# taz.de -- Ceylans Film „The Wild Pear Tree“: Der Brunnen will kein Wasser… | |
> Keine Angst vor Meisterwerken: Nuri Bilge Ceylans vielstimmig und | |
> multiperspektivisch inszenierter Film „The Wild Pear Tree“. | |
Bild: Ein Bild von fast schon Bruegel'scher Größe: Der Held ruht auf dem Weg … | |
Die Filme von Nuri Bilge Ceylan offenbaren das Dilemma, in dem die | |
Filmkritikerin steckt, aufs Schmerzlichste: Je mehr man sie lobt, desto | |
stärker schreckt man den gewöhnlichen Kinogeher ab. Denn wurde das Label | |
„Slow Cinema“, unter dem man Ceylans Filme oft anpreist, nicht eigens dazu | |
erfunden, jeden voreiligen Enthusiasmus schon vorab zu dämpfen? | |
Und wenn man dann noch erwähnt, dass der Film drei Stunden dauert, im | |
fernen Anatolien spielt, wenig Plot enthält, dafür aber jede Menge Gerede, | |
wenn auch auf Türkisch mit Untertiteln – nun, dann muss man sich seine | |
Mitkinogänger schon sehr gut ausgesucht haben, um nicht das Lächeln auf | |
ihren Gesichtern erfrieren zu sehen. Da hilft auch kein Hinweis auf | |
„grandiose Einstellungen“ und „geniale Kameraarbeit“. | |
In solchen Augenblicken würde ich ja am liebsten die Coen-Brüder | |
vorschicken, besser gesagt deren Kurzfilm „World Cinema“, den sie 2007 als | |
Beitrag zum 60-jährigen Jubiläum des Filmfestivals von Cannes drehten. | |
Darin steht am helllichten Nachmittag ein von Josh Brolin gespielter Cowboy | |
namens Dan in einem abgelegenen Arthouse-Kino und kann sich nicht | |
entschieden zwischen Jean Renoirs Film „La règle du jeu“ („Die Spielrege… | |
und Nuri Bilge Ceylans „Climates“ („Jahreszeiten“). | |
Er fragt den von Grant Heslov gespielten Filmexperten an der Kasse um Rat, | |
der ihm routiniert Auskunft gibt: Das eine sei Renoirs vielleicht größter | |
Film, sein Chef d’Œuvre, dazu eine „makellose neue Kopie“; das andere ein | |
Film über „Liebende, Entfremdung, Verflossene, Menschen mit Fehlern, die | |
Schwierigkeit, zu lieben, und so weiter“. | |
## Gibt es „etwas Nacktes“ zu sehen? | |
Auf seine Rückfrage, ob es „was Nacktes“ darin zu sehen gebe, erntet Dan | |
einen streng-stechenden Blick vom Kassierer mit dem Zugeständnis | |
„teilweise“ – und entscheidet sich dann für Ceylan. In der nächsten Sze… | |
sieht man ihn gedankenvoll-zufrieden aus dem Kino kommen; dem inzwischen | |
nach Hause gegangenen Kassierer hinterlässt er die Nachricht, dass er für | |
den Tipp dankt. „Tell him, I enjoyed the hell out of ‚Climates‘. „ | |
Natürlich ist es grotesk, anzunehmen ein „Cowboy Dan“ würde sich an Ceyla… | |
Film über „Entfremdung und die Schwierigkeiten der Liebe“ erfreuen. Es ist | |
ein Coen-Brüder-Joke. Aber als solcher öffnet er eben auch den gedanklichen | |
Raum. Denn warum eigentlich nicht? Tatsächlich ist das Ceylan’sche Kino | |
etwas für jedermann. Weder erfordert es bestimmte Vorkenntnisse über | |
Kunstgeschichte oder das Filmemachen noch irgendein andere Sorte von | |
Insiderwissen. | |
Es braucht nur die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, mit aufmerksamem, | |
offenem Geist und jener Toleranz, wie man sie etwa als Teenager gegenüber | |
den dicken Romanen des 19. Jahrhunderts aufbrachte: rauschhaftes Lesen, das | |
willig in Kauf nimmt, dass man nicht alles versteht. | |
Überhaupt haben Ceylans Filme einiges etwa mit Dostojewskis Romanen gemein. | |
Auch Ceylan inszeniert vielstimmig und multiperspektivisch, mit einem | |
gewissen Hang zum Exzess, bei dem unter der „Old School“-Attitüde der | |
Gewissensfragen ein quasi popkultureller Rhythmus pulsiert. | |
## Der Beitrag im Wettbewerb 2018 in Cannes | |
„The Wild Pear Tree“, Ceylans bislang letzter Film, mit dem er allerdings | |
schon 2018 im [1][Wettbewerb von Cannes] vertreten war, ist mal wieder ein | |
echter Dialog-Exzess. In den gut 180 Minuten des Films wird geredet, was | |
das Zeug hält. Das Sprechen scheint Sinans (Doğu Demirkol) großes Talent zu | |
sein, wobei er weniger große Reden schwingt, als vielmehr seine Gegenüber | |
durch leisen Spott und Insinuationen in Verlegenheit bringt. | |
Sei es der eigene Vater oder der Bürgermeister der Kleinstadt, eine | |
einstige Jugendliebe, der ungebildete Bauunternehmer von nebenan oder gar | |
der neue Imam – Sinan versteht es, sie alle zumindest ein bisschen zu | |
ärgern und in Selbstzweifel zu treiben. Dabei ist er es, der am meisten mit | |
seinem Schicksal hadert. | |
Der Film beginnt damit, dass Sinan am Ende seines Studiums in die | |
