# taz.de -- Künstler_innen mit Behinderung: Erfolg spielt keine Rolle | |
> Sabine Herpichs Dokumentarfilm „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er | |
> gewachsen ist“ zeigt die Arbeit von Berliner Künstler_innen mit | |
> Behinderung. | |
Bild: Künstlerin Suzy van Zehlendorf mit einem ihrer Gemälde | |
Streng blickt „Mona Lisa“ von der Leinwand. Der rote Kamm sitzt auf dem | |
Hühnerkopf, die Kehllappen hängen unter dem Schnabel. „Kunst heißt der | |
Hahn“, wie van Zehlendorf treffend zusammenfasst. Suzy van Zehlendorf | |
eignet sich Werke der Kunstgeschichte ebenso wie Fotos aus | |
Boulevardzeitungen an und ersetzt die Köpfe der Menschen durch die von | |
Hähnen. Um eine Auswahl für eine Ausstellung zu treffen, werden die Bilder | |
aus über zehn Jahren von Suzy van Zehlendorf noch einmal aus dem Lager | |
geholt, betrachtet, dokumentiert und vermessen. | |
Sabine Herpichs Film „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ | |
zeigt die Arbeit einer Reihe von Künstler_innen, die in den Ateliers der | |
privat betriebenen Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin-Spandau arbeiten. Mosaik | |
bietet Räume für Künstler_innen mit Behinderung. | |
Herpich nähert sich den Künstler_innen über ihre Arbeit. Der Film stellt zu | |
Beginn vier Positionen vor, zeigt die jeweiligen Arbeitsweisen. Manche der | |
Künstler_innen interagieren mit der Filmemacherin, manche arbeiten eher vor | |
sich hin. In Diskussionen mit Mitarbeiterinnen von Mosaik werden Titel für | |
die Bilder gesucht, Entwicklungslinien herausgearbeitet. Trotz aller | |
Ernsthaftigkeit sind die Diskussionen voller Humor und extrem unprätentiös. | |
In einer Runde mit der ganzen Ateliergemeinschaft klingt die Kollektivität | |
des Arbeitens an. | |
Anlässlich der [1][Premiere von Herpichs Film auf der Berlinale 2020 hat | |
Silvia Hallensleben für die taz mit Sabine Herpich über Außenseiterkunst | |
gesprochen] – Kunst, die unter gesicherten materiellen Verhältnissen in | |
kollektiven Kunstwerkstätten entsteht. Gleich zu Beginn unterstreicht | |
Herpich ihre Faszination für diese Arbeitsweise: „Besonders begeisterte | |
mich, dass Erfolg überhaupt keine Rolle spielt. Es wird sehr konzentriert | |
an einem Bild gearbeitet – und wenn es fertig ist, wird es weggelegt, und | |
die Arbeit am nächsten Bild beginnt.“ | |
## Finanziert durch Spenden | |
Ein Satz, in dem eine Selbstbeschreibung von Herpichs eigener Arbeitsweise | |
anklingt. Seit ihrem Debüt vor zehn Jahren entstehen Herpichs Filme neben | |
ihrer Arbeit im Berliner Kino fsk und beim peripher-Filmverleih ohne | |
Filmförderung. Finanziert werden sie durch Spenden. | |
Vor einigen Jahren nannte Herpich diese Form unabhängiger Produktion noch | |
„Filmemachen als Hobby“. Am Beginn ihres individuellen | |
Finanzierungskonzepts für ihre Arbeit stand jedoch eine ernüchternde | |
Erkenntnis. Herpich kam zum Filmemachen nach einem | |
geisteswissenschaftlichen Studium in München. In Berlin begann sie an der | |
selbstverwalteten Filmschule Filmarche zu lernen, wechselte später an die | |
HFF Potsdam-Babelsberg (heute: Filmuni) und studierte Schnitt. | |
Die Idee war – so Herpich in einem Interview mit Lukas Foerster –, dass das | |
Schneiden den Lebensunterhalt finanzieren sollte und nebenher eigene Filme | |
entstehen sollten. Am Ende stand die Erkenntnis, „dass die handwerklicheren | |
Aspekte des Filmemachens nicht mehr als Berufsbild taugen“ (Foerster). Nun | |
eben Filmarbeit finanziert durch Kinoarbeit. Die Lebenslügen deutscher | |
