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# taz.de -- Ende der ersten digitalen Berlinale: Entdeckungen im Gedränge
> Die Berlinale endet mit einem Cliffhanger: dem Versprechen auf eine
> Fortsetzung für das Publikum im Juni. Ein Spagat.
Bild: Silberner Bär für große gesellschaftliche Fragen: „Herr Bachmann und…
Der Preisträger der 71. Berlinale, der rumänische Regisseur [1][Radu Jude,
der am Freitag für seine Satire „Bad Luck Banging or Loony Porn“ den
Goldenen Bären] für den Besten Film erhalten hat, ist mit der
Online-Ausgabe der Berlinale zufrieden.
Denn so blieb ihm die lästige Gala der Preisverleihung erspart, der
„Bullshit des roten Teppichs“, wie ihn das Branchenmagazin The Hollywood
Reporter zitiert. Wo sich die Presse überwiegend beklagte, nicht wie sonst
im Kino sitzen zu können, sah Radu Jude das Positive darin, das digitale
Filmfestival auf seinen Kern zu reduzieren: Filme zeigen.
Im Großen und Ganzen stimmt das auch für den ersten, nichtöffentlichen Teil
dieser Berlinale. In zwei Fällen allerdings galt dies nur eingeschränkt.
Waren unter den deutschen Wettbewerbsfilmen doch zwei, die lediglich im
Kino zu sehen waren. Wenige Tage vor Beginn der Berlinale hatte es einige
sehr exklusive Pressevorführungen für Dominik Grafs Literaturverfilmung
„Fabian“ und Daniel Brühls Kammerspiel „Nebenan“ gegeben. Ein fast
surreales Erlebnis für die wenigen Anwesenden.
Was die Frage aufwirft, ob es bei einem internationalen Filmfestival mit
internationaler Presse überhaupt sinnvoll ist, Filme im Wettbewerb
zuzulassen, über die nur ein sehr kleiner Personenkreis berichten kann.
Dass keiner der beiden Beiträge am Ende von der Jury berücksichtigt wurde,
war, wenn man so möchte, Glück im Unglück, löst die Schwierigkeit aber
nicht.
## Streamen ist eine akzeptable Notlösung
Vielmehr riskiert man auf diese Weise, die international ohnehin schon
marginal vertretene Filmproduktion in Deutschland noch stärker zu
provinzialisieren. Streamen ist daher, bei allen Abstrichen am Filmgenuss,
eine akzeptable Notlösung, sie sollte bloß niemanden ausschließen.
Ansonsten stellte einen das gedrängte Programm mit täglich mindestens 20
wechselnden Streams vor neue Stresserfahrungen beim Heimfestivalschauen,
selbst wenn sich die Berlinale diesmal auf 166 Filme beschränkte. Wobei die
Auswahl überzeugte.
So hatte der Wettbewerb nicht allein mit seinen Hauptgewinnern, neben Radu
Jude der Japaner Ryusuke Hamaguchi mit dem Episodenfilm „Wheel of Fortune
and Fantasy“, der den Großen Preis der Jury erhielt, und dem Preis der Jury
für die deutsche Filmemacherin Maria Speth mit ihrem einnehmend starken
Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“, sondern auch mit einigen
leer ausgegangenen Kandidaten viel zu bieten.
So gelang es zwei magischen Filmen, mit optisch sehr schlichten Mitteln die
Grenzen des Möglichen im Bild aufzuheben: Céline Sciammas „Petite Maman“
aus Frankreich und „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ vom
Georgier Alexandre Koberidze, der die Geschichte eines Paars erzählt, das
sich eines Fluchs wegen nicht finden kann. Beide blieben zu Unrecht ohne
Preis.
## Von blutsaugenden Kapitalistinnen und Schulklassen
Alexandre Koberidze war zudem als Schauspieler in der Sektion Encounters zu
erleben, wo er in Julian Radlmaiers Komödie „Blutsauger“ einen
proletarischen Flüchtling aus der Sowjetunion in einem deutschen Ostseebad
im Jahr 1928 gab. Dort gerät er in die Fänge der Großindustriellen Octavia
Flambow-Jansen, herrlich blasiert von Lilith Stangenberg verkörpert.
Diese entpuppt sich als echtes Blut saugende Kapitalistin, und in ihrer
Fabrik wird eine Salbe mit dem Namen „Fetisch“ hergestellt – die Handlung
geht recht buchstäblich einer Passage aus Marx’ „Kapital“ nach, in der es
heißt: „Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt
durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon
einsaugt.“ Radlmaiers böser Witz wäre durchaus preiswürdig gewesen.
Andere Beiträge dieser Sektion überzeugten weniger durch Komik, dafür mit
nüchtern detaillierter Beobachtung, die sich sehr bewusst zur Bedeutung
ihrer Bilder verhält.