Kleinstadt, in der er aufwuchs, zurückkommt. Es ist keine weite Reise: | |
Studiert hat er in Çanakkale, der Stadt an den Dardanellen, die für zwei | |
einschneidende Punkte der Geschichte steht (und in der Ceylan selbst einige | |
Jahre seiner Kindheit verbracht hat). Einerseits befindet sich hier das | |
Museum mit den Ausgrabungen aus Troja, andererseits liegt mit der Halbinsel | |
Gallipoli die Erinnerungsstätte für eine der opferreichsten Schlachten des | |
Ersten Weltkriegs in der Nähe. | |
Die Kleinstadt Çan ist eine Busreise von neunzig Minuten östlich davon | |
entfernt. Sinan reist im Film zwischen der Hafenstadt Çanakkale, der höher | |
gelegenen Kleinstadt Çan und dem Dorf, das noch weiter in den Bergen liegt | |
und in dem seine Großeltern noch ihre ärmlich-bäuerlichen Häuschen und | |
Äcker haben, hin und her. | |
## Die ungleichen Lebensverhältnisse | |
Von der schmucken Hafenpromenade mit dem nachgebauten Trojanischen Pferd | |
über das traditionelle, nur von Männern besuchte Teehaus der Provinzstadt | |
bis zu den steilen, kargen Wiesen des alten Dorfes bildet Ceylan in „The | |
Wild Pear Tree“ auch die ungleichen Lebensverhältnisse und -geschichten der | |
unterschiedlichen Generationen in der Türkei ab. Sie liegen dem Film wie | |
eine Schichtung zugrunde und verleihen ihm Struktur, wo Sinans Hin und Her | |
etwas zunehmend Orientierungsloses annimmt. | |
Denn Sinan weiß nicht, wie es weitergehen soll. Soll er Lehrer werden, wie | |
es sein Studium eigentlich diktiert? Soll er es hinnehmen, zunächst | |
irgendwohin aufs Land verschickt zu werden, wie man es in der Türkei nach | |
einem Bonussystem ähnlich wie dem in Frankreich macht? Vom „Osten“ ist | |
immer wieder die Rede, als wäre das ein anderes Land, eines in dem | |
bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen und Lehrer aus dem Westen nicht | |
wirklich willkommen sind. | |
Sein Vater ist Lehrer und hat dort seine ersten Berufsjahre verbracht, aber | |
Sinan kann in ihm kein Vorbild sehen, ganz im Gegenteil. Stattdessen träumt | |
Sinan von einer Schriftstellerkarriere. Er hat sogar bereits ein Buch | |
geschrieben, mit ebenjenem Titel, „The Wild Pear Tree“. Sinans Bemühungen, | |
das nötige Geld für seine Veröffentlichung aufzutreiben, bilden den roten | |
Faden des Films. | |
Wobei Sinan allerdings alles andere als zielgerichtet vorgeht. Vielmehr | |
nehmen seine diesbezüglichen Unterredungen mit dem Bürgermeister, dem | |
Bauunternehmer, dem Schriftstellervorbild, dem Imam etc. wie erwähnt immer | |
eine leicht unerquickliche Wendung. Wie viele Helden bei Ceylan ist auch | |
Sinan eigentlich keine sehr sympathische Gestalt. Das verächtliche Lächeln, | |
mit dem er es sich mit seinen Gesprächspartnern immer wieder verdirbt, | |
fällt ihm fast zu leicht. | |
## Der Konflikt zwischen Vater und Sohn | |
Ceylan setzt Sinans Begegnungen und Irrungen auf eine Weise in Szene, die | |
bei allem Mäandern doch eine große Spannung aufrechterhält. Nach und nach | |
erst nämlich schält sich der eigentliche Konflikt heraus. Es ist nicht der | |
zwischen dem Möchtegernschriftsteller mit der rebellischen Haltung und den | |
zurückgebliebenen, eitlen oder oberflächlichen Geistern der Provinz, es | |
ist das Verhältnis von Vater und Sohn. Ceylan verleiht ihm hier kein | |
einfaches Etikett, sondern entfaltet es als schwierige, zweideutige, | |
faszinierende Beziehung, wie man sie so nuancenreich selten sieht. | |
Murat Cemcir spielt diesen Vater mit großartiger Sensitivität und ganz | |
gegen das Klischee des türkischen Patriarchen. Ein gut aussehender, seine | |
Sorgen meist weglachender Mann, der den Anfeindungen des Sohnes eher | |
ausweicht, als dass er sich ihnen stellt. Sinan wirft ihm vor, sich durch | |
Spielsucht und Schulden in der ganzen Stadt unmöglich gemacht zu haben. Und | |
dann gibt es noch diese Geschichte mit dem Brunnen, den der Vater auf dem | |
Grundstück des Großvaters seit Jahren gräbt. | |
Auch dort auf dem Dorf halten ihn viele für gescheitert, wenn nicht gar für | |
verrückt. Aber dann, gerade als der Vater seine Niederlage eingesteht, | |
springt ausgerechnet Sinan in die Bresche. Es ein Moment von großer | |
emotionaler Wucht in einem Film der leisen und versteckten Gefühle. | |
„Verdammt viel Wahres drin“, so sagte Cowboy Dan über „Jahreszeiten“ im | |
Coen-Kurzfilm. Für „The Wild Pear Tree“ gilt dasselbe. | |
19 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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