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# taz.de -- „Auf trockenen Gräsern“ im Kino: Die Sympathie wechselt die Se…
> Ein Intellektueller landet in der anatolischen Provinz. Als eine Frau
> seine Arroganz durchschaut, wird er immer mehr zum dubiosen Antihelden.
Bild: Die winterliche Landschaft gehört zu Nuri Bilge Ceylans „slow cinema“
Nuri Bilge Ceylan, 1959 in Istanbul geboren, gehört zu jener Sorte
europäischer Autorenfilmer, die es nicht mehr so oft gibt und die nicht
wirklich nachzuwachsen scheint. Will heißen: einer, der scheinbar unbeirrt
seine Filme macht, alle zwei, drei Jahre einen, wovon jeder ganz eigen ist
und zugleich unverkennbar seine Handschrift trägt.
Meist sind sie lang, Ceylans Filme, was ja an sich im heutigen Kinokontext
gar nichts Besonderes ist, wo selbst kommerziellste Filme wie die
Superhelden-Epen darauf setzen, ihre Fans mit einer Laufzeit von über
zweieinhalb Stunden zu erfreuen. Hinzu kommen bei Ceylan andere
vermeintlich typische Autorenkino-Kennzeichen wie lange Einstellungen,
ausführliche Dialoge und kontemplative Landschaftsaufnahmen.
Aber all das sind im Grunde nur Äußerlichkeiten, das echte
Nuri-Bilge-Ceylan-Feeling entsteht im Zusammenspiel dieser formalen Mittel
des „slow cinema“ mit etwas, das schwerer zu erfassen ist. Grob gesagt, ist
die Wirkung von Ceylan-Filmen eigentlich dem näher, wie man eine bestimmte
Sorte von Literatur erlebt: Während man auf einer Ebene dem Plot folgt, den
einzelnen Figuren dabei zuhört, wie sie ihre Konflikte darlegen, offenbart
der Film ein Nachdenken über noch ganz andere, sagen wir mal aus Mangel
eines besseren Wortes: größere Dinge.
Tatsächlich hat Ceylans neuer Film „Auf trockenen Gräsern“ auf den ersten
Blick mehr als die bloße Autorenhandschrift mit [1][„Winterschlaf“
gemeinsam, dem Film, mit dem Ceylan nach einigen Anläufen 2014 endlich die
Goldene Palme beim Filmfestival von Cannes] gewinnen konnte. Da ist die
Drei-Stunden-plus-Laufzeit, da ist das winterlich verschneite Anatolien, da
sind die ausgiebigen, stimmungsvoll mäandernden Gespräche zwischen
einzelnen Figuren.
## Die Frau, die ihn durchschaut
Erneut steht im Zentrum ein kunstsinniger Intellektueller, der sich seiner
Provinzumgebung überlegen fühlt. Und wieder gibt es als Nebenfigur eine
Frau, die ihn durchschaut. Aber deutlicher als in all seinen bisherigen
Filmen stellt sich bei „Auf trockenen Gräsern“ heraus, dass Ceylan ein
Meister der Überraschungen sein kann. So gemächlich das Erzähltempo, so
unerwartet ist nämlich das, was jeweils als Nächstes passiert.
Samet (Deniz Celiloğlu) sitzt als Lehrer das Pflichtjahr, das Teil der
staatlichen Ausbildung ist, im Hinterland ab. Die ersten Szenen zeigen ihn
als jemand, der sich gut eingelebt hat, kumpelhaften Umgang mit den
verschiedensten Dorfbewohnern pflegt und sich bei einigen seiner
Schüler:innen, besonders einer aufgeweckten 13-Jährigen namens Sevim (Ece
Bağcı), großer Beliebtheit erfreut.
Aber hinter dieser Fassade der Leutseligkeit wird bald auch vieles andere
sichtbar, allerdings auf weniger direkte Weise: manchmal als Nachhall einer
eben noch lebendigen Szene, die Ceylan länger stehen lässt, um so den
gegenläufigen Stimmungen und den zwiespältigen Gefühlen Raum zu geben.
So bekommt man von Samet mit der Zeit mit, dass er es im Grunde für ein
müßiges Unterfangen hält, die Dorfschüler:innen in Kunst zu
unterrichten, sowohl für sich, der sich hier fehl am Platz fühlt, als auch
für seine Schutzbefohlenen, deren wahre Lebensinteressen und -chancen er in
einer charakteristischen Mischung aus Realismus und Abschätzigkeit ganz
woanders verortet.
Samet sehnt die Versetzung in urbanere Gefilde herbei, am besten natürlich
nach Istanbul, wo man seinen ästhetischen Sensibilitäten mehr entgegenkäme,
so stellt er sich das zumindest vor.
