| # taz.de -- Erinnerungsfilm von Ulrike Ottinger: Sich treiben lassen in der Sta… | |
| > Eine Bildungsreise nach Paris, natürlich von Chansons begleitet: Die | |
| > Filmemacherin Ulrike Ottinger stöbert in „Paris Calligrammes“ in Archiven | |
| Bild: Mit diesen Straßenkehrern beginnt und endet der Film „Paris Calligramm… | |
| Paris erwacht, „Paris s’éveille“. Dieser Chanson-Klassiker von Jacques | |
| Dutronc begleitet den Zeitreisenden gleich zu Anfang in das Paris der | |
| 1960er Jahre in Ulrike Ottingers Film „Paris Calligrammes“. Paris erwacht, | |
| die Rinnsteine werden geflutet, drei Straßenkehrer in leuchtenden Westen | |
| und mit grünen Besen fegen das Pflaster. | |
| Sie stammen aus der Gegenwart, aber schnell wird das Filmbild wieder | |
| schwarzweiß, Archivbilder aus Paris, Straßencafés und Händler, geschnitten | |
| im Rhythmus des Chanson, ein sanftes Gleiten in die Vergangenheit. | |
| [1][Ulrike Ottinger erzählt.] Nein, sie liest vor aus ihren sorgfältig | |
| formulierten Erinnerungen, manchmal raschelt das Papier ein wenig. In der | |
| französischen Fassung leiht ihr Fanny Ardant ihre Stimme. Sie liest also | |
| vor von den ersten französischen Filmen, die sie als Kind gesehen hat, im | |
| Kino der in Konstanz stationierten Soldaten. Weshalb Filme, die nicht in | |
| Französisch waren, für sie keine richtigen Filme waren. | |
| Auch ihre ersten Freunde in Paris waren ehemalige Soldaten, die sie als | |
| sehr, sehr junge Künstlerin schon in ihrem Atelier in Konstanz besucht | |
| hatten. Darunter einer, der desertiert war, um nicht in Algerien kämpfen zu | |
| müssen. So führt der Film über ihre Jahre als junge Künstlerin in Paris – | |
| mit 20 kommt sie dort 1962 an und bleibt bis 1968 – manchmal auch ein Stück | |
| weiter zurück in ihre Jugend und Kindheit. | |
| „Paris Calligrammes“ [2][gilt als Dokumentarfilm]. Dafür spricht die | |
| ausführliche Nutzung von historischen Quellen, Filmen, Fotografien, | |
| Interviews. Allein 32 Filmarchive werden im Nachspann genannt. Aber der | |
| Film hat auch sehr viel von einem Besuch bei einer älteren Dame, die ihr | |
| Fotoalbum zeigt und dabei ins Schwärmen gerät. | |
| ## Jüdische Emigranten in Paris | |
| Sie erinnert sich an sich selbst als junge Frau, und etwas von der alten | |
| Begeisterungsfähigkeit blitzt wieder auf. Wie das war, stundenlang der | |
| einzige Besucher zu sein im Museum von Gustave Moreau, dessen obsessiver | |
| Symbolismus ein Vorbild wurde für ihre eigene Bild- und Figurengestaltung | |
| in ihrem späteren Leben als Filmemacherin. Und man denkt, was, die einzige | |
| Besucherin im Museum eines berühmten Malers, das muss wirklich lange her | |
| sein. | |
| „Paris Calligrammes“ ist aber auch eine Bildungsreise in zehn Kapiteln, | |
| deren erstes ausführlich den jüdischen Emigranten in Paris gewidmet ist, | |
| den Intellektuellen und Schriftstellern, die Deutschland vertrieben hatte. | |
| Man hört Walter Mehring in einer alten Aufnahme ein langes Gedicht lesen, | |
| eine Totenklage über eine Generation jung gestorbener Dichter. | |
| ## Runden auf Rollschuhen | |
| Andere Kapitel gelten dem Nachtleben in den Jazzkellern oder dem ersten | |