„Nous“ heißt der in den Encounters als Bester Film prämierte Dokumentarfi…
der französischen Regisseurin Alice Diop, die scheinbar zusammenhanglos
Personen in der Pariser Banlieue mit der Kamera begleitet: einen
Kfz-Mechaniker aus Mali, ihre eigene Schwester, eine Altenpflegerin, die
ihre Hausbesuche macht, oder die elitäre Jagdgesellschaft der „Rallye
Fontainebleau“.
## Alltägliches Leben in der Banlieue
Diops Familie wanderte aus dem Senegal nach Frankreich ein. Ihr Film
dokumentiert eine Gesellschaft, in der die unterschiedlichen Teile wenig
miteinander zu verbinden scheint. In einer Szene, in der sie mit dem
Schriftsteller Pierre Bergounioux spricht, schlägt Diop jedoch selbst eine
Brücke, indem sie sagt, dass sie beim Lesen von Bergounioux’ Tagebüchern
zwar den Eindruck gehabt habe, ihr Leben werde nie dem seinen entsprechen,
gleichwohl habe sie sich beim Lesen so in die Beschreibungen einfühlen
können, als sei es ihr eigenes.
Und zu ihrer Motivation, fast schon obsessiv in ihren Filmen das Leben in
der Banlieue festzuhalten, formulierte sie das Credo, dass sie diese
alltäglichen Biografien dokumentieren will, die sonst unbemerkt
verschwunden wären.
Ein bisschen rückt Diops Film damit in die Nähe von Maria Speths
Wettbewerbsfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“, einer Langzeitbeobachtung
aus einer hessischen, von Migration geprägten Schulklasse. Die
geschilderten Einzelschicksale, von denen man sonst nie erfahren hätte,
kommen einem darin plötzlich sehr nah und entpuppen sich als Beispiele für
sehr viel größere gesellschaftliche Fragen.
Wenn man der Berlinale einen Vorwurf für die Präsentation ihres digitalen
Programms machen kann, so den, dass es kaum möglich war, die Sektionen
angemessen abzubilden. Hier hätte mehr Zeit gut getan. Selbstverständlich
sind auch wieder im Panorama oder im Forum genügend Filme, die mehr
Aufmerksamkeit verdienen.
## Sommer-Version mit echten Leinwänden und Menschen
Im Forum etwa der Dokumentarfilm „Anmaßung“ von Chris Wright und Stefan
Kolbe, in dem die Regisseure sich ein Bild von einem Sexualmörder zu machen
versuchen; desgleichen die frei zwischen Dokumentation und Fiktion
wandelnde Geschichte von „Qué será del verano“ des Argentiniers Ignacio
Ceroi; oder die fernab aller Erwartungen unternommene Reise ins Ungewisse,
„La veduta luminosa“ von Fabrizio Ferraro, einem optisch verwaschenen
Spielfilm über ein Hölderlin-Filmprojekt am Rande des Wahnsinns.
Im Panorama ließe sich unter anderem „Le monde après nous“ von Louda Ben
Salah-Cazanas hervorheben, ein leiser Film aus Frankreich, der geschickt
Fragen von Migration und Klasse zusammendenkt. Mehr dazu im Juni.
Ein Cliffhanger mithin. Wie überhaupt in der Filmbranche mit der
„Digitalisierung“ des Angebots der Unterschied zwischen den Formaten
zunehmend aufweicht. Filmregisseure drehen immer häufiger Serien, wie
[2][Maria Schrader, die in der Berlinale mit der KI-Komödie „Ich bin dein
Mensch“] angetreten war, für die ihre Hauptdarstellerin Maren Eggert
ausgezeichnet wurde. Vergangenes Jahr hingegen hatte sie großen Erfolg mit
ihrer für [3][Netflix produzierten „Unorthodox“-Miniserie].
Auch die Berlinale hat sich mit ihrer zweigeteilten Form für eine Art
Miniserienlösung entschieden. Der erste, dem Publikum vorenthaltene Teil,
endete mit dem Versprechen: Im Juni sehen wir uns im Kino wieder. Die
sommerliche Fortsetzung verheißt ein Wiedersehen mit echten Leinwänden,
echten Stars und echten Menschen vor, neben und hinter sich. Für die Filme
lohnt das Warten allemal. Bleibt zu hoffen, dass es von dieser
Berlinale-Miniserie keine zweite Staffel geben wird.
8 Mar 2021
## LINKS
[1] /Berlinale-Preisverleihung-online/!5751286
[2] /Deutsche-Filme-bei-der-Berlinale/!5749550
[3] /Serie-Unorthodox-auf-Netflix/!5670815
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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