# taz.de -- Filmfestspiele von Venedig: Menschen als Waffen | |
> Lidokino 8: Bei den Filmfestspielen von Venedig ging es um die Realität | |
> an der polnisch-belarussischen Grenze und einen Philosophiedozenten als | |
> Auftragsmörder. | |
Bild: Agnieszka Holland thematisiert Menschenrechtsverletzungen aus migrantisch… | |
Auf dem Lido blieb die Wirklichkeit im Wettbewerb bisher etwas auf Abstand. | |
Sei es im direkten Sinn, dass die Geschichten mit fiktiven Sujets spielen, | |
die wie [1][„Poor Things“ von Yorgos Lanthimos] oder [2][„La Bête“ von | |
Bertrand Bonello] im Fantastischen zu Hause sind, oder zumindest so, dass | |
die Realität zeitlich entfernt liegt, in historischen Stoffen wie | |
„Bastarden“ von Nikolaj Arcel, der ein Schicksal aus dem 19. Jahrhundert | |
erzählt. | |
Etwas näher an der Gegenwart liegen die Biopics „Maestro“ von Bradlee | |
Cooper über den Dirigenten Leonard Bernstein und [3][Sofia Coppolas | |
„Priscilla“]. | |
In der aktuellen Gegenwart, beginnend im Jahr 2021, hat die polnische | |
Regisseurin Agnieszka Holland ihren Spielfilm „Zielona Granica“ (Grüne | |
Grenze) angesiedelt. Die Grenze des Titels ist die dem Wort nach eigentlich | |
unscharfe Demarkationslinie zwischen Polen und Belarus, wo bis heute | |
Migranten festsitzen. | |
Belarussiche Grenzsoldaten eskortieren die ins eigene Land gelockten | |
Flüchtlinge über die Grenze nach Polen, wo die Angekommen von polnischen | |
Grenzsoldaten wieder über die Grenze zurückgebracht werden. Inzwischen hat | |
Polen einen Zaun errichtet. | |
## Auf der anderen Seite | |
Den Konflikt, der sich jüngst weiter zugespitzt hat, schildert Holland am | |
Beispiel einer kurdischen Familie aus Syrien, die über die Türkei nach | |
Belarus fliegt, von wo sie weiter nach Schweden zu einem Verwandten wollen. | |
Im Flieger reichen die Stewardessen den Frauen noch Rosen und heißen die | |
Passagiere in Belarus willkommen. | |
Dann geht es weiter im Transporter an die Grenze. Bis sie auf der anderen | |
Seite aufgegriffen werden. Es braucht einige Zeit, bis ihnen klar wird, | |
dass die versprochene Weiterreise nicht möglich ist. | |
Holland zeigt die Menschenrechtsverletzungen an der Grenze in aller | |
Drastik, lässt schwangere Frauen aus Transportern werfen, sodass sie ihr | |
Ungeborenes verlieren, zeigt Männer, die verprügelt werden, weil sie gegen | |
die Behandlung durch die Grenzer protestieren. Die migrantische Perspektive | |
verbindet Holland mit dem Alltag eines polnischen Grenzsoldaten, der zu | |
Hause selbst eine schwangere Frau hat. | |
Von einem vorgesetzten bekommt er derweil eingehämmert, dass die Personen, | |
die über die Grenze fliehen, keine Menschen seien, sondern „lebende | |
Geschosse“, von Belarus als hybride Kriegsführung eingesetzt. Dem gegenüber | |
steht die Arbeit einer Gruppe von Flüchtlingshelfern, die die Menschen mit | |
Lebensmitteln, Kleidung und Arzneimitteln versorgen. | |
## Fortbestehendes Unrecht | |
Gefilmt ist [4][„Zielona Granica“] in nüchternem Schwarzweiß, wobei sich | |
Holland bemüht, das Schwarzweiß in ihrer Anklage gegen dieses bis heute | |
fortbestehende Unrecht nicht überhandnehmen zu lassen. So bekommt der | |
Grenzsoldat irgendwann Gewissensbisse und beginnt, bei Kontrollen von | |
Transportern nicht mehr so genau nachzusehen, ob sich hinter der Ladung im | |
Frachtraum womöglich Menschen verstecken. | |
Dem Ernst von „Zielona Granica“ steht ein anderer auf Tatsachen beruhender | |
Stoff entgegen, den der US-amerikanische Regisseur Richard Linklater in | |
„Hit Man“ außer Konkurrenz zu einer leichten, doch nicht leichtgewichtigen | |
Krimikomödie verarbeitet hat. Sein Pro-tagonist Gary Johnson (Glen | |
Campbell) lehrt im Hauptberuf Philosophie an der Universität von New | |
Orleans. | |
Jenseits des Campus hilft er der Polizei bei Ermittlungen, und zwar als | |
„hit man“. Dieser vermeintliche Berufskiller führt Gespräche mit | |
potenziellen Kunden, bis zu dem Punkt, an dem diese ihren Auftrag erteilen | |
und ihm Geld überreichen. Von da ab übernehmen die Kollegen. | |
Die Komplikationen, die sich ergeben, als Gary einer nicht überzeugt | |
wirkenden Klientin (Adria Arjona) vom Geschäft abrät und sich in sie | |
verliebt, führt Linklater elegant an einen absurd komischen Punkt, | |
begleitet von hellsichtigen Reflexionen über menschliches Verhalten. Und | |
das durchaus lehrreich. Merke: „All pie is good pie.“ | |
7 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Filmfestspiele-von-Venedig/!5954916 | |
[2] /Filmfestspiele-von-Venedig/!5955099 | |
[3] /Filmfestspiele-von-Venedig/!5955250 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=LMn_DSksa0w | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Venedig | |
Filmfestspiele | |
Film | |
Kolumne Lidokino | |
Filmfestival | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
Waffen | |
Surrealismus | |
Kolumne Lidokino | |
Französischer Film | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Preisverleihung Filmfestspiele Venedig: Ein Herz für Monster | |
Bei den 80. Filmfestspielen von Venedig gewinnt der Favorit „Poor Things“ | |
von Yorgos Lanthimos in einem Wettbewerb mit kaum ernsthafter Konkurrenz. | |
Kinder fragen, die taz antwortet: Warum gibt es Waffen? | |
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche | |
beantworten wir eine. Diese Frage kommt von Bonny, 9 Jahre alt. | |
Internationale Filmfestspiele Venedig: Die eigene Identität tauschen | |
Lidokino 10: Lachen mit Dalí und Franz Rogowski als Jenischer. Das Komische | |
läuft bei den Filmfestspielen von Venedig hauptsächlich außer Konkurrenz. | |
Filmfestspiele von Venedig: Glückstreffer und Beutefrauen | |
Lidokino 7: Bei den Filmfestspielen macht Woody Allen mit seinem neuen Film | |
eine gute Figur. Sofia Coppola zeigt das Leiden von Priscilla Presley. | |
Filmfestspiele von Venedig: Den Kampf gegen die KI verlieren | |
Lidokino 6: Bei den Filmfestspielen von Venedig werden die Filme monströser | |
und rätselhafter. Gut, dass die Geschichten außer Kontrolle geraten. | |
Filmfestspiele von Venedig: Judo gegen den Feind | |
Lidokino 5: Eine „israelisch-iranische“ Zusammenarbeit und ein erster | |
Höhepunkt bei den Filmfestspielen von Venedig. |