| # taz.de -- Regisseur über Diversität: „Wir müssen die Dinge anprangern“ | |
| > Ilker Çatak spricht über Diversität im deutschen Film, Fallstricke der | |
| > Repräsentation und Frauenfiguren. Denn die seien für ihn viel | |
| > interessanter. | |
| Bild: Ilker Çatak nimmt 2015 an der Preisverleihung der Academy of Motion Pict… | |
| taz am wochenende: Herr Çatak, in Ihrem letzten Film „Es gilt das | |
| gesprochene Wort“ lernt ein mittelloser Türke am Strand von Marmaris eine | |
| deutsche Pilotin kennen und bittet sie, ihn zu heiraten, um ihn mit nach | |
| Europa zu nehmen. Darin stecken tendenziell rassistische und sexistische | |
| Klischees, werden aber stark gebrochen – die Frau wird nicht ausgenutzt, | |
| der Mann ist kein Macho. Wie vermeidet man rassistische Klischees in | |
| Filmen? | |
| [1][Ilker Çatak:] Indem man die eigene Arbeit nach Klischees abklopft und | |
| schaut, ob es wirklich interessant ist, einen Mann zu erzählen, der eine | |
| Frau ausnutzt, und eine naive Frau zu erzählen, die sich darauf einlässt. | |
| Oftmals ist die Umdrehung des Klischees einfach spannender! [2][Der | |
| Rassismus] in der deutschen Gesellschaft war uns von Anfang an bewusst – | |
| eine Frau, die einen deutlich jüngeren Ausländer heiratet, bekommt auf | |
| jeden Fall Gegenwind. In unseren bürgerlichen Kreisen gibt es unsichtbare | |
| Mauern, die wir in dem Film bespielen wollten. | |
| Wie wendet man das Thema Diversität auf jede Produktion an, etwa auch auf | |
| formatierte Fernsehsendungen wie den „Tatort“? | |
| Bei Fernsehproduktionen geht es stark um eine definierte Zielgruppe. Immer | |
| noch sitzen Menschen in den Sendern, die glauben zu wissen, was das | |
| Publikum will, Stichwort Quote. Wenn es [3][Bemühungen in Richtung | |
| Diversität] geht, finde ich das prinzipiell gut. Aber es muss auch Sinn | |
| machen, denn wenn nur wegen der Diversität unglaubwürdige Konstellationen | |
| oder Figuren geschaffen werden, geht das meist nach hinten los. Das klingt | |
| vielleicht kontraproduktiv, aber ich bin ja auch Zuschauer, und denke dann: | |
| Aha, das ist also der Alibitürke oder die Alibiafrodeutsche – und das soll | |
| ja nicht sein! | |
| Vermutlich will auch niemand nur aus Diversitätsquotengründen besetzt | |
| werden, oder? | |
| Genau – aber das lässt sich vermeiden, wenn die Figuren eine Tiefe haben, | |
| wenn sie wahrhaftige Charaktere sind, nicht nur Bauernfiguren in einem | |
| Schachspiel. Im Kino kann man sich für solche Figuren mehr Zeit lassen als | |
| im Fernsehen, wo der Erzähldruck höher ist. In meinem eigenen | |
| Schreibprozess spielt das eine große Rolle – ich sitze gerade an einem | |
| neuen Drehbuch, und meine Geschichte findet an einer Schule statt. Wir | |
| fragten uns von Anfang an: Schulleiter oder Schulleiterin, und welchen | |
| kulturellen Background hat er oder sie? Nur wenn ich die Geschichte in | |
| Sachsen und mit einem genervten, altmodischen Kollegium erzählen will, das | |
| seit 40 Jahren alltagsmürbe unterrichtet, dann macht es wenig Sinn, die | |
| Lehrer*innen [4][mit PoCs] zu besetzen. Es gibt einfach nicht so viele | |
| dort. | |
| Man kann also nicht immer die gesamte Gesellschaft repräsentieren? | |
| Es kommt auf die Geschichte an. Man sollte schon immer gucken, ob man | |
| Diversität erzählen kann, und wie sie Sinn ergibt. | |
| Welchen Einfluss haben Caster*innen? | |
| Ich arbeite mit Simone Bär, die spielt für mich eine große Rolle – auch | |
| schon im Schreibprozess. Sie ist für diese Themen stark sensibilisiert, | |
| sowohl für Gender als auch für den kulturellen Hintergrund einer sich | |
| auszudenkenden Figur. | |
| Inwiefern spielt es eine Rolle, wie groß die Gruppe ist, die repräsentiert | |
| werden soll und die eben nicht zur weißen Mehrheitsgesellschaft gehört? | |
| Im Fernsehen ist es auf jeden Fall schwerer [5][für Afrodeutsche] als | |
