| # taz.de -- Doku über Uwe Johnson: Fluchten und Verlustschmerz | |
| > Aktualität durch den Krieg: Volker Koepp geht in seinem Dokumentarfilm | |
| > „Gehen und Bleiben“ den Spuren des Schriftstellers Uwe Johnson nach. | |
| Bild: Studienfreunde Uwe Johnsons: Hanna und Heinz Lehmbecker in „Gehen und B… | |
| Letzte Woche starb überraschend der große Kameramann Thomas Plenert, der | |
| mit seinem geduldigen Blick und seinem sicheren Gespür für Kadrage und | |
| Rhythmus seit den späten 1970ern die Sprache des Dokumentarfilms erst in | |
| der DDR und dann auch in Bundesdeutschland bestimmte. | |
| Zusammengearbeitet hat er dabei unter anderem mit Jürgen Böttcher, Lutz | |
| Dammbeck, Helke Misselwitz – und immer wieder in über zwanzig Filmen bis zu | |
| „[1][Berlin–Stettin“ 2009 auch mit Volker Koepp], dessen beeindruckende | |
| Landschaftsansichten und „hohe Himmel“ (so im Titel einer Monografie von | |
| Grit Lemke) zum großen Teil der langjährigen intuitiven Zusammenarbeit der | |
| beiden erfahrenen Filmgestalter zu verdanken sind. | |
| Der schöne lange Schwenk über Wasser und Strand zu Anfang von Koepps | |
| jüngstem Film, „Gehen und Bleiben“, ist aber mit Uwe Mann einem zehn Jahre | |
| jüngeren Cinematografer zu verdanken, der ebenfalls mit Defa- und | |
| Babelsberger HFF-Hintergrund kongenial an Plenerts Stil anknüpft. | |
| Auf der Promenade des südenglischen Sheerness on Sea stehen ein paar | |
| verlassene Pavillons. An der hinter einer großen Mauer vor heranstürmenden | |
| Wellen geschützten Marine Parade berichtet an der Außenwand des | |
| Reihenhauses Nummer 26 eine Plakette, dass hier der Schriftsteller Uwe | |
| Johnson von 1974 bis 1984 wohnte. Dass er auch hier starb, erwähnt sie | |
| nicht. | |
| ## Von Pommern nach New York | |
| Johnson, der 1934 im Pommerschen Cammin geboren wurde, in Mecklenburg | |
| aufwuchs und am 10. Juli 1959 mit der S-Bahn aus der DDR hinaus nach | |
| Westberlin fuhr und später nach New York und nach England reiste, ist (auch | |
| mit durch ihn und andere vorgetragenen Texten) Sujet dieses Films, der die | |
| Vorstellung seines Protagonisten diesem selbst in einem schelmisch | |
| vorgetragenen Filmausschnitt überlässt: „Von 1952 bis 1956 Studium der | |
| Germanistik und weiterer Folgen des Krieges in Rostock an der Warnow und | |
| Leipzig an der Pleiße. […] 1959 Rückgabe einer Staatsangehörigkeit an die | |
| DDR nach nur zehnjähriger Benutzung und Umzug nach West-Berlin.“ | |
| Johnson ist für Koepp aber auch ein Medium, um den Blick von ihm und seinem | |
| Werk weiter hinaus auf die Landschaften und (oft Johnson-affine) Menschen | |
| Mecklenburgs zu richten. Und auf die titelgebende Frage nach dem | |
| (Fort-)Gehen und (Hier-)Bleiben, die viele dieser Menschen trieb oder | |
| treibt. Die Lyrikerin Judith Zander, der Schauspieler Peter Kurth oder ein | |
| Niederländer, der ein Haus in Mecklenburg erwarb. Heinz und Hanna | |
| Lehmbäcker waren mit Johnson befreundet und können aus dem Wohnzimmer | |
| Anekdoten und viele Fotos aus der Studentenzeit zum Film beisteuern. | |
| Landschaften und Heimatgefühle, Fluchten und Verlustschmerz waren bei dem | |
| in Stettin geborenen Filmemacher immer wieder Thema, zuletzt ging es in dem | |
| ebenfalls von [2][Uwe Mann gedrehten „Seestück“ (2018)] um die Ostsee. | |
| Dabei spielte in Koepps Filmen der verheerende Umgang der Menschen mit der | |
| Natur eine zunehmend stärkere Rolle. | |
| Doch nun gab es in der durch die Pandemie verlängerten Drehzeit mit dem | |
| russischen Überfall auf die Ukraine einen scharfen und verstörenden | |
| Einschnitt, der auch im Schaffen des fast 80-jährigen Filmemachers noch | |
| einmal ein neues Kapitel aufmacht. Und neue Referenzen und Resonanzen | |
| schafft, etwa wenn der alte Landwirt Fritz Rost, der sein ganzes Leben in | |
| einem zwölf Kilometer entfernten Dorf gelebt hat, auf dem Marktplatz von | |
| Anklam vom Verlust zweier Brüder im letzten Krieg erzählt. | |
| So ist „Gehen und Bleiben“ durch den Druck des Geschehens von einem | |
| melancholischen und zeitlos schönen auch zu einem bitteren und ganz | |
| aktuellen Film geworden. „In der Gegenwart sind alle der Hoffnungen der | |
| 90er Jahre des letzten Jahrhunderts auf eine friedlichere Welt verflogen“, | |
| heißt es ganz direkt in dem zurückhaltenden Kommentar des Films. | |
| 24 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Per-Film-durch-die-DDR/!5148672 | |
| [2] /Dokumentarfilm-ueber-die-Ostsee/!5531785 | |
| ## AUTOREN | |
| Silvia Hallensleben | |
| ## TAGS | |
| Biografie | |
| Dokumentarfilm | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Dokumentarfilm | |
| Werner Herzog | |
| Universität Rostock | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Jeder schreibt für sich allein“: Literarische Salonnazis | |
| Der neue Dokumentarfilm von Dominik Graf handelt von Autoren in der | |
| NS-Zeit. Mit Fragen zu Werk und Autor*in schließt er an die Gegenwart an. | |
| Psychiatrie-Doku „Irre“: Was heißt hier irre? | |
| Reinhild Dettmer-Finke widmet der demokratischen Freiburger | |
| Hilfsgemeinschaft eine Doku. Besonders stark sind die DarstellerInnen. | |
| Werner Herzog im Filmporträt: Träumereien eines Selbstbewussten | |
| Arbeit am Mythos: Thomas von Steinaecker begleitet in seinem Dokumentarfilm | |
| „Werner Herzog – Radical Dreamer“ den Regisseur durch Leben und Werk. | |
| Ehrung für Schriftsteller Uwe Johnson: Der Stifter und der Macher | |
| 25 Jahre lang arbeiten ein Unternehmer und ein Germanist auf ein | |
| gemeinsames Ziel hin: die erste Uwe-Johnson-Werkausgabe. |