# taz.de -- Zweiter Tag Filmfestival Berlinale: Geheimnisse in der Familie | |
> Am zweiten Tag der Berlinale laufen Filme aus Kanada, Südkorea und | |
> Deutschland. Sie thematisieren langsame, behutsame Veränderungen. | |
Bild: Szene aus „Memory Box“ mit Manal Issa, Hassan Akil | |
Verschwiegenheit ist nicht unbedingt etwas, durch das sich Filmkritik | |
auszeichnet. Bei manchen Filmen möchte man trotzdem nicht allzu viel | |
verraten, um dem Publikum, das die Filme der Berlinale im Sommer dann | |
hoffentlich auch sehen kann, die eigenen Überraschungen beim Betrachten | |
ebenfalls zu gestatten. | |
In [1][Anne Zohra Berracheds] deutschem Spielfilm „Die Welt wird eine | |
andere sein“ in der Sektion Panorama ist es eigentlich am besten, man weiß | |
so wenig wie möglich über seine Handlung. Oder bloß so viel: Die Geschichte | |
der türkischstämmigen Medizinstudentin Asli (Canan Kir) und ihres | |
libanesischen Kommilitonen Saeed (Roger Azar), die sich in den Neunzigern | |
an der Uni im Ostseeraum kennen und lieben lernen, dreht sich zunächst um | |
ihre Beziehung und damit verbundene spezifische kulturelle Fragen. Ein | |
Konflikt zwischen den beiden deutet sich etwa an, Aslis Familie akzeptiert | |
Saeed nicht, weil er Araber ist. | |
Irgendwann erzählt der Film dann auch von einer Radikalisierung, wie es | |
inzwischen viele gibt. Die Stärke des Films ist, dass er ganz aus Sicht von | |
Asli erzählt ist, wie sie die langsame Veränderung ihres Freundes zögerlich | |
registriert, dagegen anzukämpfen versucht, ihn zugleich aus Liebe | |
verteidigt und sehr spät die Tragweite seiner heimlichen Aktivitäten | |
erkennt. | |
Von Geheimnissen in der Familie handelt auch der Wettbewerbsfilm „Memory | |
Box“ der libanesischen Filmemacher Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. | |
Drei Frauen im weihnachtlich verschneiten Montreal, die aus dem Libanon | |
stammende Maia (Rim Turki), ihre Mutter Téta (Clémence Sabbagh) und Maias | |
Tochter Alex (Paloma Vauthier) werden durch ein unerwartet eintreffendes | |
Paket nachhaltig verstört. | |
## Schmerzhafte Erinnerung | |
Denn darin finden sich alte Notizbücher Maias. Maia hatte während des | |
Libanonkriegs begonnen, mit ihren Aufzeichnungen und Fotografien das Ausmaß | |
der Zerstörung zu dokumentieren und ihre Gedanken ungefiltert festzuhalten. | |
Die von Maia und ihrer Mutter verdrängte Erinnerung wird von Alex in Gang | |
gesetzt, die das „verbotene“ Material heimlich sichtet und auf diese Weise | |
ihre Mutter und Oma von völlig neuer Seite kennenlernt. | |
Am stärksten ist der Film immer dann, wenn er die Notizbücher mit den oft | |
sequenziell arrangierten Fotografien Maias unter den Blicken von Alex zum | |
Leben erweckt. Darunter sind viele authentische Fotos des ausgebombten | |
Beirut: „Memory Box“ basiert auf Joana Hadjithomas’ eigenen Notizbüchern. | |
Maias Tochter setzt die analoge Erinnerungsarbeit parallel dazu mit | |
heutigen Mitteln fort, fotografiert alles mit ihrem Smartphone ab und | |
schickt neue Erkenntnisse in den Chat mit ihren Freunden. Die Darstellung | |
von Profilfotos und Apps im Bild macht so den Generationenunterschied zur | |
Mutter deutlich, die mit Spiegelreflexkamera unterwegs war und für ihre | |
Freundin Kassetten mit ihren Beobachtungen und Musik aufnahm. Dieses | |
optische Update gehört andererseits nicht zu den überzeugendsten | |
ästhetischen Momenten des Films. | |
Ganz schlicht und scheinbar beiläufig hingegen der Beitrag des | |
[2][Südkoreaners Hong Sangsoo], der auch vergangenes Jahr im | |
Berlinale-Wettbewerb angetreten war. In Schwarz-Weiß-Bildern lässt | |
„Introduction“ ein begrenztes Arsenal an Figuren in wechselnden | |
Konstellationen aufeinandertreffen. Ein junges Paar, beide Studenten, wird | |
gezeigt, wie es zunächst in Seoul anscheinend glücklich ist, später zieht | |
die Frau zum Studium nach Berlin. Der Mann kommt sie besuchen, beide | |
schlendern um den Potsdamer Platz, der so verlassen wirkt, wie er dieser | |
Tage sein dürfte. | |
Der Mann will seinerseits Schauspieler werden, bekommt aber moralische | |
Bedenken, als er eine Kussszene spielen soll, ohne echte Gefühle für die | |
Frau zu empfinden. Ein alter Schauspieler, dem der Student diese Bedenken | |
vorträgt, empört sich: „Was soll daran falsch sein?“, während die Kamera | |
sein Gesicht immer wieder kurz aus dem Fokus entgleiten lässt. Auch das | |
eine Krise des Kinos, aber eine spielerische. | |
2 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Film-ueber-praenatale-Diagnostik/!5337591 | |
[2] /Grass-von-Hong-Sangsoo-im-Forum/!5482600 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Film | |
Festival | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Film | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Dokumentarfilm | |
Film | |
Film | |
Maria Schrader | |
Spielfilm | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Spielfilm über 11. September: Die Frau des Attentäters | |
Regisseurin Anne Zohra Berrached erzählt in ihrem Film „Die Welt wird eine | |
andere sein“ von 9/11 und der Liebe. Ein Interview mit der Filmemacherin. | |
Berlinale-Preisverleihung online: Drastik als große Kunst | |
Bei der 71. Berlinale geht der Goldene Bär an die Komödie „Bad Luck Banging | |
or Loony Porn“. Erstmals gab es genderneutrale Schauspielpreise. | |
Wissenschaftsfilm als großes Kino: Geduld, Genauigkeit, Handwerk | |
Das Sensory Ethnography Lab der Harvard University vermittelt | |
interdisziplinär zwischen Wissenschaft und Kunst. Jetzt ist es Gast des | |
Arsenal. | |
Vierter Tag Filmfestival Berlinale: Eine Freundin wie sie selbst | |
Genauer Blick für soziale Fragen und die strenge Poesie des Existenziellen: | |
Der Wettbewerb der Berlinale zeigt starke Frauen mit Schwächen. | |
Dritter Tag Filmfestival Berlinale: Die Bilder der Pandemie | |
Im Programm der Berlinale tauchen die ersten Filme der Coronazeit auf. Sie | |
zeigen bunte Masken aus Stoff und Menschen, die Abstand halten. | |
Deutsche Filme bei der Berlinale: Liebe ist Sache der Algorithmen | |
Roboter im Plattenbau, Verzweiflung in Berlin 1931 und ein | |
Nachbarschaftszwist: Davon erzählen drei deutsche Spielfilme im | |
Berlinale-Wettbewerb. | |
Koreanischer Thriller „Pandemie“ im Kino: Rettet die Antikörper | |
Der südkoreanische Katastrophenthriller „Pandemie“ dramatisiert die Folgen | |
einer Virusinfektion. Jetzt kommt er hierzulande zum ersten Mal ins Kino. |