| # taz.de -- Ryūsuke Hamaguchis Film „Das Glücksrad“: Zauber und sein Brud… | |
| > Ryūsuke Hamaguchis Episodenfilm „Das Glücksrad“ entführt in andere | |
| > Welten. Er beleuchtet den Alltag japanischer Frauen. | |
| Bild: Moka (Fusako Urabe) und Nana (Aoba Kawai) in „Das Glücksrad“ | |
| Kann es einen solchen Zufall geben? Zwei Frauen laufen sich auf den | |
| Rolltreppen einer Bahnhofsvorhalle über den Weg. Voller Erstaunen begrüßen | |
| sie sich, sie können ihr unvermutetes Wiedersehen kaum fassen. Die eine ist | |
| am Tag davor nur deshalb in die Stadt gekommen, um ein Klassentreffen zu | |
| besuchen, auf dem sie hoffte, der anderen zu begegnen. Die aber hatte | |
| offenbar keine Einladung bekommen, lädt nun aber ihrerseits die Angereiste | |
| zu sich nach Hause zum Tee ein. | |
| Dort beginnen die beiden Frauen eine seelenvolle Unterhaltung darüber, was | |
| sie in den letzten 20 Jahren bereut und gemacht haben – und dann stellt | |
| sich heraus, dass sie einander doch nicht kennen. Jede hatte die andere mit | |
| einer anderen verwechselt. | |
| Unter Eskapismus im Kino stellt man sich gewöhnlicher Weise etwas anderes | |
| vor als die Filme des Japaners Ryūsuke Hamaguchi, in denen kein | |
| „Worldbuilding“, keine Fantasy und nichts Action-Ähnliches passiert, aber | |
| viel geredet wird. Sein „Drive My Car“ konnte dennoch in diesem Jahr sogar | |
| die Oscar-Wähler überzeugen; der Film wurde als bester internationaler | |
| Spielfilm ausgezeichnet und erhielt darüber hinaus Nominierungen in den | |
| Kategorien Regie, adaptiertes Drehbuch und Bester Film. | |
| ## Silberner Bär auf der Berlinale | |
| [1][„Das Glücksrad“, der im vergangenen Jahr auf der nur online | |
| abgehaltenen Berlinale 2021 Premiere feierte] und dort den Silbernen Bären | |
| und Großen Preis der Jury erhielt, geriet über den Erfolg von „Drive My | |
| Car“, der im selben Jahr in Cannes präsentiert wurde, etwas ins | |
| Hintertreffen. Zusammen sorgen beide Filme nun dafür, dass sich der Name | |
| Ryūsuke Hamaguchi nachhaltig einprägt – als Regisseur von Filmen, die in | |
| andere Welten entführen, nur eben auf sehr spezielle Art und Weise. | |
| Wer von der [2][dreistündigen Laufzeit von „Drive My Car“] abgeschreckt | |
| war, tut sich vielleicht sogar leichter mit dem zweistündigen „Glücksrad“, | |
| der zudem in drei Episoden aufgeteilt ist. In allen geht es um die seltsame | |
| Kraft des Zufalls – und darum, welche Wendungen er tatsächlich ermöglicht. | |
| In der ersten Geschichte entdeckt das Fotomodell Meiko (Kotone Furukawa), | |
| dass der aufregende junge Mann, mit dem ihre Assistentin und Freundin | |
| Tsugumi (Hyunri) soeben das erste Date hatte, ihr eigener Exfreund ist, der | |
| sich zu ihrem Leidwesen ein Jahr zuvor von ihr getrennt hatte. | |
| Die beiden Frauen sitzen nach einem Fotoshooting im Taxi auf dem Weg nach | |
| Hause; Meiko fragt Tsugumi über das Potenzial des Mannes aus. Um wen es | |
| sich bei dem Innenarchitekten, von dem die Freundin ganz begeistert ist, | |
| handelt, begreift Meiko ziemlich schnell. | |
| ## Der Freund der Freundin | |
| Trotzdem sieht man, wie sie den Zeitpunkt, Tsugumi die Wahrheit zu sagen, | |
| gleich schon verpasst. Statt dessen horcht sie sie regelrecht aus: Was sagt | |
| er über seine Ex? Wie stellt er sich dar? Was erzählt er über seine | |
