# taz.de -- Film „Dene wos guet geit“: Betrug, die Logik der Gesellschaft | |
> Neoliberales Hamsterrad: Der Spielfilm „Dene wos guet geit“ erzählt von | |
> einer Callcenter-Arbeiterin, die alte Frauen per Telefon um ihr Geld | |
> bringt. | |
Bild: Alice Türli (Sarah Stauffer) ist beständig auf der Suche nach Kontakt m… | |
Ein leerer Briefumschlag wird im Zentrum von Zürich in einen Mülleimer | |
geworfen. Eine junge Frau wartet auf einer Verkehrsinsel, ins Handy | |
vertieft. Über leere Betonflächen geht die junge Frau durch die Stadt. Eine | |
Chipkarte öffnet ihr die Tür zum Arbeitsplatz, einem Callcenter. | |
Alice Türli, so heißt die junge Frau, verkauft Handyverträge und | |
Krankenversicherungen per Telefonanruf – im Hauptberuf. Nebenher prellt sie | |
ältere Damen um größere Beträge, indem sie sich als deren Enkelin ausgibt, | |
die in einer Notsituation dringend Geld braucht. Die Kontaktdaten der | |
älteren Frauen bekommt sie durch ihren Job im Callcenter. | |
„Dene wos guet geit“ („Die, denen es gut geht“) des Schweizer Regisseurs | |
Cyril Schäublin erzählt die Handlung wie nebenbei, flicht die Betrügereien | |
ein in ein Panorama des Alltags in der Schweiz der Gegenwart. Menschen | |
stehen in Gruppen beieinander und teilen Alltagsgeschichten, an deren | |
entscheidende Details sie sich nicht erinnern. | |
Der Betrug der jungen Frau folgt der Logik der Gesellschaft, in der er | |
stattfindet. Der Besuch einer älteren Frau in der Bank, um das Geld | |
abzuheben, um das Alice Türli sie betrügen wird, ähnelt den Gesprächen im | |
Callcenter. | |
## Freizeichen ziehen vorüber | |
Cyril Schäublin hat einen Film gedreht über Begehrlichkeiten in einer | |
Konsumgesellschaft und das Leben in einer verdinglichten Welt. In der Pause | |
geht Türli mit zwei Freundinnen eine Runde durch den Park. Sie unterhalten | |
sich darüber, wer hoffen darf, wie viel von der Großmutter zu erben. | |
Dann geht es zurück ins Callcenter zum Warten, während die Freizeichen bei | |
jedem Anruf in der Leitung vorüberziehen. Ein ewiges Nirwana verhinderter | |
Selbstverwirklichung, bevor es wieder gilt, die Jagdinstinkte von | |
Schnäppchenjägern auf der Pirsch nach einem noch billigeren Handyvertrag zu | |
wecken. | |
## Sinnentleert wie Automaten | |
Die Menschen wirken in „Dene wos guet geit“ so sinnentleert wie die | |
Automaten, die sie umgeben. Der Ampelschalter auf der Verkehrsinsel zu | |
Beginn des Films entwickelt zeitweilig mehr Eigenleben als viele der | |
Passanten. Der Kartenleser, der Alice und ihren Kolleginnen nach Pausenende | |
den Weg zurück zur Arbeit öffnet, hat genauso viel menschlichen Kontakt wie | |
die drei. | |
Schäublins Film lebt von den nüchternen Bildern, die der Regisseur und sein | |
Bildgestalter Silvan Hillmann für den Film gefunden haben. Die Bilder von | |
„Dene wos guet geit“ zeigen die Individualisierung von Menschen, die | |
beständig auf der Suche sind nach Kontakt mit anderen, nur um beim nächsten | |
Geschäftsgespräch und dem nächsten Small Talk frustriert zu werden. | |
## Abkürzung zur Teilhabe | |
Die Kriminalität Alice Türlis als Abkürzung zur Teilhabe an einer | |
Gesellschaft des Wohlstands ist die lebendigste Handlung in dem Film. Ihr | |
Egoismus zeigt sich in der gespielten Empathie beim Zusammentreffen der | |
jungen Frau mit den älteren Damen, bei denen sie sich als beste Freundin | |
der Enkelin ausgibt. | |
Aktuell arbeiten Schäublin und Hillmann an einem Film, der durchwoben ist | |
von Elementen aus der Familiengeschichte des Regisseurs. Eine junge Frau, | |
die im Nordwesten der Schweiz in einer Uhrenfabrik arbeitet. Die | |
Unzufriedenheit der jungen Frau wächst und bald sucht sie die Nähe zu einer | |
Gruppe von Anarchistinnen und Anarchisten. [1][„Unrueh“] (Unruhe) ist für | |
2021 angekündigt. | |
## Gedreht mit minimalem Budget | |
„Dene wos guet geit“ ist Schäublins Langfilmdebüt. 2012 schloss er sein | |
Regiestudium an der Berliner Film- und Fernsehakademie ab, wo er nach | |
eigener Aussage unter anderem bei dem US-Experimentalfilmemacher James | |
Benning und dem philippinischen Independent-Regisseur Lav Diaz studierte. | |
Gedreht wurde der Film mit minimalem Budget. | |
Nach der Premiere wurde er international von Festival zu Festival gereicht, | |
lief in Locarno, New York und Edinburgh und gewann eine gute Handvoll | |
Preise. Aus einer knappen Handlung, die überdies in einer Eröffnungsszene | |
bereits offengelegt wird, und ein paar wenigen Elementen konstruiert | |
Schäublin in „Dene wos guet geit“ einen konzentrierten, präzise | |
beobachteten Film. | |
## Vereinzelung vor Betonflächen | |
Visuelle Strenge und Leichtigkeit liegen in Schäublins Film nahe | |
beieinander. Vereinzelung vor Betonflächen oder dem Computer, Zwiegespräche | |
über Banalitäten und beim Betrug sowie Dasein in der Gesellschaft in Szenen | |
zu dritt sind Grundstrukturen, die in dem Film wiederkehren und ihm | |
Struktur geben. | |
In der Kriminalität des Betrugs der Alice Türli liegt ein Akt der Rebellion | |
gegen das Hamsterrad des Neoliberalismus; im Ergebnis des Betrugs und dem | |
Versuch Türlis, das gewonnene Vermögen anzulegen, dessen Reaffirmation. | |
Eine Ambivalenz, die „Dene wos guet geit“ einem Lied des Schweizer | |
Liedermachers Mani Matter entnommen hat, dem auch der Titel des Films | |
entstammt: „Denen, den es gut geht, ginge es besser, ginge es denen besser, | |
denen es weniger gut geht, was aber nicht geht, ohne dass es denen weniger | |
gut geht, denen es gut geht.“ Dieses Spannungsverhältnis nicht | |
dramaturgisch zugekleistert zu haben, sondern ihm einen klugen, humorvollen | |
Film abgerungen zu haben, ist das Verdienst von Cyril Schäublin. | |
18 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://fidmarseille.org/en/film/unrueh/ | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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