# taz.de -- Vierter Tag Filmfestival Berlinale: Eine Freundin wie sie selbst | |
> Genauer Blick für soziale Fragen und die strenge Poesie des | |
> Existenziellen: Der Wettbewerb der Berlinale zeigt starke Frauen mit | |
> Schwächen. | |
Bild: Nach dem Tod der Oma trifft Nelly auf Marion: Céline Sciammas Spielfilm … | |
Die ungünstigen Umstände, unter denen die Berlinale dieses Jahr läuft, sind | |
umso leichter zu ertragen, je besser die Filme sind. Ein bisschen | |
Begeisterung kommt dann selbstverständlich doch auf, allen Klagen über | |
[1][das aktuell gewählte Streamingmodell] zum Trotz. Ein Höhepunkt im | |
diesjährigen Wettbewerb ist etwa der japanische Episodenfilm „Wheel of | |
Fortune and Fantasy“ von Ryusuke Hamaguchi. In drei kurzen Geschichten, die | |
in sich geschlossen sind, kommen Frauen auf sehr unterschiedliche Art in | |
Bedrängnis. | |
Da ist das Modell Meiko, deren Freundin Tsugumi ihr erzählt, dass sie sich | |
verliebt hat. Bald begreift Meiko jedoch, dass sie den Mann, von dem die | |
Rede ist, weit besser kennt, als für die Freundschaft der zwei Frauen gut | |
ist. Das Dilemma, das folgt, spielt sich dabei lediglich zwischen den | |
Frauen ab, der Mann verhält sich trotz der komplizierten Situation | |
bemerkenswert indifferent. Verantwortung ist anscheinend Sache der Frauen. | |
In einer anderen Episode soll die Studentin Nao (Katsuki Mori) im Auftrag | |
ihres Liebhabers dessen Professor verführen, um Rache für eine schlechte | |
Benotung zu üben. Nao selbst ist mit einem anderen Mann verheiratet, hat | |
ein Kind. Die Verführung geschieht dabei auf literarischem Weg: Der | |
Professor hat einen Roman geschrieben, der Passagen über Sex enthält. Nao | |
sucht ihn in der Sprechstunde auf und liest ihm die expliziten Seiten vor. | |
Der Versuch, dem Professor so zu schaden, geht am Ende zu ihrem Nachteil | |
aus. | |
In der letzten Episode fährt die Programmiererin Mora (Fusako Urabe) in | |
einer nahen Zukunft, in der das Internet zusammengebrochen ist, zu einem | |
Klassentreffen mit ehemaligen Schülerinnen. Sie hofft, ihre alte Freundin | |
wiederzutreffen, in die sie einst verliebt war. In Nana (Aoba Kawai) meint | |
sie diese Freundin wiederzuerkennen. Nana führt, anders als Mora, ein sehr | |
heterosexuelles Familienleben. Das Treffen gerät unerwartet innig, wobei | |
unklar ist, ob sie sich jemals zuvor begegnet sind. | |
Unmögliche Begegnung zweier Frauen | |
Die Frauen sind in diesen Konstellationen stets auf die eine oder andere | |
Weise benachteiligt. Hamaguchi lässt in seinen geometrisch angeordneten | |
Bildern die bis heute geltende patriarchale Gesellschaftsordnung Japans | |
durchscheinen. Die Frauen erscheinen darin zwar einerseits als Opfer der | |
Verhältnisse, sind allerdings stets Subjekte, die nicht allein der Lage | |
unterworfen sind, sondern sich dazu selbstbestimmt verhalten. Hamaguchi | |
verdichtet diese kurzen Sittenbilder zu einer strengen Poesie des | |
Existenziellen. | |
Eine unmögliche Begegnung zweier Frauen setzt die [2][französische | |
Regisseurin Céline Sciamma] in ihrem ebenfalls im Wettbewerb gezeigten | |
Spielfilm „Petite maman“ ins Bild. Alles beginnt wie eine herkömmliche | |
Familiengeschichte. Die Oma von Nelly (Joséphine Sanz) ist gestorben. Mit | |
ihren Eltern fährt Nelly zum verlassenen Haus der Großmutter, man bleibt | |
einige Tage, um es auszuräumen. Am Morgen nach der Ankunft erwacht Nelly | |
allein mit dem Vater, ihre Mutter ist schon abgefahren, um „allein“ zu | |
sein. Was anfangs so unscheinbar schlicht inszeniert daherkommt wie ein | |
Fernsehfilm, gerät durch einen einfachen Trick zu einem magischen | |
Gedankenspiel. | |
Denn kurz nach der Abreise der Mutter trifft Nelly beim Spielen im Wald ein | |
anderes Mädchen, Marion, die ihr aufs Haar gleicht. Sie wird gespielt von | |
Gabrielle Sanz, der Zwillingsschwester der Darstellerin von Nelly. Letztere | |
begreift nach und nach, wen sie da getroffen hat. | |
Mit sehr leichter Hand baut Sciamma Spukelemente in diese surreale | |
Erzählung, die sich aus der mysteriösen Freundschaft ergibt. Auch bei ihr | |
geht es um Rollen, diesmal aber eher die von Mutter und Tochter, und um | |
Trauer als Teil des Erwachsenwerdens. Mit seinen von den Braun- und | |
Gelbtönen des welken Laubs im Wald und dem verschatteten Licht im | |
leblos-einsamen Haus der Oma geprägten Bildern ein weiterer, stiller | |
Höhepunkt der Berlinale. | |
4 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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