| # taz.de -- #MeToo in Film- und Theaterwelt: Ein strukturelles Problem | |
| > Die Vertrauensstelle „Themis“ zieht nach anderthalb Jahren Bilanz: Bisher | |
| > wurden 255 Fälle sexueller Belästigung bei Kreativ-Arbeit gemeldet. | |
| Bild: Wegen Corona steht die Kreativbranche still. Doch Anrufe wegen sexueller … | |
| Machtgefälle“ steht dort in gefetteten Lettern, gefolgt von den immer | |
| kleiner werdenen Worten: „Abhängigkeitsverhältnis“, „Räumliche Nähe�… | |
| „Ungeschriebene Gesetze“, und „Körper als Werkzeug“: Eine sogenannte | |
| Themenwolke aus Begriffen soll die Besonderheiten der Film- und | |
| Fernsehbranche spiegeln. Die Schrift ist desto größer, je öfter oft sie | |
| genannt wurden. | |
| Gesammelt wurden diese unmissverständlichen Sprachbilder von [1][„Themis“, | |
| der „Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt“], die im | |
| Oktober 2018 im Zuge der #MeToo-Bewegung gegründet wurde und sich als | |
| interdisziplinäre Beratungseinrichtung für die Kreativwirtschaft versteht. | |
| Betroffene aus der Film-, Fernseh- oder Theaterbranche können sich an | |
| Themis wenden. Nach anderthalb Jahren Arbeit hat Themis vor zwei Wochen mit | |
| dieser „qualitativen Interviewstudie“ die erste große Auswertung vorgelegt. | |
| Der gut [2][50-seitige Evaluationsbericht], dem 16 Interviews zugrunde | |
| liegen, liest sich teilweise wie bewusster Seelenstrip: „Wenn ich in diesem | |
| besonderen Zustand beim Spielen bin“, sagt ein*e Gesprächsteilnehmer*in, | |
| „sind meine Grenzen anders als wenn ich jetzt hier auf dem Stuhl sitze. Man | |
| ist aufgefordert, man fordert sich ja selber auch auf, in so einem Moment | |
| offen zu sein.“ Es geht um den Wunsch an den oder die Schauspieler*in, sich | |
| verwundbar zu zeigen – ohne eine emotionale Nähe zur Figur kann und will | |
| kaum ein*e Schauspieler*in arbeiten. Die Gefahren stecken also im System, | |
| vielleicht sogar im Job selbst. | |
| Die Studie nennt sämtliche Pferdefüße der Branche, von der „Herausforderung | |
| Körperlichkeit“ – einem Thema, das auch in jedem ärztlichen und Pflegeber… | |
| auftritt, nur in viel eindeutiger definierten Rollen, über „unsichere | |
| Arbeitsbedingungen“, also befristete Verträge, große Konkurrenz, geringe | |
| Entlohnung, bis hin zum dicksten Pferdefuß: Das Thema „Gender und ungleiche | |
| Geschlechterverhältnisse wurde als zentral in der Zusammenarbeit, bei | |
| Entscheidungsprozessen und insbesondere bei der Besetzung von Positionen in | |
| der Film-, Fernseh- und Bühnenbranche genannt“, so die | |
| Studienmacher*innen. Sie erwähnen „sexualisierte Berührungen ohne | |
| Konsens“, die Beispiele dazu stammen größtenteils von Frauen, die über | |
| Männer reden. „Genderverhältnisse“ ist das am fettesten gedruckte Wort der | |
| Themenwolke. | |
| ## Drehstopps und Jobunsicherheiten | |
| All diese Dinge wurden jedoch abgefragt, bevor sich das Coronavirus in | |
| Deutschland stark ausbreitete. Wie die momentanen immer noch fast überall | |
| herrschenden Drehstopps und die wachsende Jobunsicherheit sich auf die | |
| Situation von weiblichen Branchenmitgliedern auswirken, konnte dabei noch | |
| nicht berücksichtigt werden. „Unsere Beobachtung ist“, sagt Eva Hubert aus | |
