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# taz.de -- Film über die indische Gesellschaft: Kein Platz für ein Happy End
> Wie im Vorübergehen, aber doch in aller Grausamkeit: Der Film
> „Photograph“ von Ritesh Batra entlarvt Vorurteile in der indischen
> Gesellschaft.
Bild: Fern vom Bollywood-Klischee: Die Liebe von Miloni und Rafi ist zum Scheit…
Berlin taz | Es gibt nicht viele Länder, in denen solche Unterschiede
klaffen wie in [1][Indien]. Tief, sehr tief sind sie, die Gräben zwischen
Kasten und Religionen, zwischen Stadt und Land, zwischen oben und unten.
Und zwischen Bollywood und dem Arthouse-Film. „Photograph“ versucht Brücken
zu schlagen über diese Klüfte und steht deshalb unter einer Spannung, die
man dem Film allerdings erst auf den zweiten Blick ansieht.
Denn erst einmal wirkt „Photograph“ ganz harmlos. Ganz ruhig und
unaufgeregt, in einfachen Einstellungen und mit simplen Dialogen erzählt
Ritesh Batra von Rafi, der sein Geld als Fotograf verdient. Ausgestattet
mit Digitalkamera und Minidrucker wartet er im frisch gestärkten weißen
Hemd mit Dutzenden gleichgekleideter Kollegen vor dem Gateway of India, der
größten Touristenattraktion von Mumbai, auf Menschen, die sich vor dem
Triumphbogen, durch den einst die letzten britischen Truppen aus Indien
abzogen, ablichten lassen wollen. Hier trifft er Miloni – und verliert sie
sofort wieder.
Die sich anschließende Suche und die vorsichtige Annäherung zwischen den
beiden wäre eigentlich der Stoff für eine klassische Liebesgeschichte. Als
Rafi dann noch seiner Großmutter, die ihn zur Heirat drängelt, schreibt, er
habe mit Miloni eine Braut gefunden, und die resolute alte Dame auftaucht,
um zu überprüfen, ob die angebliche Braut auch standesgemäß ist, steht
eigentlich alles bereit für eine zünftige Romantic-Comedy.
Aber in diese Falle geht „Photograph“ nicht, sondern spielt lieber
geschickt mit den international abgesicherten Gesetzen des Genres. Batra
setzt den Witz ebenso sparsam ein wie die Romantik. Beide werden eher
erdrückt von den gesellschaftlichen Bedingungen, die die beiden Liebenden
zwar tapfer zu ignorieren versuchen, die aber letztendlich das zentrale
Thema des Films sind.
## Eine unmögliche Liebe
Denn Rafi und Milona leben in verschiedenen Welten. Er stammt aus einem
kleinen Dorf in der Provinz, lebt mit vier Freunden in einem kleinen Zimmer
im Slum, auf dessen Blechdach schwer der [2][Monsunregen] trommelt. Sie
dagegen ist angehende Wirtschaftsprüferin, ihre Eltern sind das, was man in
Indien als Mittelklasse bezeichnet, also reicher als die große Mehrheit,
aber doch nicht wohlhabend genug, um die Tochter zum Studium ins Ausland
schicken zu können. Wenn Miloni nachts büffelt für den Unterricht in ihrer
Privatschule, bringt den Tee die Haushaltshilfe der Familie, die danach in
der Küche ihre Matratze ausrollt.
Wer Indien nur ein wenig kennt, weiß: Es ist eine unmögliche Liebe, die
keine noch so kleine Chance hat, den Segen der Familien und der
Gesellschaft zu bekommen. Selbst in der Metropole Mumbai, in die sich
Millionen Menschen wie Rafi flüchten, weil sie vom Aufstieg träumen und im
hektischen Trubel auf den Straßen zumindest eine oberflächliche Freiheit
finden, gelten weiter jene Kastenzwänge, Klassenunterschiede und religiösen
Differenzen, die alles bestimmen, Politik und Wirtschaft, Kunst und Alltag,
und nicht zuletzt eben auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern.
Dieses Dilemma, das ein nationales ist, bricht „Photograph“ auf die
kleinste denkbare Einheit hinunter: Ein Mann, eine Frau, die Liebe, die
hier aber eben nicht stark genug ist, nicht einmal im Kino stark genug sein
kann, um alle Widerstände zu überwinden. Aber bis auch die beiden
Protagonisten die Unmöglichkeit ihrer Liebe anerkennen, erzählt der Film
ein paar ebenso simple wie erhellende Episoden, die die indische
Wirklichkeit auf den Punkt bringen: Als Miloni sich einmal zu einem Eis am
Straßenstand überreden lässt, kapituliert prompt ihr verwöhnter
Mittelstandsmagen. Als Rafis Freunde Miloni kennenlernen, muss er sich
Witze gefallen lassen, dass sie viel zu hellhäutig für ihn, er viel zu
dunkel für sie ist. Wie im Vorübergehen, aber doch in aller Grausamkeit
entlarvt der Film so Klischees, Vorurteile, Rassismus.
## Es geht hinunter, in die Gräben
In gewisser Weise erzählt „Photograph“ also eine ähnliche Geschichte wie
„Lunchbox“, mit dem Regisseur Batra 2013 nicht nur einen Erfolg bei den
Kritikern, sondern auch beim indischen und internationalen Publikum
feierte. Doch während es „Lunchbox“ gelang, die indischen Realitäten als
leichte Komödie zu verpacken, sich dafür aber schlussendlich der eigenen
Märchenhaftigkeit ergibt, verlässt Batra mit „Photograph“ die indische
Mittelklasse und taucht ab in die Gräben, die sich durch die indische
Gesellschaft ziehen.
Dort unten ist kein Platz für ein Happy End. Selbst Heldin und Held wollen
wohl an ein Wunder glauben, können aber nicht einmal sich selbst davon
überzeugen, dass dieses Wunder wirklich geschehen könnte. Solidarisch mit
seinen Protagonisten kapituliert „Photograph“ vor der Realität – und
erzählt damit viel über Indien.
8 Aug 2019
## LINKS
[1] /Kaschmir-verliert-Autonomie/!5610949
[2] /Hitzewelle-in-Indien/!5604854
## AUTOREN
Thomas Winkler
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Bollywood
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