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# taz.de -- Null Bock auf Zivilgesellschaft: Immer etwas Rechtschaffenes
> Die permanente Aufforderung zum Engagement hat längst die Form einer
> zivilgesellschaftlichen Generalmobilmachung angenommen. Eine Widerrede.
Bild: Mitmachen in der Masse: In Nordkorea stellt sich die Frage nach freiwilli…
WIESBADEN taz | Es ist schon ein paar Jahre her, da begegnete ich nach
Dienstschluss in der Kantine meiner damaligen Chefredakteurin. Sie war spät
dran und hatte es eilig, weil sie, wie die meisten anderen Kollegen auch,
auf diese große Demonstration gehen wollte.
Keine Ahnung mehr, wogegen sich die Kundgebung richten sollte. Es wird
schon irgend etwas Rechtschaffenes gewesen sein, es ist immer etwas
Rechtschaffenes. Wer dort war, wird sich sicher erinnern. Meine
Chefredakteurin jedenfalls hielt inne und fragte konsterniert: „Wie?! Du
gehst nicht demonstrieren?“
Dieser Satz und der Ton, in dem er ausgesprochen wurde, war Aufforderung
und Anklage zugleich. Klar hätte ich ihr aufzählen können, wie viele Texte
zum Thema ich als Redakteur in den vergangenen Wochen bestellt, bearbeitet
oder selbst geschrieben hatte. Aber darum ging es gar nicht.
Es ging um persönliches Engagement, und dass ich es nicht öffentlich
zeigte, ging meiner Chefredakteurin nicht in den Kopf, womöglich sogar
gegen den Strich. Stattdessen stotterte ich etwas von einem „Bierchen“, zu
dem ich verabredet und dass ich „ziemlich fertig“ sei.
## Innerer Ablasshandel per Mausklick
Dabei hat die permanente Aufforderung zum Engagement wofür oder wogegen
auch immer längst die Form einer zivilgesellschaftlichen
Generalmobilmachung angenommen. Allein in den vergangenen vier Wochen wurde
ich aufgefordert, gegen eine finanzpolitische Maßnahme namens ESM und für
die Freilassung von Pussy Riot zu sein, gegen ein Handelsabkommen namens
Acta und für das Recht auf religionsbedingte Beschneidung kleiner Jungs,
gegen Fluglärm und für die Homoehe, gegen und für das Existenzrecht des
Staates Israel.
Nie war es leichter, sich zu engagieren – ein Mausklick genügt, schon ist
mit dem Denkprozess auch ein innerer Ablasshandel abgeschlossen. Es gibt
einen zornigen kleinen Aufsatz von Uwe Johnson, der in meinem Gehirn wie
eine automatische Wegfahrsperre wirkt, wenn’s mal wieder zu einer Demo
gehen soll.
Der Text stammt aus dem Jahr 1967, und darin heißt es, die guten Leute
„sprechen zum übermenschlichen Egoismus eines Staatswesens wie zu einer
Privatperson mit privaten Tugenden“, sie „essen von den Früchten, die ihre
Regierungen für sie in der Politik und auf den Märkten Asiens ernten“, und
letztlich stünden „die guten Leute auf dem Marktplatz und weisen auf sich
hin als die besseren“.
Ich weiß, dass „Gutmensch“ ein konservativer Kampfbegriff ist, und behalte
mir dennoch vor, nicht zu den „guten Leuten“ gehören zu wollen. Wer sich
auf dem Marktplatz, den ihm das Schlechte zuweist, als das Gute inszeniert,
der unterstützt letztlich das Schlechte, dem ja das Gute augenscheinlich
als moralisches Korrektiv innewohnt.
## Von Selbstgerechtigkeit gerötete Wangen
Ich will mich nicht gemein machen, auch nicht mit der guten Sache. Weil ich
nicht weiß, was eine „gute Sache“ sein soll, und erhebliche Zweifel hege,
dass andere Leute das besser wissen, insbesondere jene mit den
Transparenten und den lauten Parolen.
Ich meide wie jeder vernünftige Mensch die Masse, und wenn sich eine
Minderheit in Massen auf die Straße stellt, meide ich die Minderheit. Ich
pfeife auf das möglicherweise motivierende Gemeinschaftsgefühl, mit dem die
Masse ihre einzelnen Elemente entlohnt, auf die von Selbstgerechtigkeit
geröteten Wangen. Nach Elias Canetti ist die Masse ein von Affekten
geleitetes Gebilde, und als ihr Bestandteil verliere ich jeden Widerstand
gegen das, was diese Masse unternimmt – vor allem dann, wenn es um eine
vorgeblich „gute Sache“ geht.
Ob ich also gut bin, entscheidet sich allein innerhalb der beschränkten
Reichweite meines privaten Handelns. Mit dieser Ohnmacht muss ich zu leben
lernen, anstatt mir von der Masse einen Radius zu borgen, den ich nicht
habe. Eine Trillerpfeife macht mein Anliegen nicht stichhaltiger, nur
lauter.
Und Lautstärke ist kein Argument. Oder, wie Uwe Johnson in seinem Aufsatz
so schön sagte: „Die guten Leute sollen das Maul halten. Sollen sie gut
sein zu ihren Kindern, auch fremden, zu ihren Katzen, auch fremden; sollen
sie aufhören zu reden von einem Gutsein, zu dessen Unmöglichkeit sie
beitragen.“
17 Sep 2012
## AUTOREN
Arno Frank
## TAGS
Universität Rostock
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