| dem Themis-Vorstand dazu, „dass sexuelle Übergriffe in beinahe allen Fällen | |
| schlicht Machtmissbrauch darstellen. Zukunftsängste und drohende | |
| Arbeitslosigkeit verschärfen Machtverhältnisse. Insofern müssen wir darauf | |
| achten, dass diese Ängste in der Zeit nach Corona nicht ausgenutzt werden | |
| und sich Ausbeutungsmuster nicht manifestieren.“ Die Erkenntnis müsse sich | |
| durchsetzen, dass auf die schwächeren und machtlosen Mitarbeiter*Innen | |
| besonders geachtet werden muss, dass sie explizit gefördert und gestärkt | |
| werden. | |
| Die auf die Medienbranche spezialisierte Berliner Consultingagentur „Langer | |
| Media“ hatte im April eine Onlineumfrage zur aktuellen Krise gestartet. | |
| Fast 5.000 Film- und Fernsehschaffende haben bis Ende April mitgemacht, | |
| davon knapp 42 Prozent Frauen. Bei der Erhebung ging es um die „Wirksamkeit | |
| der Soforthilfemaßnahmen“ – heraus kam, wenig überraschend, dass über 92 | |
| Prozent der Befragten negative oder „sehr negative“ Auswirkungen der | |
| Coronakrise auf ihre Arbeitssituation erwarten. | |
| Und das in einem Umfeld mit „besonders atavistischen Machtstrukturen“, wie | |
| der Autor Thierry Chervel vor zwei Jahren in einem [3][Essay in der Welt ] | |
| der gebeutelten Branche attestierte. Sie sei „eine Art Feudalismus mit Ius | |
| primae noctis [Recht der ersten Nacht]. Kann es sein“, schrieb er weiter, | |
| „dass ein Chef eines wirklich modernen Unternehmens sich noch aufführen | |
| würde wie Harvey Weinstein und Positionen nach sexueller Fügsamkeit | |
| vergibt?“. Und er fragte: „Wo sonst – außer in Armeen und der katholisch… | |
| Kirche – gibt es noch derart lineare und unkontrollierte Hierarchien wie in | |
| Theatern, Opern, Orchestern und im Kino?“ | |
| Nun mögen beide Texte, der von Themis und der von Chervel, mit dem damals | |
| frischen Weinstein-Skandal zusammenhängen. Doch die Krise wird die | |
| „unkontrollierten Hierarchien“ kaum in Luft auflösen. Mit der | |
| [4][Verurteilung des Hollywoodmoguls am 11. März] dieses Jahres, kurz | |
| bevor das Virus schon in der Ferne sichtbar wurde, ist zu befürchten, dass | |
| das bei vielen mühsam geweckte Bewusstsein für diese Themen wieder | |
| schwindet: In der Krise geht es schließlich nicht nur den Frauen schlecht. | |
| Überhaupt sollte eine Gesellschaft doch eher auf Solidarität bauen, als auf | |
| Trennung nach Gender (oder Alter, oder Berufssituation). | |
| ## Die Täter sind fast alle Männer | |
| Dennoch darf nicht vergessen werden, was die Themis-Studie offenbart: Bis | |
| Ende März wurden unter der Berliner Telefonnummer 255 Fälle von sexueller | |
| Belästigung am Arbeitsplatz gemeldet, von verbalen Belästigungen bis hin zu | |
| Vergewaltigungen. Die Opfer waren zu 85 Prozent Frauen, die Täter fast alle | |
| Männer. Die Branche, die gerade eine der größten Herausforderungen seit | |
| ihrem Bestehen zu meistern hat, kann Frauen gleich aus zwei Gründen | |
| gefährlich werden: Weit über 80 Prozent der in der aktuellen | |
| Filmschaffenden-Umfrage Befragten sind Freiberufler*innen oder nur auf Zeit | |
| (während der Produktion eines Films) beschäftigt. Das bedeutet, dass sie | |
| durchschnittlich prekärer leben als der Rest. Dass das Prekariat in | |
