Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Jeder schreibt für sich allein“: Literarische Salonnazis
> Der neue Dokumentarfilm von Dominik Graf handelt von Autoren in der
> NS-Zeit. Mit Fragen zu Werk und Autor*in schließt er an die Gegenwart
> an.
Bild: Henrike Stolze, die Schwester des Schriftstellers Bernward Vesper, und An…
Flackernde Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer Stadt. Ein Kirchturm in der
Totalen, aus dem Glockenschläge ertönen. Ein Reichsadler in Nahaufnahme,
drei Männer in Kitteln, die sich in einer Fabrik geschäftig über ein
Geländer beugen. Ein Sprecher verkündet in abgehacktem Befehlsdeutsch:
„Deutsch die Uhr, deutsch der Klang!“
Schnitt ins Jetzt. Die Hände eines Mannes, die im gleißenden Sonnenlicht an
einem Schreibtisch in ein Notizbuch schreiben. Sie gehören zu Anatol
Regnier, der 2021 ein Buch über das Werk und Leben von deutschen
Schriftsteller*innen im NS-Regime publizierte. Mit diesem Buch, sagt
die Erzählerstimme, während das ruhige Wasser eines Sees erscheint, habe
Regnier „uns den Blick auf eine Katastrophenlandschaft geöffnet“. Es sei
der Versuch, „von historischen Überresten auf die vergangene Wirklichkeit
zu schließen“.
Der dokumentarische Essayfilm von Dominik Graf ist wiederum der Versuch,
das Buch in eine audiovisuelle Form zu übersetzen. Ein Versuch über einen
Versuch, das könnte schiefgehen. Doch Graf, bekannt für seine
Experimentierfreude, ist der Richtige hierfür – zeigte doch sein jüngstes
Werk, der [1][auf Erich Kästners Roman „Fabian“ basierende Spielfilm
„Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (2021)], dass sich historische Fakten
und literarische Vorlagen auch fragmentarisch darstellen lassen, ohne an
Tiefe, Glaubwürdigkeit oder den Blick auf Zusammenhänge einzubüßen.
Ähnlich ist es bei „Jeder schreibt für sich allein“. Die knapp dreistünd…
Doku wechselt immer wieder von Fragment zu Fragment. Das Bild des ruhigen
Sees verwandelt sich in grafische Formen, die in- und auseinandermorphen,
bis Archivvideos von den Nürnberger Prozessen erscheinen, bei denen ab dem
20. November 1945 die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus
angeklagt wurden.
## Psychologische Methoden
Die Formen sind Visualisierungen von Rorschachtests, eine der
psychologischen Methoden, mit denen der US-Psychiater Douglas McGlashan
Kelley den psychischen Zustand der dort angeklagten Nazis untersuchte. Er
fragte sich: Wie, warum und unter welchen Umständen sind Menschen zu
derartigen Massenmorden fähig und wie ließe sich das in Zukunft verhindern?
Am Ende fand er kaum aussagekräftige Ergebnisse. Kelly suchte das Böse im
Menschen, fand aber: nichts. Noch unheimlicher war seine Schlussfolgerung,
die an die berühmte Phrase von der „Banalität des Bösen“ der Philosophin
Hannah Arendt erinnert: Wenn es keine eindeutig messbaren Ursachen für
Antisemitismus oder Rassismus gibt, [2][können Nazis jederzeit unbemerkt
unter uns leben].
Wenig präsent waren damals auch die deutschen Schriftsteller*innen, von
denen sich einige nie eindeutig vom NS-Reich distanzierten, allen voran
Gottfried Benn. Er verteidigte zu Beginn der NS-Herrschaft mit dem Essay
„Züchtung“ nationalsozialistische Ideen, auch wenn er weniger dessen
Biologismus feierte als die Chance, im Faschismus die Kunst als „letzte
metaphysische Tätigkeit des Menschen“ zu heiligen.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen Heinrich und Thomas Mann oder Alfred Döblin
ging Benn nicht ins Exil und blieb der Sektion Dichtkunst der Preußischen
Akademie der Künste als Mitglied treu, wie die Autorin Julia Voss erzählt.
Sie ist neben dem Historiker Christoph Stölzl oder dem Autor Florian Illies
eine von angenehm wenigen Talking Heads. Empathielos seien Autoren wie Benn
gewesen und hätten sich durch den Flirt mit dem Regime eine große Karriere
versprochen – doch das war nur Mitgliedern jener Akademie möglich, die ab
1933 vom regimetreuen Hanns Johst geleitet wurde.
