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# taz.de -- Ulrike Ottinger in Paris: Flanieren und studieren
> In „Paris Caligrammes“, einer Schau im Berliner Haus der Kulturen der
> Welt, erinnert sich Ulrike Ottinger an das Paris der 1960er Jahre.
Bild: Ulrike Ottinger vor ihrem Werk Allen Ginsberg, Paris, 1965
Sie war 20 Jahre alt, als sie in Paris ankam, 1962. Das letzte Stück ist
sie getrampt; ihre Isetta, mit der sie aus der Nähe von Konstanz
aufgebrochen war, war unterwegs liegen geblieben.
„Gehen und sehen wurden zu meiner aufregendsten Beschäftigung“, beginnt
Ulrike Ottinger, heute 78, einen Text der Erinnerung. Sie wird zur
Flaneurin, was sonst. (Und eigentlich ist sie das immer geblieben, auch als
Filmemacherin jahrzehntelang, die nach China, in die Mongolei und nach
Alaska und zu den Aleuten reist, immer ausdauernd beobachtend). In Paris
studiert die junge Deutsche weiter Kunst, Radiertechnik, und sie wird zur
Intellektuellen. Ein Foto zeigt sie mit dunklem Hut, nur der Kopf schaut
über einen mit Ratten und Herzen bemalten plastischen Torso, den sie sich
vor den Körper hält.
Als schwarz-weiße Fotografie zeigt sich Ulrike Ottinger so halb mit ihrer
Skulptur verschmolzen auf der ersten Seite ihres Buches „Paris
Calligrammes“, in der gleichnamigem Ausstellung im Berliner Haus der
Kulturen der Welt findet man das Motiv wieder, diesmal aus farbigen Stoffen
genäht.
## Die Librairie der Emigranten
Beides, Buch und Ausstellung, sind Nebenstränge eines Films über ihre
Pariser Jahre, aber jeder Teil ist lesbar für sich. Motive wiederholen
sich, sie werden zu Begleitern bei der Reise durch die Zeit. Große
Portraits aus Flächen und Konturen, großflächig im Stil der Pop-Art der
60er Jahre aus Puzzleelementen zusammengesetzt, von Allen Ginsberg, Tristan
Tzara, Valeska Gert bildeten damals die Koordinaten ihrer Welt und bilden
sie jetzt wieder, aus glänzenden und samtigen Stoffen genäht.
Sie sind Protagonisten eines Raums in der Ausstellung, der dem Buchhändler
Fritz Picard und seiner „Librairie Caligrammes“ gewidmet ist. Picard, der
aus einer jüdischen Familie in Baden stammte, ist in einem kleinen
Schaufenster inmitten seiner Bücher in Fotografien zu sehen und in
historischen Interviews zu hören. Seine Librairie war Anlaufstelle für
viele deutsche Migranten und wurde für Ottinger zum Tor in der Geschichte
der von den Nationalsozialisten Verfolgten.
Hier konnte sie sich mit Deutschland und seiner Vergangenheit
auseinandersetzen, sich verbinden mit denen, die verdrängt worden waren.
Ausführlich erzählt sie in ihrem Film mit Fotografien und Kunstwerken der
Zeit Picards Geschichte. Den Film kann man nicht sehen in der Ausstellung,
aber eine Wand ist mit Drehbuchauszügen und den historischen Quellen
gepflastert.
## Spuren der Kolonialzeit
Ein anderes Kapitel, zwei weitere Räume, sind dem „Algerischen Trauma“ und
den Spuren des Kolonialismus gewidmet. Ulrike Ottinger zeigt Fotografien
von Ré Soupault, die in den dreißiger Jahren in Tunesien unterwegs war, vor
allem Frauen fotografierte und von deren Ausschluss aus den meisten
gesellschaftlichen Feldern berichtete. Aus den fünfziger Jahren sieht man
Fotografien von Pierre Bourdieu aus Algerien, er hatte das Land als
Soziologe und Ethnologe bereist, und suchte einen verstehenden, liebevollen
Blick.
In Siebdrucktechnik, mit Pictogrammen von Soldaten, Helikoptern und einem
Anzugträger, der einen Morgenstern schwingt, thematisierte Ottinger 1966/67
einen Krieg, der von Bürokraten verordnet wird, die ihn nicht selbst
führen. Auch diese Bilder sind nun für die Ausstellung aus Stoff neu
entstanden, Wiederholung, Übersetzung, glamouröser Pop.
Ottinger nutzt auch filmische Dokumente in der Ausstellung ihrer
Erinnerungslandschaft. Auf einer Leinwand sieht man Militärparaden aus
Algier, Marseille und Paris, aus den 1940er und 1950 Jahren mit schwarzen
Regimentern, zu Fuß und zu Pferde. Auf der Leinwand gegenüber lädt sie in
afrikanische Frisiersalons ein, die sie in der Nähe der Gare du Nord mit
ihrer Kamera besucht hat und gibt sich dem Zuschauen hin.
Einerseits ist die Schau kleinteilig, Bücher liegen aus, es gibt
Postkartensammlungen, exotische Motive aus Saigon, Comics zum Vietnamkrieg
aus einer französischen Tageszeitung, Drehbuchseiten mit Textauszügen. Man
bleibt hängen an Details, bekommt das Ganze nicht zu fassen. Aber findet
dann doch vieles wieder in Ottingers alten und neuen Bildern. Die
Ausstellung ist auch lesbar als ein Glossar dazu, als eine Anhäufung
dessen, was sie als junge Frau beschäftigt hat und bis heute für sie als
Künstlerin und Filmemacherin wichtig geblieben ist.
7 Sep 2019
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Ulrike Ottinger
Kunst
Film
Paris
Emigration
Kino
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