| Deutschland vor allem weiblich ist und größtenteils aus Müttern besteht, | |
| [5][hat die Hans-Böckler-Stiftung vor zwei Jahren nachgewiesen]. | |
| Der andere Grund ist die schon genannte berufsimmanente | |
| Grenzüberschreitung. Da differenziert Hubert aus dem Themis-Vorstand: „Zum | |
| einen geht es um den beruflichen Alltag. Da ist schnell eine | |
| Drehbuchbesprechung zwischen Regisseur und Schauspielerin abends im | |
| privaten Umfeld angesetzt, eine in anderen Arbeitsumgebungen eher | |
| irritierende Situation. Hier gilt es, einen Kulturwandel in der Branche | |
| herbeizuführen, Grenzen sagbar zu machen.“ Das andere, erklärt sie, seien | |
| Überschreitungen bei der Berufsausübung, zum Beispiel bei expliziten | |
| Sexszenen. „Das ist einerseits sicher Teil des künstlerischen Ausdrucks von | |
| Drehbuch und Regie, dennoch müssen auch diese Szenen im Einzelnen mit den | |
| beteiligten Schauspieler*innen ausgehandelt werden.“ Hubert plädiert dafür, | |
| „Intimacy Coordinators“ – also eine Art Berater*in für Erotikszenen – … | |
| unabhängige und fachkundige Mittler einzusetzen, um in solchen Situationen | |
| Machtmissbrauch zu verhindern. | |
| Und auch in Schauspielschulen herrschen oft noch genau diese alten | |
| Strukturen, die Hierarchien und missbräuchliche Relationen zwischen älteren | |
| Männern auf der Dozentenseite und jungen, unsicheren Frauen auf der | |
| Bewerber*innenseite stärken. „Ich kann dir sagen, von welcher Schule eine | |
| Schauspielerin stammt, weil ich die Vorlieben der dortigen männlichen | |
| Aufnahmeprüfer kenne“, sagt eine Theaterregisseurin. | |
| Das Coronavirus legt momentan viele gewachsene Strukturen in Schutt und | |
| Asche. Es hat nicht nur die Kreativbranche zu einem unfreiwilligen Stopp | |
| gezwungen. Aber während in anderen Bereichen wie der Gastronomie | |
| hoffentlich viele, besser noch alle überleben und weitermachen und die | |
| zunehmende Anerkennung der Pflegeberufe sogar zu einer besseren Honorierung | |
| führen könnte, muss man die Kunst-Pause unbedingt nutzen, um die Strukturen | |
| zu verändern. | |
| Immerhin: Kulturministerin Monika Grütters sieht das genauso. „Wir brauchen | |
| einen grundlegenden Kulturwandel in allen Kreativbranchen! Deshalb ist es | |
| wichtig, dass sich noch mehr Verbände der Themis anschließen“, zitiert die | |
| Pressemitteilung der Beratungsstelle Grütters. Und Eva Hubert weist darauf | |
| hin, dass die Arbeit in der Pause weitergeht: „Nach wie vor melden sich | |
| täglich Betroffene. Für uns ist es deshalb wichtig, verstärkt | |
| Präventionsangebote zu entwickeln.“ Damit die momentane Krise nicht auch | |
| noch die Probleme mit sexueller Gewalt verstärkt. | |
| 7 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Hilfe-bei-Missbrauch-in-Film-und-TV/!5508867 | |
| [2] https://themis-vertrauensstelle.de/wp-content/uploads/2020/04/THEMIS_Interv… | |
| [3] https://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article173283808/Essay-Kultur-re… | |
| [4] /Strafmass-fuer-Harvey-Weinstein-verkuendet/!5671337 | |
| [5] https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_085_2018.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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