Das Gefühl, das sein Aufenthalt in Wahrheit einem Exil gleichkommt, wird
noch verstärkt durch das Provisorische seiner Wohnsituation. Er teilt sich
ein kleines Häuschen mit dem etwas jüngeren und etwas simpler gestrickten
Kenan (Musab Ekici), der ebenfalls Lehrer im Pflichtjahr ist. Ihre
Männer-WG zeichnet jene gut funktionierende Schlechtgelauntheit aus, die
Basis für eine Sitcom sein könnte.
Auch Kenan gegenüber legt Samet jene Spur von Arroganz an den Tag, die
genug intellektuelles Selbstbewusstsein demonstriert, ohne dass er dabei
zur Gänze zum Unsympathen wird. Doch gerade wenn man denkt, ausreichend
über Samet Bescheid zu wissen, dreht sich noch mal alles.
## Sie steht zu ihren Überzeugungen
Zum einen wäre da die Geschichte mit Sevim, mit deren Verliebtheit er so
unangemessen umgeht, dass es ihm wenig später als regelrechter Skandal um
die Ohren fliegt. Und zum anderen ist da die Begegnung mit Nuray (Merve
Dizdar), einer Lehrerkollegin, die in der nächsten größeren Stadt arbeitet.
Das Treffen kommt zustande, da Samet mit seinen über 30 Jahren offenbar
längst hätte heiraten sollen und Verwandte ihm Nuray als potenzielle
Kandidatin vorgeschlagen haben.
Die beiden treffen sich in einem Café in der Stadt und es wird schnell
klar, dass sie eigentlich nicht wirklich Samets Fall ist. Nuray hat bei
einem von Extremisten verübten Attentat ein Bein verloren, aber im
Unterschied zu Samet, der sich die Haltung eines abgeklärten Zynikers
angelegt hat, hat sie ihre linksengagierten Überzeugungen nicht aufgegeben.
Konfrontiert mit Nurays von echten Erfahrungen gesättigter Nachdenklichkeit
wirkt Samets habituelle Kulturkritik plötzlich oberflächlich und angelesen.
Zwischen den beiden funkt es nicht. Weshalb Samet dann relativ arglos Nuray
auch dem sehr interessierten Kenan vorstellt. Aber als er wenig später
mitbekommt, dass diese beiden, von ihm gerade noch gleichermaßen
Geringgeschätzten, Sympathien füreinander entwickeln, ändern sich seine
Gefühle schlagartig.
Ob aus Konkurrenz zu Kenan oder aus wirklich erwachenden Gefühlen für Nuray
scheint ihm selbst nicht ganz klar, jedenfalls begibt Samet sich aus seiner
Trägheit heraus und bemüht sich, doch noch bei der jungen Frau einen Stich
zu machen.
Nicht nur sein Verhalten in dieser Dreiecksgeschichte macht aus dem anfangs
sympathischen Grantler einen zunehmend dubios agierenden Antihelden. In der
Schule eskaliert derweil der Ärger über sein Verhalten gegenüber Sevim. Für
beide Handlungsstränge findet Ceylan Wendungen, die die eingefahrenen
Perspektiven immer wieder brechen.
Unter anderem dadurch, dass Nuray in der Mitte des Films gleichsam aus der
Rolle, die ihr eigentlich zugewiesen scheint, der der „Gespielin“ für zwei
männliche Protagonisten, heraustritt und selbst zur Hauptdarstellerin des
Films wird. Sie hat ihre eigenen Anliegen, ihre eigenen Interessen und
Motive – von Kenan und Samet jedenfalls lässt sie sich nicht zum passiven
Objekt der Begierde machen.
Ceylan inszeniert dieses Heraustreten ohne jeden Bombast, mit einer
Natürlichkeit, die das Kinopublikum gewissermaßen ebenso für seine
Vorurteile beschämt wie Samet und Kenan, die gerade noch dachten, mit Nuray
„leichtes Spiel“ zu haben. Merve Dizdar stattet ihre Figur dabei mit einem
wohl kalkulierten Charisma aus, das auch die [2][Jury auf dem Filmfestival
von Cannes im vergangenen Jahr nicht übersehen konnte, wo Dizdar als erste
türkische Darstellerin die Palme als beste Schauspielerin erhielt].
In dieser verschlungenen Plotentwicklung, in der die Sympathien die Seiten
wechseln und Nebencharaktere zu Helden werden, erinnert Ceylan ein weiteres
Mal an die Dramaturgie von Tschechow-Stücken. Wie diese endet auch „Auf
trockenen Gräsern“ nicht mit einem großen, tragischen Knall, sondern mit
Melancholie, aber auch einem leisen Hoffen darauf, dass all das Scheitern
zuletzt nicht ganz umsonst war.
15 May 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
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