# taz.de -- Nationalfeiertag: Achtung: die Schweiz | |
> Die Schweiz wurde 1848 gegründet. Gedacht wird lieber des erfundenen | |
> Datums 1291. Der Eidgenossenschaft eine Nestbeschmutzung zum 175ten. | |
> Prost! | |
Bild: Jenseits des Alpenpanoramas: der Alltag in der Schweiz, hier Bern-Bethleh… | |
„Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ So beginnt die Präambel der Schweizer | |
Bundesverfassung. Diese Verfassung wurde am 12. September 1848 vom zum | |
allerersten Mal zusammengekommenen Parlament verabschiedet. Damit war die | |
Schweiz, wie man hierzulande sich gerne brüstet, die erste Demokratie | |
Europas, das erste Land Europas mit allgemeinem freien Wahlrecht für alle | |
erwachsenen Männer unabhängig vom Einkommen, 70 Jahre vor Deutschland oder | |
Großbritannien. | |
[1][Die Frauen? Schwieriges Thema.] Die durften erst 1971 ran, also 123 | |
Jahre nach ihren Vätern, Brüdern, Ehemännern. Auf jeden Fall: Die Schweiz | |
wird heute also 175 Jahre alt. Davor gab es sie im engen Sinne gar nicht, | |
sondern nur ein feudalistisches Konglomerat von Stadtstaaten, ohne | |
gemeinsame Währung, Außenpolitik oder was sonst noch dazugehört, ein | |
richtiges Land zu sein. [2][La Suisse n’existe pas], lautet das geflügelte | |
Wort. Also Prost! | |
Aber seltsam: Ein Großteil der Bevölkerung glaubt an Wunder und Mythen. | |
Denn nicht heute ist der Nationalfeiertag, nein, das ist der 1. August. Der | |
ist ein Märchentag: 1291 war angeblich was mit einer Wiese und einem Schwur | |
und drei mutigen Kantonen (bis heute die konservativsten des Landes), die | |
sich zusammenschlossen gegen die Habsburger. Schiller hat mal was darüber | |
geschrieben. Aber der war ja auch Deutscher, schwierig. Also was jetzt? | |
1291 oder 1848? Diese beiden Schweizen stehen sich bis heute unversöhnlich | |
gegenüber. | |
„Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ – diese Präambel beginnt fast wie d… | |
Koran: Bismillahirrahmanirrahim – („Im Namen Allahs des Erbarmers, des | |
Barmherzigen“). Während [3][im Koran jedoch keine Stelle die | |
Kopfverschleierung explizit vorschreibt] und schon gar keine | |
Gesichtsverhüllung, war 2021 die Mehrheit des Schweizer Stimmvolkes in | |
diesem ach so liberalen Land der Meinung, man müsse eine Kleidervorschrift | |
in die Verfassung aufnehmen: Dort steht nun laut Artikel 10a, dass es | |
verboten ist, sich im öffentlichen Raum das Gesicht zu verhüllen, während | |
Artikel 10 das Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit gebietet (das | |
war die 1848-Schweiz). | |
Diese Lächerlichkeit ereignete sich nach Jahren antimuslimischer Hetze und | |
populistischer Essenzialisierung eines „Problems“, das es gar nicht gibt: | |
[4][20 bis 30 Frauen trugen zur Zeit der Abstimmung überhaupt den Niqab], | |
den Gesichtsschleier, der in der politischen Debatte oft fälschlicherweise | |
als Burka bezeichnet wurde. | |
Die Debatte zeigt eine Besonderheit der Schweizer Bundesverfassung: Sie ist | |
jederzeit per demokratischem Volksentscheid änderbar, eine spätere | |
Errungenschaft der 1848-Schweiz. Das hilft zu einer [5][stetigen | |
Modernisierung] von Recht und Ordnung. Das ist aber [6][immer wieder | |
besorgniserregend] – gerade, weil die [7][rechtspopulistische Partei das | |
größte Budget] für Werbekampagnen hat. Ist das noch Demokratie oder eher | |
vor 1848 anzusiedeln? | |
[8][Das letzte Mal, als ich über die Schweiz geschrieben habe,] sagte mir | |
hinterher wer wütend: „Ein Hund kackt nicht ins eigene Nest.“ Wie kommt er | |
