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# taz.de -- Filmdrama um das Thema Nähe: Das Projekt der Pilotin
> İlker Çatak seziert in „Es gilt das gesprochene Wort“ facettenreich das
> Thema Nähe. Der Filmtitel sendet auch eine Botschaft an die
> Protagonist*innen.
Bild: Der junge Baran versteht nicht, warum die Pilotin Marion ihm helfen will
Am Strand von Marmaris brodelt die Party. „Life is live, nanaaananana“, es
wird getanzt und gebechert, füllige deutsche Touristinnen klatschen jungen
türkischen Kellnern auf den Hintern, und wer’s wirklich wissen will,
bekommt später Urlaubssex. Einer der Animateure ist Baran (Arman Uslu), 23
Jahre alt, gutaussehend, und auf dem Weg vom Tellerwäscher zum Casanova. Er
spekuliert auf Kontakte mit Frauen, die ihn, den mittellosen, desertierten
Kurden, mit nach Hause nehmen. Genauer: nach Europa.
Aber so einfach ist das nicht. Schon gar nicht mit Marion (Anne
Ratte-Polle), einer Pilotin, die mit ihrem Liebhaber Raffael (Godehard
Giese) eher aus Versehen in der Türkei urlaubt. Eine Brustkrebsdiagnose hat
die unabhängige Mittvierzigerin vorübergehend beruflich außer Gefecht
gesetzt – Raffael, der die Beziehung intensivieren will, versucht die
zeitliche (und emotionale) Lücke, nämlich Marions gesundheitliche Schwäche,
zu nutzen.
Doch Marion will keine feste Bindung, anstehende Operation hin oder her.
Nach einem Streit mit Raffael räumt dieser das Feld. Marion begegnet Baran
und entschließt sich zur Verwunderung aller, dem Fremden zu helfen – Job,
Wohnung, Umzug nach Hamburg und (Schein-)Ehe inklusive.
Die Zutaten zu İlker Çataks Drama sind komplexer, als sie auf den ersten
Blick scheinen. Denn weder geht es um die soziokulturell problematische
Liebe zwischen einer älteren, reicheren Frau und einem jüngeren Mann. Noch
um das Klischee heiße Machotürkei gegen kaltes Deutschland.
Çataks Film, dessen Drehbuch er gemeinsam mit dem Romanautor Nils Mohl
schrieb, seziert stattdessen das Thema Nähe. Mit allen darin enthaltenen
verwirrenden Elementen: Baran, dem Arman Uslu in seiner ersten
Langfilmrolle eine natürliche, warme Sensibilität verleiht, erkennt, dass
die kühle Marion so gar nicht auf seinen Charme reagiert – und kann nicht
verstehen, wieso sie ihm dennoch hilft, ihn dabei aber auf Abstand hält.
## Stark und unabhängig
Raffael, den Giese einfühlsam und stolz aussehen lässt, und dessen Leben
als Orchestermusiker und (getrennter) Vater geordnet scheint, wirkt mit
seiner konservativen Vorstellung von Nähe immer wieder deplatziert. Und
Marion selbst ist die Spindoktorin ihres eigenen Images: Um Pilotin zu
werden, das schwingt in dem klugen Drehbuch wortlos und situativ mit,
musste sie eh garantiert einiges an Kraft aufbringen, genau wie dafür, ihre
Unabhängigkeit zu bewahren.
Çatak und Mohl, die bereits zum zweiten Mal zusammenarbeiten und aus Mohls
Roman „Es war einmal Indianerland“ 2017 Çataks eindrucksvollen Debütfilm
strickten, geben nur wenige Hinweise auf Marions Vergangenheit. Diese
jedoch sitzen: die Mutter starb, der Vater schied daraufhin freiwillig aus
dem Leben und ließ die (erwachsene) Tochter allein.
Marions Stärke war also schon oft gefordert. Anders gesagt: Der Panzer, den
sie trägt, ist solide. Er begründet die Selbstverständlichkeit, und die
verständliche Genugtuung, mit der Marion ihren Beruf als Pilotin ausübt,
und mit der sie sich beim Start mit den Worten „Guten Tag meine Damen und
Herren, hier spricht Ihre Kapitänin“ aus dem Flight Deck meldet. Oder, um
es mit einem misogynen Gegenspieler von „Captain Marvels“ Pilotenfreundin
Maria zu sagen: „Es heißt nicht umsonst ‚Cockpit‘.“
## Die Wichtigkeit des „gesprochenen Wortes“
Marions Erkrankung, die als früher Handlungspunkt ihre Geschichte
anschiebt, wirkt somit wie ein erster Sprung in der Schutzmauer. Und
erklärt ein wenig ihre verwirrende und irgendwie auch typisch deutsche
Herangehensweise: Nüchtern erklärt sie Baran und dessen Zurechtfinden in
einem ihm fremden Land zu ihrem Projekt und macht ihre Pläne zu seinen.
Obwohl sie ihm von Anfang an apodiktisch erklärt, dass „seine Scheiße auf
gar keinen Fall zu ihrer Scheiße“ werden dürfe. Was sie, denn das passiert
nun mal, wenn sich Menschen vor dem Standesamt treffen, aber trotzdem
irgendwann wird. Wenn auch an unerwarteter Stelle.
Dass der Film Baran nachvollziehbarer zeichnet als seine weibliche
Protagonistin, deren Einsamkeit teilweise arg ausgestellt wirkt, mag an
einer größeren Nähe der Autoren zum Protagonisten liegen. Vielleicht ist es
aber auch Absicht – eine wie Marion, das könnte man herauslesen, ist zu
einzigartig für die Masse, eckt zu sehr an, und ist zu gern allein.
„Es gilt das gesprochene Wort“ bezieht sich am Ende nicht nur auf die
aseptische Heiratsszene, die zu Beginn des Films Marions und Barans Weg
vorwegnimmt, sondern auch auf die Entwicklung einer neuen Kommunikation:
Gesprochene Worte, hoffentlich lernen das die Protagonist*innen
rechtzeitig, können Wände einreißen.
1 Aug 2019
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Drama
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