| Beziehungserfahrung? Und dann, kaum dass Tsugumi ausgestiegen ist, fährt | |
| Meiko mit dem Taxi stracks zu ihm, um ihn zur Rede zu stellen. | |
| Man glaubt zu wissen, worauf das hinauslaufen wird: Die Eifersucht, die | |
| sich in Meiko regt, liest man als Beweis, dass es mit der Liebe zu Kazuaki | |
| (Ayumu Nakajima) eben doch nicht vorbei ist. Genauso ist man gewillt, | |
| hinter dessen Ärger über ihr plötzliches Auftauchen in seinem Büro eine | |
| lediglich unterdrückte, fortbestehende große Zuneigung wahrzunehmen. | |
| Hamaguchi aber macht aus der Situation noch einmal etwas anderes, | |
| Unmittelbares: Man glaubt den beiden Figuren dabei zusehen zu können, wie | |
| sie sich im Widerstreit erst mühevoll über die eigenen Gefühle klar werden. | |
| Trotzdem ist am Ende der Szene noch alles offen. Erst in der Coda, in der | |
| die beiden Freundinnen im Café sitzen, während Kazuaki zufällig draußen | |
| vorbeiläuft, wird die Entscheidung herbeigeführt – mitnichten so, wie man | |
| gedacht hat. | |
| Der Titel „Das Glücksrad“ weist nicht nur inhaltlich auf Geschichten über | |
| Schicksal und Zufall hin, sondern auch formale Aspekte von Hamaguchis | |
| Erzählweise. Alle drei Episoden folgen im Grunde dem Aufbau eines | |
| Zaubertricks: Zuerst kommt das „Setup“, in dem die Figuren und ihr | |
| Grundkonflikt etabliert werden. | |
| ## Affären und Skandale | |
| In der zweiten Episode ist das die verheiratete Nao (Katsuki Mori), die | |
| eine Affäre mit ihrem jüngeren Kommilitonen Sasaki (Shouma Kai) hat, der | |
| sie eines Tages darum bittet, ihren Professor Segawa (Kiyohiko Shibukawa) | |
| in einen Skandal wegen sexuellen Belästigung, eine „Venusfalle“ sozusagen, | |
| zu verwickeln. | |
| Die zweite Stufe, der „Twist“ besteht darin, dass der Professor der | |
| verführerischen Studentin dann trotz alledem ganz gut widerstehen kann, sie | |
| selbst sich aber Gefühle eingestehen muss, die sie vorher verdrängt hatte. | |
| Und im dritten Akt, dem „Reveal“ beziehungsweise der „Enthüllung“ stel… | |
| sich dann heraus, dass ein dummes Missgeschick fünf Jahre später alle drei | |
| woanders enden lässt, als sie es seinerzeit gedacht hätten. | |
| Dabei steht aber nicht der formelhafte Charakter des Erzählens im | |
| Vordergrund des Films, sondern wie kunstvoll Hamaguchi diese Formel | |
| unterstreicht und zugleich unterläuft. Einerseits schmückt er die | |
| Kurzgeschichten fast übertrieben mit Zufall über Zufall aus – das Japan, in | |
| dem der Film spielt, ist ein sehr kleines Land, in dem sich Figuren stets | |
| nach Jahren im Bus oder auf der Straße wiederfinden können –, andererseits | |
| reduziert er ihre Komplexität, indem er sich ganz auf den jeweiligen | |
| Austausch zwischen zwei Figuren konzentriert. | |
| Man darf sich aber auch nichts vormachen: Für die, die frei nach dem | |
| berühmten Spruch von Gene Hackmans Figur in Arthur Penns „Die heiße Spur“ | |
| („Night Moves“) das Erlebnis eines Éric-Rohmer-Films mit „Farbe beim | |
| Trocknen zusehen“ beschreiben würden, entfalten sicher auch Hamaguchis | |
| Filme keinen Reiz. | |
| ## Störrische Charaktere | |
| Wer jedoch den 2010 verstorbenen französischen Regisseur samt seiner in | |
| Zyklen wie „Moralische Erzählungen“ oder „Komödien und Sprichwörter“ | |
| eingeordneten Filme vermisst, wird sich mit dem „Glücksrad“ regelrecht | |
| beschenkt fühlen. Nicht dass Hamaguchi Rohmer bloß nachahmen würde. | |