darauf, dass ich, gerade wenn es um Loyalität zu einem Nationalstaat geht, | |
ein Hund sein möchte? Und was für ein Nest? Die Schweiz – der Ort, an dem | |
man schon vor der Einbürgerung Patriotismus erwartet. | |
Tatsache ist, dass ich nach zehn Jahren in diesem Land immer noch keinen | |
Pass habe und in meinem spezifischen Fall zehn weitere Jahre warten müsste, | |
bis ich überhaupt das Einbürgerungsverfahren in Angriff nehmen könnte. Und | |
das, obwohl ich für eine Deutsche ungewöhnlich gut integriert bin! Nicht | |
dass ich je angestrebt hätte, mich mit irgendwem in dieser in | |
deutschsprachigen Diskursen anmaßenden Disziplin „Integration“ zu messen. | |
Aber weiße Deutsche reden ja immer nur von Integration, doch wenn man dann | |
mal schaut, wie es in den Enklaven der Auslandsdeutschen aussieht: | |
mangelhaft. Sogar eine Plakatkampagne musste die Deutschen zur besseren | |
Integration mahnen: Hier sage man „Ich hätte gern ein Brötchen“, nicht: | |
„Ich krieg ein Brötchen.“ | |
Wenn ich den Pass früher möchte, müsste ich eine*n Schweizer*in | |
heiraten, das geht mir zu weit. Ich finde es (je nach Geschlecht des | |
Heiratspartners) von sexistisch über absurd bis | |
konservativ-fundamentalistisch, dass ich erst jemanden heiraten soll, damit | |
ich das Recht bekomme, abzustimmen und die Sicherheit, nicht ausgewiesen zu | |
werden. | |
[9][Ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung hat keinen Schweizer Pass.] | |
Da man diesen hier nicht mit der Geburt bekommt, gibt es Menschen, die in | |
der dritten Generation noch keinen haben. Das ist fatal: Diese Menschen | |
können bei all den vielen, berühmt berüchtigten Abstimmungen nicht | |
mitstimmen, sie dürfen nur Steuern zahlen. Währenddessen lässt sich die | |
Schweiz weltweit für ihre ach so gut funktionierende direkte Demokratie | |
feiern. | |
Das mit dem Bürgerrecht hat noch weitere Dimensionen: In der Schweiz kann | |
man nicht nur abgeschoben werden, wenn man kriminell ist, sondern auch | |
dafür, kein Geld zu haben. Was klingt wie ein schlechter Witz über ein | |
reiches Land, ist tatsächlich wahr: Arm sein ist hier kriminell! Wer in | |
eine missliche Lage kommt und wegen Krankheit, Unfall, Pandemie, Pech etc. | |
das Recht auf Sozialhilfe beanspruchen muss, kann ab einem relativ | |
niedrigen Betrag für die so kriminalisierte „Verschuldung“ beim Staat | |
abgeschoben werde – seit einer Gesetzesverschärfung 2019 sogar auch nach | |
über 15 Jahren Leben in der Schweiz. Das betrifft theoretisch zwei von | |
acht Millionen Menschen in diesem Land. | |
Was das mit Menschen macht, kann man sich vorstellen: Menschen versuchen | |
oft, um jeden Preis auf nötige Sozialhilfe zu verzichten. Das bringt sie | |
unter Umständen in noch größere Prekarität, psychischen Druck und Angst. | |
Was macht das? Das macht Ausländer*innen schön gefügig. | |
Der letzte Satz in der Präambel der Schweizer Verfassung ist, dass „die | |
Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“ – und das ist ein | |
Problem. Denn will man die Schweiz genau an diesem Maßstab messen, werden | |
alle ganz empfindlich und schreien: Aber wir haben guten Käse, verdammt! | |
Oder so ähnlich: Die Schweiz ist ein wunderbares Land, aber sie besteht | |
auch sehr unbescheiden darauf, das jedem klarzumachen. Es gibt eine Bahn, | |
die pünktlich ist, und schöne Berge und eine große Wertschätzung für die | |
Natur, und es ist sauber und sicher, es gibt ein gutes Gesundheitssystem, | |
die Lebensmittel haben eine gute Qualität, Amtsanrufe sind um einiges | |
