# taz.de -- Neuer Spielfilm von Ryūsuke Hamaguchi: Invasion der Investoren | |
> Zwischen Glampingidylle und Ökohorror. Im „Evil Does Not Exist“ legt der | |
> japanische Regisseur Ryūsuke Hamaguchi verwirrende Fährten in der Natur. | |
Bild: Das Mädchen Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur | |
Im Nachhinein fällt es schwer zu glauben, dass ein Film wie Ryūsuke | |
Hamaguchis „Drive My Car“ den Oscar als beste internationale Produktion | |
gewinnen konnte. Ein Dreistundenwerk, in dem nicht viel passiert, außer | |
dass zwei Menschen in einem Auto miteinander reden. | |
Und dies noch nicht mal in Form von lebendiger Debatte, sondern in | |
bedächtiger Zurückhaltung und mit viel Schweigen zwischendurch? | |
Wahrscheinlich brauchte es für den Erfolg die coronabedingte Verlangsamung | |
des üblichen Kinobetriebs, die den Zuschauern und Oscar-Votern die nötige | |
Geduld ließ, sich in den Film reinzufinden. | |
[1][„Evil Does Not Exist“, Hamaguchis neue Produktion], trifft jetzt auf | |
weniger entgegenkommende Umstände, ist dafür aber mit 106 Minuten Laufzeit | |
der bislang kürzeste von Hamaguchis Spielfilmen. Welten entfernt von seinem | |
fünfstündigen Werk „Happy Hour“, das ihn beim Filmfestival in Locarno 2015 | |
bekannt machte. | |
## Unbedingte Aufmerksamkeit | |
Und obwohl sich also im Vergleich zu [2][„Drive My Car“] in „Evil Does Not | |
Exist“ die Dinge fast überstürzen – Menschen streiten sich, Äxte werden | |
geschwungen, ein Kind verschwindet –, fordert sein neues Werk jene Form von | |
unbedingter Aufmerksamkeit, die man sich mit Smartphone in Bereitschaft | |
fast abgewöhnt hat. | |
Wie ein Vorbereitungstraining funktioniert in dieser Hinsicht schon die | |
Auftaktsequenz: Den Blick nach oben in die Wipfel gewandt, wandert eine | |
Kamera durch einen Wald, die sinfonische Musik dazu schwankt zwischen ernst | |
und unheimlich. Man erkennt, dass es Winter ist, bis auf die Nadelhölzer | |
sind die Bäume kahl, der Himmel ist grau. Es dauert irritierend lang, bis | |
dann doch die Musik abrupt endet und die ersten Menschen in den Blick | |
kommen. | |
Da ist das achtjährige Mädchen Hana (Ryo Nishikawa), das wie auf Suche | |
durch den Wald streift, dann ihr Vater Takumi (Hitoshi Omika). Er wird | |
zuerst beim Holzhacken gezeigt, dann beim Wasserholen aus einer Quelle, die | |
so entlegen ist, dass man das Wasser in handliche Kanisterportionen | |
aufgeteilt durch den Wald zum Parkplatz tragen muss. Dort eilt ihm ein | |
Nachbar (Hiroyuki Miura) zu Hilfe. Zusammen entdecken sie eine Stelle, an | |
der wilder Wasabi wächst. Der Nachbar pflückt etwas davon. | |
## Trügerisches Idyll | |
Das alles klingt idyllisch, aber tatsächlich durchzieht die schönen | |
Naturszenen zugleich etwas Unheimliches, sei es durch den Kamerablick, der | |
in den langen Einstellungen etwas Lauerndes bekommt, oder seien es Details | |
wie Gewehrschüsse in der Ferne, das Skelett eines angeschossenen Rehs im | |
Schnee, Bissspuren von Wild an einem Baumsämling. | |
Der Plot von „Evil Does Not Exist“ folgt oberflächlich betrachtet einer | |
Ökoparabel, in der kapitalistische Gier sich anschickt, die | |
Lebensgrundlagen einer mit der Natur harmonierenden Gemeinschaft zu | |
zerstören, dann aber von ein paar Widerständigen in die Schranken gewiesen | |
wird. | |
Die Inszenierung des Films legt dazu jedoch zahlreiche Spuren einer | |
Gegengeschichte aus: Da ist erstens die Natur nie ganz harmlos, zweitens | |
die Gemeinschaft nicht wirklich harmonisch und drittens ist es auch mit der | |
kapitalistischen Gier nicht so einfach. | |
## Ökologie und Satire | |
Der Ökoplot entfaltet sich nah an der Satire: Takumi und seine Nachbarn | |