| beispielsweise für Menschen mit türkischen Wurzeln. Es gibt einfach viel | |
| weniger Afrodeutsche. Wenn ich meine Geschichten schreibe, mache ich mir | |
| allerdings keine Gedanken darüber, ob eine Figur zu einer Minderheit gehört | |
| – die Pilotin in „Es gilt das gesprochene Wort“ gehört zu nur drei Proze… | |
| Kapitäninnen in Deutschland. Und wenn ich zum Beispiel eine schwarze Figur | |
| schreibe, denke ich nicht darüber nach, wie viele Afrodeutsche es | |
| hierzulande gibt, sondern ich schreibe sie, weil ich ein grundsätzliches | |
| Interesse an diesem Menschen habe. | |
| Ihre Eltern sind selbst türkische Herkunft – fühlen Sie sich im deutschen | |
| Kino denn ausreichend repräsentiert? | |
| Die Frage stelle ich mir nicht. Ich verstehe mich selbstverständlich als | |
| Deutscher. Ob ich mich repräsentiert fühle, hat für mich weniger mit meiner | |
| Herkunft zu tun, auch nicht mit Haut-, Augen- oder Haarfarbe – eher mit | |
| einem übereinstimmenden Weltbild. Ich kann mich von [6][Margarete | |
| Stokowski] oder [7][Max Czollek] repräsentiert fühlen. Aber auch von | |
| [8][Spike Lee] oder [9][Nelson Mandela]. Es geht um die Haltung eines | |
| Menschen. | |
| Braucht man also den Vorwurf gar nicht, dass nichtweiße Charaktere zu | |
| selten vorkämen? | |
| Doch – türkische, arabische oder afrodeutsche Schauspieler*innen möchten | |
| natürlich arbeiten und leiden stark darunter, gar nicht oder nur in | |
| Klischeefiguren besetzt zu werden. Der schwarze Schauspieler Tyron | |
| Ricketts hat neulich gesagt, dass er keine Lust mehr auf Rollen als | |
| pakistanischer Taxifahrer oder Drogendealer hat – da hat er natürlich | |
| recht, das sind Figuren, die ausschließlich Klischees bedienen. Das ist ein | |
| verständlicher Frust, den wir ernst nehmen müssen. Hautfarbe und Gender | |
| sind Themen, mit denen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen müssen. | |
| Ich habe übrigens gemerkt, dass mich Männerfiguren schneller langweilen. | |
| Als Erzähler interessiert mich das andere Geschlecht viel mehr. Meiner | |
| Ansicht nach sollten sich Männer in jeder Beziehung mal ein bisschen | |
| zurücknehmen. | |
| Es gibt in der Gesellschaft ja auch 50 Prozent Frauen oder Nichtmänner, | |
| also kann niemand ernsthaft deren Relevanz und Bedeutung für Geschichten | |
| leugnen. Spielt es eine Rolle, wie groß die sogenannte Minderheit ist? | |
| Solange wir in der Politik, in Redaktionen und an Entscheiderpositionen | |
| größtenteils weiße, privilegierte Menschen sitzen haben, wird es mit der | |
| flächendeckenden Repräsentanz von Minderheiten noch lange dauern. Ich habe | |
| Kolleg*innen, die ihre Geschichten nicht durchkriegen, weil die Gatekeeper | |
| sie nicht durchlassen. In manchen öffentlich-rechtlichen Fernsehredaktionen | |
| wird zum Beispiel gefordert, Filme müssten „hell“ sein, also an sonnigen | |
| Stränden spielen und mit „hellen“, sprich blonden, weißen Gesichtern | |
| besetzt werden, weil das angeblich der Zuschauer so will. Absurd und | |
| absolut vermessen. | |
| Sollte man vielleicht Hautfarbe überhaupt nicht mehr sehen und benennen? | |
| In einer idealen Welt: ja. Aber bis dahin müssen wir die Dinge noch | |
| benennen und auch anprangern. Es ist wie mit den „starken Frauenfiguren“. | |
| Warum sind das nicht Selbstverständlichkeiten, die keiner gesonderten | |
| Benennung bedürfen? Können wir uns nicht einfach nur als Mitmenschen | |
| begreifen? Das ist meines Erachtens der Schlüssel. | |
| 14 Jun 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Filmdrama-um-das-Thema-Naehe/!5610242 | |
| [2] /Misogynie-und-Rassismus/!5689403 | |
| [3] /Fehlende-Diversitaet-im-Theater/!5691967 | |
| [4] /Berlinale-Regisseur-ueber-Autobiografie/!5664641 | |
| [5] /Britische-Kuenstlerin-Afrodeutsche/!5635882 | |
| [6] /Tucholsky-Preis-fuer-Margarete-Stokowski/!5639020 | |
| [7] /Gedichtband-von-Max-Czollek/!5661896 | |