höflicher als in Deutschland, es gibt eine Vereins- und Ehrenamtskultur, | |
der Lebensstandard ist sehr hoch, es gibt viele Möglichkeiten Geld | |
anzuhäufen und die sogenannten Volksrechte wie eben vier Mal im Jahr an | |
fixen Terminen an Referenden abstimmen zu dürfen. | |
[10][Rechte gibt es wirklich sehr viele in der Schweiz.] Die | |
rechtspopulistische bis -extreme Schweizer Volkspartei ist seit ungefähr | |
zwanzig Jahren die stärkste Partei auf Bundesebene. Ich dachte jahrelang in | |
einer schlampigen Politikanalyse, dass eine Rechte, die sich in ihrer Macht | |
so sicher sein kann, die ihre faschistoiden Zielen im Parlament oder über | |
teure Politkampagnen lösen kann, deswegen weniger auf Machtdemonstration | |
durch physische Gewalt zurückgreifen muss. | |
Und es gibt hier tatsächlich weniger physische Gewalt gegen marginalisierte | |
Gruppen als andernorts, auch wenn speziell die Feminizidrate im | |
Europavergleich hier unglaublich hoch ist. Aber das größte Problem ist das | |
Verdecken von „Einzelfällen“ und der Whataboutism, wenn es um Probleme in | |
der Schweiz geht, die häufig in anderen Ländern größere Dimensionen | |
annehmen. | |
Auch hier gab es in den Neunzigern Brandanschläge auf einige | |
Asylunterkünfte und Ausländer*innen. In Biel, Nussbaumen, Chur, Bülach, | |
Misox – das weiß nur niemand. | |
Die Schweiz hat natürlich auch eine Kolonialgeschichte: Schweizer | |
Missionar*innen, Söldner, Financiers und Wissenschaftler*innen waren | |
wichtige Instanzen des europäischen Kolonialismus – das wissen (und | |
glauben) nur wenige. Und während des Zweiten Weltkriegs hat sie, die | |
Schweiz, das ist inzwischen etwas bekannter, verkauft, gekauft, finanziert, | |
sich bereichert. Heute hat das Land ein Problem mit rassistischer | |
Polizeigewalt, aber es wehrt sich partout, überhaupt Daten dazu zu | |
erfassen. Doch natürlich tötet Rassismus auch in diesem Land. Überall zeigt | |
der Teil der Schweiz, der sich selbst eher als konservative Kuhwiese | |
identifiziert, sein hässliches Antlitz. | |
Es gibt aber auch immer wieder Forderungen, den 12. September als weiteren | |
Nationalfeiertag einzuführen. Demokratie und Rechtsstaat: Das wäre mal ein | |
sinnvoller Grund zu feiern, statt Alpenpanorama und mittelalterliche | |
Heldensagen. | |
Gönn dir, Schweiz: ein Land, das sich so gern selbst beweihräuchert, dass | |
es eben zwei Nationalfeiertage braucht. Letztendlich wurde das Vorhaben | |
aber auch dieses Jahr wieder abgelehnt. Wie vieles hierzulande war auch | |
dies eine ökonomische Entscheidung: Der Bundesrat (die Regierung) findet | |
einen zweiten Nationalfeiertag zu teuer für die Volkswirtschaft. Und | |
[11][bei der Wirtschaft] sind die 1291-Schweiz und die 1848-Schweiz dann | |
trotz aller anderen Unstimmigkeiten ein einig Volk von Brüdern. | |
Fatima Moumouni ist vor zehn Jahren von München nach Zürich ausgewandert. | |
Sie hat einen Ausländerausweis B. Sie arbeitet als Spoken-Word-Poetin, | |
Bühnenautorin und moderiert unter anderem „Moumouni/Gültekin – die erste | |
postmigrantische, postschweizerische Late Night Show der Schweiz“. | |
12 Sep 2023 | |
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[7] https://jacobin.de/artikel/marsch-auf-den-grossen-kanton-caspar-shaller-svp… | |
[8] https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/1-august-rede-ceci-n-est-pa… | |
[9] https://www.woz.ch/2336/175-jahre-schweiz/fremd-im-eigenen-land/!RTTAZ0BDHX… | |
[10] /Oeffentlich-Rechtliche-in-der-Schweiz/!5941792 | |
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