| Kinomuseum, der [3][Cinémathèque française,] einem der Orte von Ulrike | |
| Ottingers Initiation in die Welt der Künste. Exzentriker tauchen auf, wie | |
| ein älterer Mann, der vor dem Musée de l’Homme zum Radetzkymarsch seine | |
| eleganten Runden auf Rollschuhen dreht. | |
| Sie schaut ihm zu, wir schauen ihm zu, die Filmbilder sind alt und | |
| schwarzweiß, und es gibt keine Eile, zu dem zurückzukehren, was eigentlich | |
| Thema dieses Kapitels war, die Kolonialgeschichte Frankreichs, die | |
| Weltausstellungen in Paris, Ursprung der völkerkundlichen Museen und | |
| Ottingers Bewunderung von Ethnologen wie Claude Lévi-Strauss. | |
| „Paris Calligrammes“ feierte seine Premiere dieses Jahr auf der Berlinale, | |
| und dort erhielt die Regisseurin auch die Berlinale-Kamera für ihr | |
| Lebenswerk. Es gibt in diesem Film, wie in vielen vorangegangenen von | |
| Ulrike Ottinger, sowohl die Lust am Wissen, mit geradezu enzyklopädischer | |
| Detailfreude, als auch die Lust am Schauen, am langanhaltenden Beobachten, | |
| Laufenlassen der Bilder. | |
| ## Haltung der Dankbarkeit | |
| Ein Chanson wird gesungen von Barbara, man hört es und sieht sie in | |
| Großaufnahme bis zum Schluss. Den Moment auskosten, und sei er auch ein mit | |
| viel Mühe aus einem Archiv aufgetriebenes Dokument. Das hat immer auch | |
| etwas von einer Haltung der Dankbarkeit – dieser Augenblick wurde uns | |
| gegeben und wir müssen ihn wertschätzen. | |
| Ottinger nimmt uns mit an ihre Lieblingsorte von damals. Manchmal klingen | |
| ihre Erinnerungen fast wie ein Klischee, wenn sie zum Beispiel von den | |
| längst abgerissenen Hallen erzählt, die nur noch auf Filmbildern existieren | |
| und in denen sie sich „oft bis zum Morgengrauen herumtrieb“, „in „Eimer | |
| voller Kuhaugen blickte“ und zwischen „Schweinehälften“ herumlief. | |
| Dann wieder ist überraschend, dass ein Ort noch existiert, wie der Jardin | |
| colonial, auch Jardin d’agronomie tropicale genannt, im Bois de Vincennes, | |
| mit prächtigen Monumenten aus Stein zu Ehren der kolonialen Expansion | |
| errichtet. | |
| ## Aufnahmen von Militärparaden | |
| Sie verbindet die Bilder der von tropischen Pflanzen umwachsenen Tempel, | |
| Zitate der Kultur der kolonialen Gebiete, mit historischen Aufnahmen von | |
| französischen Militärparaden, an denen marokkanische und senegalesische | |
| Truppen teilnehmen, und mit einem Besuch in einem Auktionshaus, das noch | |
| heute auf Kolonialkunst spezialisiert ist. Damit schlägt sie einen großen | |
| Bogen zwischen Themen, die heute im postkolonialen Diskurs heiß diskutiert | |
| werden, aber betrachtet die Dinge eher staunend als wertend. | |
| Sie erzählt mit ihrer bedächtigen, genau artikulierenden Stimme von dem | |
| kleinen Dachzimmer, in dem sie wohnte. Ihre Bilder konnte sie, damals noch | |
| auf dem Weg einer Malerin, dort nur in Teilen malen, auf kleinen | |
| Leinwänden, die sie erst auf dem Boden des Hinterhofes wie ein Puzzle | |
| zusammensetzte und aus dem Lastenaufzug fotografierte. | |
| Das ist natürlich eine lustige Erklärung für ihre poppigen Collagen, | |
| comicähnlich und narrativ, in denen sie Künstler wie den Dichter Allen | |