Filmproduktion hat sich Herpich schon von Beginn an abgewöhnt. | |
Konzentriert fügt der grauhaarige Mann umbrafarbene Striche in eine | |
Zeichnung auf dem Tisch vor sich ein, kurze Striche nur, die die bestehende | |
Struktur vervollständigen. Manchmal zieht er Linien nach, erhöht durch das | |
Nachziehen die Intensität der Farbe. Über dem Kopf des Zeichners hängt ein | |
Namensschild an der Wand: Adolf Beutler. | |
## Dem Gewebe zusätzliche Struktur geben | |
An der Wand vor ihm hängen Bilder, gerahmt, die mit Buntstiftschraffuren, | |
ähnlich der, die in der Zeichnung auf dem Tisch entsteht, bedeckt sind. Auf | |
manchen liegt über den Schraffurflächen ein Netz von Linien, die dem Gewebe | |
zusätzliche Struktur geben. Eine Zeichnung auf einer Staffelei ist über das | |
ursprünglich geplante Blatt hinausgewachsen auf den Karton, auf dem das | |
Blatt fixiert wurde. | |
Im Kino Sabine Herpichs wächst das Porträtieren von Kunst regelmäßig über | |
das Zeigen künstlerischer Arbeit hinaus. 2016 filmte sie den Schuster und | |
Künstler David Laugomer bei seiner Arbeit. Die Herstellung von Schuhen ist | |
das Mittel, mit dem sich Laugomer seine Kunst finanziert. Zwei Jahre später | |
trifft Herpich für den Film „Ein Bild von Aleksander Gudalo“ mit dem | |
Berliner Künstler Aleksander Gudalo eine Vereinbarung: er arbeitet nur dann | |
an seinem neuen Bild, wenn sie Zeit hat, ihn zu filmen. | |
In den Pausen drehen sich die Gespräche um Zweifel an der eigenen Arbeit. | |
Ihr neuester Film „Ulrike Damm schreibt“ zeigt Damm bei der visuellen | |
Umsetzung eines eigenen Textes aus dem Roman „Kulp und warum er zum Fall | |
wurde“. Eine Stimme liest den Text im Off. | |
Herpichs Filme über Kunst verbinden auf ausgesprochen unprätentiöse Weise | |
die Beobachtung des Arbeitsprozesses mit der Reflexion künstlerischer | |
Arbeit. Künstlerische Arbeit ist in den Filmen Herpichs selbstbestimmte | |
Arbeit, die sich individuell vollzieht. | |
## Die Gesellschaft schiebt sich ins Bild | |
Dennoch ist die Gesellschaft in dieser Arbeit immer nur einen Schritt | |
entfernt. Gudalo verwandelt sich in den Aufnahmen der Gespräche: Statt der | |
Arbeitskleidung trägt er in den letzten Aufnahmen ein schwarzes Hemd. Das | |
Hemd wirkt wie die Vorwegnahme der Präsentation des Bildes ans Publikum, | |
die das Ende des Films bildet. | |
Betrachtet man Herpichs Filme über Kunst nebeneinander, wird erkennbar, wie | |
dicht verwoben in ihnen präzise Beobachtung, individuelle Würdigung und das | |
Nachdenken über Kunst und Gesellschaft, über Alternativen zur | |
Kunstproduktion als Verwirklichung neoliberaler Fieberträume des | |
Unternehmertums sind. | |
Auch in „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ schiebt sich | |
die Gesellschaft am Ende ins Bild. Der Besuch eines Galeristen kündigt ein | |
Ausstellungsprojekt an. Die Eröffnung bildet wiederum das Ende des Films. | |
Doch die Kunst, die die Künstler_innen des Films präsentieren, hat ihr Ziel | |
nicht im Verkauf. | |
Die Begegnung der Kunst mit der Gesellschaft am Ende des Film ist eher ein | |
Angebot zur Auseinandersetzung, zum Perspektivwechsel in der Betrachtung | |
der verschiedenen Positionen. Eine Einladung, die Kunst beim Ausbrechen aus | |
dem „Skulpturenknast“ (Suzy van Zehlendorf) zu unterstützen. | |
15 Aug 2021 | |
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[1] /Outsider-Kunst-auf-der-Berlinale/!5664363 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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