hochschulfinanzierung wirft: | |
| Wieso muss erst ein Unternehmer Geld in die Hand nehmen, damit sich eine | |
| Hochschule eines so bedeutenden Autors annimmt? | |
| Alle Versuche in den letzten Jahren, auf ihn aufmerksam zu machen, stammen | |
| aus Rostock – oder von außeruniversitären Stellen: Die Mecklenburgische | |
| Literaturgesellschaft vergibt alle zwei Jahre den Uwe-Johnson-Preis, das | |
| Literaturhaus in Klütz in Westmecklenburg kuratiert Johnson-Ausstellungen, | |
| das Brecht-Haus Berlin veranstaltete zum dreißigsten Todestag 2014 die | |
| Uwe-Johnson-Tage. Und das mit finanzieller Unterstützung von Helbigs | |
| Forschungsstelle. | |
| Im Magazinraum 407 des historischen Bücherspeichers mitten in der Rostocker | |
| Altstadt lagert ein Großteil der 8.500 Bücher und Zeitschriftenbände aus | |
| Johnsons privater Bibliothek, daneben Briefe, Manuskripte, Schallplatten. | |
| Auch Johnsons Schreibmaschine ist in einem der Metallregale verstaut, an | |
| einer anderen Stelle eine Holzkatze aus Bali, die ihm die Journalistin | |
| Margret Boveri geschenkt hat. | |
| „Kommen Sie, ich will Ihnen Johnsons komplette Spiegel-Sammlung zeigen.“ | |
| Holger Helbig lenkt seine Schritte durch den Raum. An beiden Seiten stehen | |
| Magazinregale, bis zur Decke voll mit Büchern. Tucholskys Weltbühne, | |
| Christa Wolf, Germanistikbände aus DDR-Zeiten: Die Seitenblicke erhaschen | |
| einen Hauch von Johnsons Persönlichkeit. | |
| „Nicht nur die Sammlung an sich verrät viel über Johnson“, bemerkt Helbig. | |
| Am Zustand der Archivalien erkennt er sofort, was dem Schriftsteller | |
| wirklich wichtig war, was reine Pflichtlektüre. Mit jedem Brief, jedem | |
| Zeitungskommentar, verrät Helbig, werde der Mensch Johnson greifbarer: | |
| „Beim täglichen Sichten der Archivalien kommen wir Johnson sehr nahe.“ | |
| ## Zum ersten Mal benutzbar | |
| Der Bücherspeicher ist einer von elf Standorten der Rostocker | |
| Universitätsbibliothek. Zu Fuß braucht Helbig keine zehn Minuten von der | |
| Forschungsstelle zu diesem Archiv. Über die Tramgleise am Schröderplatz, | |
| vorbei am barocken Wehrturm und den Läden der Fußgängerzone, am | |
| Universitätsplatz rechts. | |
| Am besten kennt den Weg Anja Pautzke, stellvertretende Leiterin der | |
| Uwe-Johnson-Forschungsstelle. Pautzke kümmert sich um alles, was mit dem | |
| Archiv zu tun hat: Sie lässt Archivalien restaurieren, regelt den Versand | |
| von Museumsleihgaben und die Genehmigung der Archivbenutzung. „Zum ersten | |
| Mal überhaupt ist das Archiv wirklich benutzbar“, sagt Pautzke. Ein Jahr | |
| dauerte es, bis der gesamte Nachlass katalogisiert und in die | |
| Bibliotheksdatenbank eingespeist war. | |
| 2014 waren 15 auswärtige Forscher in Rostock. Im Sommer kommt eine ganze | |
| Gruppe Japaner nach Rostock. „Tendenz klar steigend“, sagt Pautzke. Ulrich | |
| Fries und Holger Helbig haben schon eine Idee, das Archiv noch mehr | |
| Johnson-Liebhabern zugänglich zu machen: Stipendien für ausländische | |
| Forscher – wieder auf Kosten des Unternehmers. „Uli wollte immer, dass mit | |
| seinem Geld etwas entsteht, was es sonst vielleicht nicht gegeben hätte“, | |
| sagt Helbig, zurück im Torhaus. „Eine Gegenleistung wollte er nie.“ | |
| 11 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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