| Vielmehr erinnert seine Art und Weise, den Figuren Zeit und Raum zu lassen, | |
| um sich ihrer selbst bewusst zu werden, sehr angenehm an Rohmers spezielle | |
| Zuneigung für seine oft störrischen Charaktere. | |
| Und wie viele von Rohmers Werken ist auch Hamaguchis „Glücksrad“ ein Film, | |
| der das Sprechen der Figuren weniger dafür benutzt, um Handlung | |
| voranzubringen oder Dinge zu erklären, sondern dazu, die Funktion des | |
| Redens selbst zu reflektieren. | |
| Es gibt hier wenig witzige Pointen oder geistreiche Erwiderungen, statt | |
| dessen fesselt das Prozesshafte der Dialoge, das, was geredet wird, genauso | |
| wie das, das man daran unschwer als Verdrängtes erkennt. In allen drei | |
| Episoden geben sich die Figuren redlich Mühe, ehrlich zu sein, aber das, | |
| was sie sagen, geht, einmal ausgesprochen, seine eigenen Wege. | |
| Den größten emotionalen Nachhall entwickelt dabei zweifellos die letzte | |
| Episode, die mit den zwei Schulfreundinnen, die sich so sehr übers | |
| zufällige Wiedersehen freuen, dass sie sich ihre Täuschung kaum eingestehen | |
| können. Statt auseinanderzugehen und den Zauber des Zufalls zu zerstören, | |
| halten sie an ihm fest. Und siehe da, im „Als ob“-Spiel gelingt es ihnen, | |
| zu Wahrheiten zu finden, die ihnen alleine verborgen geblieben wären. Für | |
| die Kunst des Entführens in andere Welten braucht es eben kein | |
| Spezialeffekte, es reicht, dass jemand in eine Rolle schlüpft. | |
| 2 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Vierter-Tag-Filmfestival-Berlinale/!5750957 | |
| [2] /Murakami-Verfilmung-Drive-My-Car/!5821067 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
| ## TAGS | |
| Frauen im Film | |
| Japanischer Film | |
| Japanisches Kino | |
| Alltagsleben | |
| Liebe | |
| Episodenfilm | |
| Oscarpreisträger | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Japan | |
| Frauen | |
| Film | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Film | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Spielfilm von Ryūsuke Hamaguchi: Invasion der Investoren | |
| Zwischen Glampingidylle und Ökohorror. Im „Evil Does Not Exist“ legt der | |
| japanische Regisseur Ryūsuke Hamaguchi verwirrende Fährten in der Natur. | |
| Der koreanische Regisseur Hong Sang-soo: Das Fühlen zwischen den Zeilen | |
| Einen silbernen Bären hat er schon: der Regisseur Hong Sang-soo. Nun kommt | |
| sein Berlinale-Film ins Kino und erzählt von glücklichen Begegnungen. | |
| Japanischer Animationsfilm: Seuchen heilen, Hirsche reiten | |
| Der japanische Animationsfilm „The Deer King“ basiert auf dem gleichnamigen | |
| Fantasyroman. Er erzählt episch von einer mysteriösen Seuche. | |
| Murakami-Verfilmung „Drive My Car“: In den Gleichklang hineinfahren | |
| Der Film „Drive My Car“ ist ein Roadmovie à la Murakami. Ryūsuke Hamaguchi | |
| nutzt das Innere eines Wagens virtuos für ein Spiel mit der Suggestion. | |
| Berlinale-Preisverleihung online: Drastik als große Kunst | |
| Bei der 71. Berlinale geht der Goldene Bär an die Komödie „Bad Luck Banging | |
| or Loony Porn“. Erstmals gab es genderneutrale Schauspielpreise. | |
| Vierter Tag Filmfestival Berlinale: Eine Freundin wie sie selbst | |
| Genauer Blick für soziale Fragen und die strenge Poesie des Existenziellen: | |
| Der Wettbewerb der Berlinale zeigt starke Frauen mit Schwächen. |