| [8] /Spike-Lees-neuer-Film-BlacKkKlansman/!5527569 | |
| [9] /Postkoloniale-Vernetzung-in-Afrika/!5640972 | |
| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
| ## TAGS | |
| Film | |
| Diversität | |
| Repräsentation | |
| Frauen im Film | |
| Antirassismus | |
| Kinostart | |
| Film | |
| Afrodeutsche | |
| Film | |
| Tatort | |
| Kino | |
| Film | |
| Politisches Buch | |
| Spielfilm | |
| Buch | |
| Türkischer Film | |
| Black Lives Matter | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| Queer | |
| Drama | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Das Lehrerzimmer“ im Kino: Pädagogik und geschwollene Augen | |
| İlker Çataks Spielfilm „Das Lehrerzimmer“ inszeniert aufreibenden Alltag … | |
| einer Schule als perfide Mobbinghölle – aus der es kein Entkommen gibt. | |
| „Räuberhände“ von İlker Çatak: Liebenswerte Istanbuler | |
| Der Regisseur İlker Çatak hat den Roman „Räuberhände“ von Finn-Ole Hein… | |
| verfilmt. Es geht um Freunde, schwierige Mütter und fürsorgliche Männer. | |
| Dokumentarfilm „Wer wir sein wollten“: Rückblick ohne Zorn | |
| In „Wer wir sein wollten“ lässt Tatiana Calasans vier Afrodeutsche zu Wort | |
| kommen. Sie berichten vom Aufwachsen im Deutschland der 90er-Jahre. | |
| Max-Ophüls-Nachwuchsfilmfest: Hoffnungsvoll und alternativlos | |
| Vier Preise darunter der für den besten Spielfilm gingen an ihn: Der große | |
| Gewinner des Filmfestival Max Ophüls Preis heißt „Borga“. | |
| „Tatort“ ohne Autorinnen: Die 6-Prozent-Hürde | |
| Nach 50 Jahren schreiben beim „Tatort“ immer noch vor allem Männer die | |
| Drehbücher. Dabei täte Innovation beim Erzählen allen Beteiligten gut. | |
| Katharina Thalbach über die „Blechtrommel“: „Hä? Intimitätskoordinator… | |
| Zum 40. Oscar-Jubiläum kommt die Verfilmung der „Blechtrommel“ restauriert | |
| in die Kinos. Katharina Thalbach erinnert sich an die Dreharbeiten. | |
| Doku über Christoph Schlingensief: „Das war sein Lebensthema“ | |
| Zehn Jahre nach seinem Tod widmet Filmeditorin Bettina Böhler Christoph | |
| Schlingensief eine Doku – und betrachtet dessen Hassliebe zu Deutschland. | |
| Neues Buch von Politologe Max Czollek: Im Ring mit der Leitkultur | |
| In „Gegenwartsbewältigung“ rechnet Max Czollek mit der deutschen | |
| Vergangenheitsbewältigung ab. Er demontiert das hiesige | |
| Nationalverständnis. | |
| Griechischer Spielfilm „Pause“: Erweckung im Groove der 50er Jahre | |
| Die Regisseurin Tonia Mishiali lässt in ihrem Spielfilm „Pause“ eine Frau | |
| in den Wechseljahren gegen einen patriarchalen Ehemann rebellieren. | |
| Technologieexperte über Diskriminierung: „Effizienz ist längst nicht alles�… | |
| Auch auf den ersten Blick wertfreie Technologie kann diskriminieren. Ein | |
| Interview mit Ben Green, der glaubt, Städte sollten nicht zu smart werden. | |
| Ceylans Film „The Wild Pear Tree“: Der Brunnen will kein Wasser geben | |
| Keine Angst vor Meisterwerken: Nuri Bilge Ceylans vielstimmig und | |
| multiperspektivisch inszenierter Film „The Wild Pear Tree“. | |
| Spike Lees Netflix-Film „Da 5 Bloods“: Gott ist mein Freund | |
| Im Zeichen von Black Lives Matter: In Spike Lees Netflix-Film „Da 5 Bloods“ | |
| gehen afroamerikanische Vietnam-Veteranen auf eine geheime Mission. | |
| #MeToo in Film- und Theaterwelt: Ein strukturelles Problem | |
| Die Vertrauensstelle „Themis“ zieht nach anderthalb Jahren Bilanz: Bisher | |
| wurden 255 Fälle sexueller Belästigung bei Kreativ-Arbeit gemeldet. | |
| Berlinale-Regisseur über Autobiografie: „Es war wichtig, Grenzen zu setzen“ | |
| Auf der Berlinale präsentiert Faraz Shariat seinen Film „Futur Drei“. Ein | |
| Gespräch über autofiktionales Erzählen, Musikvideo-Ästhetik und den Iran. | |
| Filmdrama um das Thema Nähe: Das Projekt der Pilotin | |
| İlker Çatak seziert in „Es gilt das gesprochene Wort“ facettenreich das | |
| Thema Nähe. Der Filmtitel sendet auch eine Botschaft an die | |
| Protagonist*innen. |