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# taz.de -- Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“: Obszönität des Alltags
> Der Berlinale-Gewinnerfilm „Bad Luck Banging or Loony Porn“ blickt mit
> Leichtigkeit in den Abgrund – und stellt Moralvorstellungen auf den
> Prüfstand.
Bild: Die Lehrerin Emi (Katia Pascariu) sichtet einschlägige Forschungsliterat…
Dieser Sex stand nie unter einem guten Stern, schon bevor das Video im
Internet landete. Mitten während des Oralverkehrs klopft Emis Mutter an der
Tür und erinnert daran, doch bitte ihre Vitamine abzuholen. Mit einem
Video, das eine Lehrerin beim Sex mit ihrem Mann zeigt, nimmt [1][Radu
Judes neuster Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“, der den Goldenen
Bären der diesjährigen Berlinale gewonnen hat], seinen Anfang.
Sommer 2020 in Bukarest, Alltagsszenen aus der Pandemie. Emi (Katia
Pascariu) hetzt durch die Straßen, in einen Spielwarenladen, in dessen
Auslage auch christliche Bücher liegen, an einer parkenden Stretchlimousine
vorbei, vorbei an Plakatwänden, die neben nackten, gestählten
Männeroberkörpern für die Superkombat Academy Romania werben.
Besuch bei der Schuldirektorin. Deren Mutter liegt im Sterben, die ganze
Familie schwirrt durch die Wohnung. Als Emi mit der Direktorin auf den
Balkon geht, bemühen sich die Männer in Hörweite zu bleiben. Emis Sexvideo
ist im Internet gelandet, die Aufregung ist groß, die Eltern toben,
Elternabend steht bevor, Emi droht die Entlassung, sie versucht sich in
Krisenmanagement.
Nach dem Gespräch eilt Emi weiter. Besorgungen. In der Spielwarenabteilung
eines Supermarkts stöbert sie durch das Angebot, die Kamera schwenkt von
der Protagonistin auf verpackte Barbiepuppen. An der Kasse reichen die
Wertmarken nicht für den Einkauf einer Frau. Die Frau überlegt eilig,
worauf sie verzichten kann. Hinter ihr schimpft eine andere Kundin, es sei
ja nicht ihre Schuld, dass die Frau arm sei, sie möge sich beeilen.
Emi eilt weiter. Ein Auto parkt auf dem Gehweg, als Emi den Fahrer
auffordert wegzufahren, wird er vulgär. Eine Werbung zeigt eine junge Frau,
die sich eine Süßigkeit in den Mund schiebt: „Ich mag es tief“, eine
Ausstellung zum Kriegsende des Ersten Weltkriegs wird mit einer riesigen
rumänischen Fahne beworben. Judes Film, der im Untertitel „Skizze zu einem
Heimatfilm“ heißt, ist in drei Teile geteilt.
## Panorama eines ideologisierten Alltags
Der erste Teil trägt den Titel „Einbahnstraße“. Wieder und wieder schweift
die Kamera im ersten Teil scheinbar zufällig ab, rückt die nächste Umgebung
der Protagonistin ins Bild: die Barbiepuppe, die sexistische Werbung, den
plakativen Patriotismus. Dieses Panorama eines ideologisierten Alltags wird
bevölkert von einem Gewusel der Egomanie. Neben der Frau an der Kasse und
dem Mann im Auto treten auf: ein kleiner Mann im SUV, der einen
Fußgängerüberweg vollparkt, den Motor laufen lässt, ein selbstgerechter
Mann, der über einen Transplantationsskandal schimpft.
Gerade mal eine halbe Stunde braucht Radu Jude, um uns den Wahnsinn vor
Augen zu führen, in dem wir leben. Unterlegt ist dieses Horrorkabinett
unseres Lebens mit einer Tonspur voller Humtata, aus dem das Reaktionäre in
allen Sprachen Europas erklingt.
In Teil zwei folgt ein unbarmherziges „Kleines Wörterbuch der Anekdoten,
Zeichen und Wunder“, darunter Wahrheit, Armee, Blondinenwitze, Geld,
Weihnachten, Kinder, Kirche, Familie. Schlagwort für Schlagwort
demonstriert Radu Jude, dass es kein Stichwort gibt, hinter dem sich in
unseren Gesellschaften kein Horror verbirgt.
## Weihnachten feiern nach dem Massaker
Die Armee – ein Repressionsinstrument bei jeder sich bietenden Gelegenheit,
Weihnachten – Jahrestag eines Massakers an Juden und Roma, das schnell
absolviert wurde, damit die Täter nach Hause konnten, Weihnachten feiern;
Kinder – „Politische Gefangene ihrer Eltern“; Familie – sechs von zehn
Kindern in Rumänien werden zu Hause geschlagen; Kirche – angesehene
Institution, opportunistisch an der Seite der Macht.
In einem Interview kommentiert Radu Jude die Methode des Films: „Ich
betrachte Bad Luck Banging … als Montagefilm, weil er das Publikum einlädt,
verschiedene Verbindungen zu ziehen und Gegenüberstellungen zu machen
zwischen der sogenannten Obszönität dieses Videos und der größeren
Obszönität, die uns umgibt, die weit realer und toxischer ist.“
Judes Film gelingt die Balance zwischen dem radikalen Sezieren
gesellschaftlicher Moralideologie und der Zugänglichkeit in der Form.
Andererseits unterstreichen das Humtata und auch die sonstige Musikauswahl
bei aller Leichtigkeit den Blick in Abgründe. Apropos Abgründe: Teil drei,
„Praxis und Verstellungen“, zeigt den Elternabend, in dem sich die Eltern
über Emi und das Video empören.
## Einer der politischsten Regisseure des europäischen Kinos
Bis 2016 war Radu Judes Kino noch deutlich näher am klassischen Erzählkino.
2015 zeigte er die Versklavung von Roma in der Walachei in westernartigen
Bildern in „Aferim!“, 2016 griff er die letzten Jahre des
jüdisch-rumänischen Schriftstellers Max Blecher in „Scarred Hearts“ auf. …
den Jahren danach begann jener Wechsel zwischen Dokumentarfilmen und
Spielfilmen, den Jude bis heute fortführt.
„Tara moartă“ von 2017 kombiniert Fotoaufnahmen eines Dorffotografen mit
dem Tagebuch eines jüdischen Arztes und zeigt so den eskalierenden
Antisemitismus in Rumänien bis zur Judenverfolgung. [2][„Mir ist es egal,
wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“ (2018)] zeigt eine
inszenierte Inszenierung. Eine junge Regisseurin plant eine kritische
Reinszenierung des Einmarschs rumänischer Truppen in Odessa und die
Massaker, die die rumänische Armee dabei beging.
Seit 2017 hat sich Radu Jude zu einem der politischsten Regisseure des
europäischen Kinos entwickelt, in dessen Filmen historische Mythenbildung
zerpflückt wird, nationale Lebenslügen verblassen und nun eben auch
Moralvorstellungen in ihrer Verlogenheit herausgearbeitet werden. „Bad Luck
Banging“ ist ein gelungener Film über unsere Gegenwart.
8 Jul 2021
## LINKS
[1] /Berlinale-Preisverleihung-online/!5751286
[2] /Neuer-Film-von-Radu-Jude/!5598642
## AUTOREN
Fabian Tietke
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Radu Jude
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Moral
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