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# taz.de -- Psychiatrie-Doku „Irre“: Was heißt hier irre?
> Reinhild Dettmer-Finke widmet der demokratischen Freiburger
> Hilfsgemeinschaft eine Doku. Besonders stark sind die DarstellerInnen.
Bild: Ein „Besucher“ der Freiburger Hilfsgemeinschaft hiflt beim Wischen
„Am Anfang, als ich hergekommen bin, war es Rettung, jetzt ist es Familie“,
sagt ein Mann, der schon ein ganzes Bündel an missglückten medikamentösen
psychiatrischen Behandlungen samt Suizidversuch durchlebt hat. Jetzt ist er
ein sogenannter „Besucher“ des Clubs 55 der Freiburger Hilfsgemeinschaft
FHG. Diese wurde schon 1970 aus der [1][Studentenbewegung] mit Freiburger
Bürgern als demokratisches Gegenmodell zur autoritär aufgestellten
klinischen Psychiatrie gegründet.
Hier wurden die Hilfesuchenden als souveräne Partner ernst genommen und
gemeinsam mit ihnen an der Verbesserung ihrer psychischen und sozialen
Situation gearbeitet. Anders als ähnliche Initiativen der damaligen Jahre
hat die FGH bis heute überlebt und sich als vielseitige Unternehmung
etabliert, die unter anderem eine Begegnungsstätte, einen Mittagstisch,
verschiedene „Clubs“ und begleitetes Wohnen anbietet.
Die Filmemacherin Reinhild Dettmer-Finke hatte schon 2020 gemeinsam mit den
BesucherInnen die Arbeit der FGH filmisch dokumentiert. Jetzt hat sie
dieses Material zu einem Kinofilm verarbeitet: Einer ausführlichen
dokumentarischen Studie, in der vor allem die Klienten und Klientinnen im
Mittelpunkt stehen, die – mit Unterstützung – die Küche und die Kaffee- u…
Brötchen-Theke in der hell eingerichteten Altbauwohnung selbst betreiben,
um „Struktur und Antrieb“ in ihr Leben zu bringen, wie eine Klientin sagt.
## Die „Genesungsbegleiter“
Zusätzlich hilft es, sich gegenseitig in alltäglichen Situationen und bei
[2][seelischen Belastungen] zu helfen und zu beraten. So haben zwei der
Klienten auch ein offizielles Zertifikat als „Genesungsbegleiter“ erworben.
Die hauptberuflichen MitarbeiterInnen kommen im Film nur am Rande vor.
Durch ihre Präsenz wird der institutionelle Rahmen angedeutet.
Erzählt wird im Beobachtungsmodus, wobei ab und zu aus dem Off auch
Statements einzelner BesucherInnen eingeblendet werden, die offen von ihren
Psychosen und Depressionen, den gesellschaftlichen Reaktionen und den
negativen Erfahrungen in Kliniken berichten: „Die mit ihrem perfekten Leben
wollen mir erklären, was ich brauche.“ Dabei wird die Präsenz der
Filmemacher meist weder geleugnet noch besonders herausgestellt.
Eine deutlichere selbstreflexive Öffnung der Erzählung entsteht, als einer
der Besucher sich vom Sofa aus in den Dreh einmischt und der Regisseurin
mit Kennergestus Hinweise zur Gewichtung ihres Themas und zum korrekten
Umgang mit den ProtagonistInnen gibt. Das hat Witz. Auch sonst wird neben
den eindrücklichen Schilderungen des Lebens mit seelischen Leiden immer
wieder auch der Humor deutlich, den sich die KlientInnen in ihren Kämpfen
eher angeeignet als bewahrt haben.
## Kompetenzen in Kunst
Überhaupt begegnen wir bereichernden Persönlichkeiten, die auch mit –
gegenseitig wohlwollend anerkannten – Kompetenzen in Musik, Malerei und
Sprache beeindrucken.
So wird auch der Titel „Irre“ von ihnen kritisch auseinandergelegt – mit
positivem Ausgang in Würdigung des konfrontativen Ansatzes. Der Film selbst
reiht sich in eine Reihe von Dokumentarfilmen, die von Fred Wisemans
„Titicut Follies“ (1967) über Raymond Depardons Porträt der psychiatrisch…
Anstalt „San Clemente“ (1980) bis zu Sabine Herpichs [3][„Kunst kommt aus
dem Schnabel wie er gewachsen ist“ (2020)] und „Sur l’Adamant“ von Nico…
Philibert (2023) reichen. Die Letzteren stellen ebenfalls selbstbestimmte
Psychiatrie-Projekte vor.
Die Stärke des erfreulicherweise unkommentierten Films von Dettmer-Finke
liegt in den bewegenden Begegnungen mit seinen sympathischen
„DarstellerInnen“. Schade aber, dass sich die Filmemacherin weniger dafür
interessiert, auch den institutionellen und historischen Hintergrund des
Projekts vorzustellen, um seinen erstaunlich dauerhaften Erfolg zu
erklären.
17 Jul 2023
## LINKS
[1] /Protest-von-Studierenden/!5930251
[2] /Diagnose-Chronisches-Fatigue-Syndrom/!5938615
[3] /Kuenstler_innen-mit-Behinderung/!5788550
## AUTOREN
Silvia Hallensleben
## TAGS
Dokumentarfilm
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Psychiatrie
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Theater Berlin
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Psychiatrie
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