# taz.de -- Preisverleihung Filmfestspiele Venedig: Ein Herz für Monster | |
> Bei den 80. Filmfestspielen von Venedig gewinnt der Favorit „Poor Things“ | |
> von Yorgos Lanthimos in einem Wettbewerb mit kaum ernsthafter Konkurrenz. | |
Bild: Ein Regisseur mit Mut zum ungewohnten Ansatz: Yorgos Lanthimos gewinnt de… | |
War früher doch alles besser? Am Rand der [1][80. Ausgabe der | |
internationalen Filmfestspiele] von Venedig gab es viele Klagen über die | |
Auswahl dieses Jahres. Allen voran im Wettbewerb, doch ebenso erweitert auf | |
das gesamte Programm. Euphorie kam zwar gelegentlich bei dem einen oder | |
anderen Film auf, im Großen und Ganzen aber bleibt der Eindruck eines | |
Jahrgangs, der unter den vertretenen Regisseuren reichlich Prominenz | |
auffuhr, ohne dass diese Höchstleistungen erkennen ließen. | |
Daraus einen Beleg für den Niedergang des Kinos als Kunstform ableiten zu | |
wollen, ist ein wohlfeiler Befund. Doch oft erschienen bei den Filmen | |
dieser „Mostra“ die Drehbücher arg routiniert und die Regie wenig bemüht, | |
sie mit riskanten Einfällen in Überraschendes zu verwandeln. Oder war die | |
Lage vor 50 oder 25 Jahren auch nicht viel anders? | |
Ein Regisseur mit Mut zum ungewohnten Ansatz war es am Ende, den die | |
Wettbewerbsjury unter Vorsitz des Regisseurs Damien Chazelle mit dem | |
Goldenen Löwen auszeichnete. Der Grieche [2][Yorgos Lanthimos hatte mit | |
„Poor Things“] schon früh die Mehrheit der Kritik hinter sich vereint. Sein | |
zwischen Schwarz-Weiß und Farbe wechselnder surrealer Beitrag zum | |
Frankenstein-Vermächtnis mit einer Protagonistin als Monster, deren | |
Entwicklung man als feministischen Dreh des Themas verstehen kann, hat | |
schrecklich schöne Figuren. Auf ganz unterschiedliche Weise faszinierend | |
verkörpert von Emma Stone als „Monster“, Willem Dafoe als ihrem Schöpfer | |
und Mark Ruffalo als ihrem windigen Liebhaber. | |
Lanthimos wirft einen in eine Fantasiewelt voll wunderlich proportionierter | |
Bauten und Räume, schickt seine Hauptfigur auf eine Entdeckungsreise, auf | |
der sie sich siegreich gegen die berechenbaren Erwartungen der Männer | |
durchsetzt, mit konsequent unberechenbarem Verhalten. Dass es gerade ihre | |
Naivität ist, die sie so unbefangen auftreten und handeln lässt, ist der | |
einzige Schwachpunkt dieser Emanzipationserzählung. Zumindest scheinen noch | |
andere Wege zur Emanzipation möglich. | |
## Jurypreis für einen weiteren eigenwilligen Regisseur | |
Mit dem Großen Jurypreis für [3][„Evil Does Not Exist“ des Japaners Ryūs… | |
Hamaguchi] erhielt ein weiterer eigenwilliger Regisseur verdient einen der | |
Hauptpreise. Sein Spielfilm über eine dörfliche Gemeinschaft und ihr | |
Bemühen, möglichst respektvoll mit der umgebenden Natur umzugehen, beginnt | |
realistisch-nüchtern, mischt nach und nach Züge einer Satire auf die | |
Strategien von Investoren und die von ihnen beschäftigten Agenturen | |
darunter, um in ein rätselhaftes Finale zu münden, das dem Publikum die | |
Auflösung der Handlung vorenthält. Ohne dass man davon enttäuscht sein | |
muss. | |
Zum Gelingen trägt hat auch die instrumentale Filmmusik der | |
Singer-Songwriterin Eiko Ishibashi bei, die fein zwischen friedfertig und | |
mysteriös changiert. | |
Teile der Preise gingen an engagiertes Kino, so der Spezialpreis für die | |
Filmemacherin [4][Agnieszka Holland und ihr in Schwarz-Weiß gehaltenes | |
Drama über die polnisch-belarussische Migrationskrise, „Green Border“], das | |
aus verschiedenen Perspektiven die Lage der an der Grenze der beiden | |
Staaten festsitzenden geflüchteten Menschen schildert. Man hätte ihr ebenso | |
den Regiepreis zugestehen können, zeichnet sie das Bild der verfahrenen | |
politischen Situation doch mit ebenso viel Unerbittlichkeit wie Umsicht. | |
Den Regiepreis erhielt stattdessen ihr italienischer Kollege Matteo | |
Garrone. Mit „Io capitano“ hat er eine Art Gegenstück zu Hollands Beitrag | |
gedreht. Seine Protagonisten, die Jugendlichen Seydou und Moussa, machen | |
sich aus dem Senegal auf den Weg durch die Wüste, um über das Mittelmeer | |