| Ginsberg oder den französischen Dadaisten Tristan Tzara porträtierte, aber | |
| mit denen sie auch auf den Vietnamkrieg einzugehen versuchte. | |
| ## Letztes Kapitel Mai 68 | |
| So werden ihre Bilder zu einer Überleitung zu ihrem letzten Kapitel über | |
| den Mai 1968. Aus ihrem Dachfenster schräg gegenüber der Sorbonne sieht sie | |
| eines Tages Rauch aus der Universität aufsteigen. Sie hört die Schlagstöcke | |
| der gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorgehenden Polizeikräfte. | |
| In den immer gewalttätiger werdenden Auseinandersetzungen glaubt sie zu | |
| sehen, wie das anfängliche Ziel der Proteste, die berechtigte Forderung | |
| nach Reformen, verloren geht. In diesem Paris der ideologischen | |
| Verhärtungen wollte sie nicht bleiben, Freundschaften zerbrachen. | |
| ## Schwieriger Kinostart | |
| „Paris Calligrammes“ startete schon einmal Anfang März in den Kinos, die | |
| dann allerdings schließen mussten. Auch der zweite Start ist nicht einfach, | |
| denn die Regelungen für die Wiederöffnung der Kinos sind unterschiedlich in | |
| den einzelnen Bundesländern. Möglicherweise spricht der Film auch eher eine | |
| ältere Generation von Kinogängern an, die sich jetzt noch zurückhalten. | |
| Aber wer immer einen ihrer letzten Filme, wie die großartige Filmreise | |
| [4][„Chamissos Schatten“] nach Alaska und den Aleuten, geschätzt hat oder | |
| die skurrilen Bildarrangements ihrer frühen Spielfilme in Erinnerung hat, | |
| deren Motive teils auf ihre Pariser Jahre zurückgehen, sollte sich den mit | |
| 129 Minuten für Ulrike Ottinger nicht besonders langen Film nicht entgehen | |
| lassen. | |
| 14 Jun 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=8drA7IChyBM | |
| [2] /Korenaische-Doku/!5155222 | |
| [3] /Filmstadt-Paris/!5502005 | |
| [4] /Dauerfilm/!5286418 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
| ## TAGS | |
| Kino | |
| Paris | |
| Geschichte | |
| Frauen | |
| Dokumentarfilm | |
| Kino Berlin | |
| Türkischer Film | |
| Ulrike Ottinger | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Buch über ältere Künstlerinnen: Der lange Weg zum eigenen Werk | |
| Verena Lueken porträtiert ältere Regisseurinnen, Autorinnen und | |
| Künstlerinnen. Oft dauerte es in ihren Karrieren, bis sie an den Männern | |
| vorbeikamen. | |
| Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“: Früher war mehr Politik | |
| Livia Theuers Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“ blickt sehr aktuell auf | |
| die Geschichte des alternativen Kinos in Deutschland. Diskutiert wurde | |
| viel. | |
| Film über Berliner SchauspielerInnen: Die EnthusiastInnen | |
| Christiane Nalezinski hat 25 Jahre lang den Werdegang von sechs | |
| KünstlerInnen verfolgt. Heraus kam die Doku „Wie wir einmal (fast) berühmt | |
| wurden“. | |
| Ceylans Film „The Wild Pear Tree“: Der Brunnen will kein Wasser geben | |
| Keine Angst vor Meisterwerken: Nuri Bilge Ceylans vielstimmig und | |
| multiperspektivisch inszenierter Film „The Wild Pear Tree“. | |
| Ulrike Ottinger in Paris: Flanieren und studieren | |
| In „Paris Caligrammes“, einer Schau im Berliner Haus der Kulturen der Welt, | |
| erinnert sich Ulrike Ottinger an das Paris der 1960er Jahre. |