## Erich Kästner lavierte sich durch
Während der Autor Johst, der „Barde der SS“, Gleichgesinnte um sich
scharte, distanzierte sich Benn recht schnell von seinem Essay. Die auf die
Ideen folgende echte physische Gewalt gegen Jüd*innen und Andersdenkende
ging ihm zu weit. Von Thomas Manns Schmähung, nach der allen im NS-Reich
zwischen 1933 und 45 publizierten Büchern der „Geruch von Blut und Schande
anhaftet“, blieb er aber nicht verschont. Erich Kästner wiederum, der trotz
symbolischer Vernichtung seiner Bücher bei der Bücherverbrennung 1933 nicht
das Land verließ, lavierte sich durch. Es heißt, er sei, wie der Berliner
Kultautor Hans Fallada, in die „innere Emigration“ gegangen.
Das alles ist historisch nicht neu, zumal die NS-Zeit eine der am
gründlichsten erforschten Epochen ist. Doch hier ist weniger das Was als
das Wie entscheidend. Vor allem moralisiert Graf in seinem Film nicht. Er
zeigt die Autor*innen im historischen Kontext, statt sie mit Gratismut
zu verurteilen. Was nicht bedeutet, dass der Blick auf das Jetzt fehlte.
Oft hüpfen Aspekte wie Sprungfedern ins Heute. Nur zwei Beispiele:
Rechtsextremes Denken wird, auch mit der demokratischen „Normalisierung“
der AfD, wieder salonfähig und auch der Diskurs über die Trennung von Werk
und Autor*in ist aktueller denn je – und wird heute insbesondere aus
postkolonialer oder LGBTQ+-Perspektive vorangebracht. Nun ist die NS-Zeit
nicht direkt vergleichbar, jedoch ließen sich Gottfried Benn und die Frage,
ob er noch gelesen werden sollte, als Entsprechung zu J. K. Rowling lesen,
deren Bücher von manchen boykottiert werden, seitdem die Autorin gegen
trans Personen wettert.
Graf verstaut die Thematik nicht in der Schublade, sondern lässt sie
offenstehen. Und das nicht obwohl, sondern weil die Form – der spielerische
Musik-, Bild- und Erzähleinsatz – den Inhalt, oder besser gesagt die Lesart
des Inhalts maßgeblich bestimmt. Der Film ist so auch eine Hommage an die
Schöpfungs-, aber auch Zerstörungskraft von Kunst, die eben nicht nur als
Spiegel, sondern als Treiber von Kultur verstanden wird. Das
Fragmentarische ist die perfekte Form für besagte historische Überreste.
Denn die Faszination des Fragments führt, von Nahem betrachtet, zum Pathos
der Ruine, aus der Distanz gesehen.
24 Aug 2023
## LINKS
[1] /Kaestner-Verfilmung-Fabian-im-Kino/!5786693
[2] /Roman-aus-dem-Jahr-1960/!5947623
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Film
Dokumentarfilm
Deutscher Film
Schriftsteller
Thomas Mann
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Mali
Biografie
Dokumentarfilm
## ARTIKEL ZUM THEMA
Biografie von Klaus Mann: Auf der Suche nach Liebe
Schnellschreiber, Kettenraucher, schwul: Thomas Medicus’ Biografie über
Klaus Mann zeichnet das Leben des Autors in seinen Widersprüchen nach.
Neue Biographie über Hannah Arendt: Nach der Flucht
Thomas Meyer zieht in seiner Biografie von Hannah Arendt bislang
unbekanntes Archivmaterial heran, um ihr Denken und ihre Erfahrung zu
verbinden.
Neuer Roman von Daniel Kehlmann: Mensch ohne Moral
Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ porträtiert den Regisseur Georg Wilhelm
Pabst. Der Roman will eine Parabel über das Künstlertum in der Nazizeit
sein.
Dokfilm über deutsche Bigband in Mali: Den Rhythmus umdrehen
Im Dokfilm „Le Mali 70“ begleitet Regisseur Markus CM Schmidt eine Bigband,
die zu ihren Vorbildern ins westafrikanische Mali reist.
Doku über Uwe Johnson: Fluchten und Verlustschmerz
Aktualität durch den Krieg: Volker Koepp geht in seinem Dokumentarfilm
„Gehen und Bleiben“ den Spuren des Schriftstellers Uwe Johnson nach.
Psychiatrie-Doku „Irre“: Was heißt hier irre?
Reinhild Dettmer-Finke widmet der demokratischen Freiburger
Hilfsgemeinschaft eine Doku. Besonders stark sind die DarstellerInnen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.