nach Italien zu gelangen. Die beiden Laiendarsteller Seydou Sarr und | |
Moustapha Fall übernehmen diese Rollen mit überzeugenden Darbietungen, Sarr | |
wurde mit dem Marcello-Mastroianni-Preis für junge Schauspieler gewürdigt. | |
Man hätte ihnen bloß etwas mehr Gelegenheit gewünscht, um ihre Figuren mit | |
noch mehr Eigenleben versehen zu können. | |
Wie Holland hat Garrone den richtigen Stoff gewählt, um ungelösten | |
Missständen den gebührenden Raum auf der Leinwand zu bieten. Garrone, der | |
zum Teil in Marokko gedreht hat, gedachte in seiner Dankesrede zudem der | |
Opfer des Erdbebens am Freitag. | |
## Darstellerpreise für Peter Sarsgaard und Cailee Spaeny | |
Aktuelle Dinge ganz anderer Art verhandelt der mexikanische Regisseur | |
Michel Franco in seinem Drama „Memory“. Die Hauptdarsteller Jessica | |
Chastain und Peter Sarsgaard begegnen sich darin als zwei gegensätzlich | |
angelegte Figuren, die auf ihre Weise gleichermaßen mit dem Thema | |
Erinnerung konfrontiert sind. Sarsgaard spielt einen Mann, der an Demenz | |
erkrankt ist, Chastain eine Frau, die über frühen sexuellen Missbrauch als | |
Jugendliche zur Alkoholsüchtigen wurde. | |
Sarsgaards präzise zurückgenommenes Spiel macht sein Leiden schmerzhaft | |
greifbar. Völlig korrekt der Darstellerpreis Coppa Volpi für ihn, ein | |
weiterer Preis für Michel Franco, der die Erzählung meisterhaft lange in | |
der Schwebe hält, wäre zusätzlich gerechtfertigt gewesen. | |
Sarsgaards US-amerikanische Kollegin Cailee Spaeny galt schon im Vorfeld | |
als eine mögliche Kandidatin für den anderen Darstellerpreis. Ihre | |
Titelrolle in [5][Sofia Coppolas Biopic „Priscilla“] über Priscilla | |
Presleys Ehe mit Elvis, die sie mit einer austarierten Mischung aus | |
Bescheidenheit und Entschlossenheit interpretiert, wurde erwartungsgemäß zu | |
Recht ausgezeichnet. | |
Außerhalb des Wettbewerbs gab es verstreut Anlass zur Freude, vorneweg | |
[6][Quentin Dupieux’ „Daaaaaali!“], einer elektrisierend albernen Hommage | |
an Salvador Dalí, den Star des Surrealismus. | |
## „Aggro Dr1ft“ hätte auch in den Wettbewerb gehen können | |
Wie Dupieux’ Film außer Konkurrenz lief einer der seltsamsten Filme des | |
Jahrgangs, „Aggro Dr1ft“ von Harmony Korine. Seine in Infrarottechnik | |
gedrehte Farborgie aus Rot und Gelb spielt in einer enthemmt der Gewalt | |
frönenden Welt, in der Dämonen über die Menschen wachen, unterlegt mit | |
dröhnenden Synthesizerpulsen. Diesen kontrovers aufgenommenen Beitrag, der | |
einiges zum Zustand der Welt zu sagen hat, hätte man durchaus im Wettbewerb | |
riskieren können. | |
Eine gelungene Simulation eines Dokumentarfilms präsentiert der Regisseur | |
Robert Kolodny mit „The Featherweight“ in der Nebenreihe „Orizzonti“. | |
Angelehnt an die Biografie des Federgewicht-Boxchampions Willie Pep, | |
erweckt der Film mit seinen dezent verrauschten Bildern den Eindruck, ein | |
Filmteam begleite in den sechziger Jahren den echten Willie Pep bei seinen | |
Bemühungen um ein Comeback. Die authentische Wirkung erzielt der Film | |
zugleich durch seinen passgenau besetzten Hauptdarsteller James Madio. | |
Eine erfreulich energische Komödie stellte die kanadische Regisseurin | |
Ariane Louis-Seize mit „Vampire humaniste cherche suicidaire consentant“, | |
dem Film mit dem längsten Titel im Programm, schließlich in der Reihe | |
„Giornate degli autori“ vor. Die titelgebende humanistische Vampirin namens | |
Sasha kann zwar Blut sehen, jedoch keine Gewalt gegen Menschen, was für | |
die Heranwachsende zum Überlebensproblem zu werden droht. Bis sie den | |
lebensmüden Jugendlichen Paul trifft, der sich ihr anbietet. | |
Gutes Tempo, treffende Situationskomik und ein Drehbuch, das den Rahmen | |
dieser speziellen Coming-of-Age-Romanze nie aus dem Blick verliert, kamen | |
dabei so glücklich zusammen, dass sie am Ende mit dem Hauptpreis der Reihe | |
prämiert wurde. Für das Kino besteht Aussicht auf mehr Leben, wie es | |
scheint. | |
10 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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