kommen am nächsten Tag bei einer Informationsveranstaltung zusammen, in der | |
ein Unternehmen aus Tokio das Nutzungskonzept für sein in der Gegend | |
erworbenes Grundstück vorstellt. Man will hier einen „Glamping“-Platz | |
errichten. Der unglückliche Neologismus steht für „glamouröses Camping“ … | |
selbstverständlich sind die Anwohner skeptisch. | |
Dass das Unternehmen von zwei jungen Menschen vertreten wird, Takahashi | |
(Ryūji Kosaka) und Mayuzumi (Ayaka Shibutani), die selbst kaum Ahnung von | |
der Materie haben und nur gelernte Phrasen wiedergeben können – „Wir werden | |
die Bedenken berücksichtigen!“ –, trägt wenig zur Vertrauensbildung bei. | |
Hamaguchi zeigt die Versammlungsszene fast dokumentarisch: Es treten | |
Figuren mit flammenden Reden auf, die später keine Rolle mehr spielen. Ein | |
junger Mann mit blond gefärbten Haaren stellt schneidende Fragen und | |
schnaubt verächtlich über die mauen Antworten. | |
## Das Gleichgewicht leugnen | |
Ist das Ganze vielleicht nur ein Vorwand, um mit Pandemiesubventionen Geld | |
zu verdienen? Dass der Glampingplatz mit seinen Touristen nicht nur die | |
Atmosphäre des Dorfes verändern wird, sondern auch das ökologische | |
Gleichgewicht, lässt sich nicht leugnen. Für die angereisten Vertreter wird | |
es auf ihrem Podium mit der Power-Point-Präsentation im Hintergrund immer | |
ungemütlicher. | |
Und dann wechselt der Film scheinbar die Seiten: Statt von der | |
Dorfgemeinschaft und ihrem Widerstand gegen kapitalistische Übergriffigkeit | |
zu erzählen, folgt er den sich mit demonstrativer Demut – „Vielen Dank für | |
Ihre interessanten Wortbeiträge!“ – verabschiedenden Vertretern zurück in | |
die Stadt. | |
Gibt es das Böse tatsächlich nicht, wie es der Titel in steiler These | |
behauptet? In der Ergebniskonferenz, die Takahashi und Mayuzumi aus ihrem | |
wenig glamourösen Büro in der Stadt mit ihrem Auftraggeber abhalten, ist | |
Böses jedenfalls nicht auszumachen. | |
## Vorgetäuschter guter Wille | |
Es sei denn in der Gleichgültigkeit des Vorgesetzten, der aus seinem Auto | |
heraus per Zoom teilnimmt und zugibt, dass die Infoveranstaltung vor Ort | |
nur den Zweck hatte, guten Willen vorzutäuschen, dem Gesetzgeber genauso | |
wie den Anwohnern. Takahashi und Mayuzumi werden zurück ins Dorf geschickt, | |
sie sollen ausgerechnet Takumi dafür anheuern, auf dem Campingplatz die | |
Hausmeisterrolle zu übernehmen. Die Einbindung werde die Akzeptanz des | |
Projekts befördern, verspricht man sich. | |
Wer aufmerksam genug schaut, erkennt immer deutlicher, dass es sich hier um | |
einen Invasionsfilm handelt. An die Stelle von Aliens tritt die krakenhafte | |
Anonymität eines Unternehmens, das aus einem Grundstückskauf Wert schlagen | |
will. Takahashi und Mayuzumi sind die blassen Erfüllungsgehilfen, die | |
selbst nicht richtig wissen, in wessen Auftrag sie handeln. Und Takumi | |
schlüpft in die Rolle des letzten Actionhelden, der sich stoisch den | |
Verführungen widersetzt. | |
Wo Hamaguchi in „Drive My Car“ seine Figuren noch voller Empathie | |
begleitete, auch wenn ihre Intentionen manchmal verdeckt bleiben, | |
unterliegt in „Evil Does Not Exist“ allen Beobachtungen eine gewisse | |
Skepsis. | |
Ist Takumi tatsächlich ein Held oder ist er ein trockener Alkoholiker mit | |
Neigung zu Gewaltausbrüchen? Ist Takashi ein Idiot, weil er plötzlich | |
meint, sein Leben ändern und selbst ins Dorf ziehen zu wollen? Und ist | |
seine Erfahrung beim Holzhacken – „So gut habe ich mich lange nicht mehr | |
gefühlt!“ – authentisch oder doch nur das Gelaber eines lächerlichen | |
Städters? | |
20 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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