# taz.de -- Gleichstellung in Filmbranche: „Etwas Grundlegendes verändern“ | |
> Die Studie „Vielfalt im Film“ will herausfinden, wer in Deutschland vor | |
> und hinter der Kamera arbeitet – und Auswirkungen der Coronakrise darauf. | |
Bild: Ryan O’Connell (l.) spielt in „Special“ eine queere behinderte Figu… | |
taz: Skadi Loist, Joshua Kwesi Aikins, Sie haben eine Umfrage über | |
Gleichstellung in der Filmbranche mit initiiert, die am Freitag startet. | |
Sie wollen die Erfahrungen von 30.000 Menschen im deutschsprachigen Raum | |
erheben und auswerten. Warum? | |
Joshua Kwesi Aikins: [1][Film- und Fernsehproduktionen im deutschsprachigen | |
Raum spiegeln die Gesellschaft leider nicht wider]. Sie müssten das aber | |
tun, da sie wichtige Medien sind, über die eine Selbsterzählung der | |
Gesellschaft entsteht: Wer sind wir, wer gehört da dazu? Deshalb müssen | |
sich in der Filmproduktion alle wiederfinden können, in ihrer | |
Vielfältigkeit. | |
Skadi Loist: In dieser Studie geht es jedoch weniger darum, was auf dem | |
Bildschirm zu sehen ist, also die Repräsentationsmuster in Filmen. Wir | |
erheben stattdessen die Vielfalt hinter der Kamera: Wer arbeitet da, wer | |
ist wie vertreten in den verschiedenen Gewerken. Die Erzählung, die | |
entsteht, hängt nämlich auch davon ab. Das heißt natürlich nicht, dass | |
Frauen nur Frauengeschichten erzählen sollen oder Schwule | |
Schwulengeschichten. Was wir uns wünschen, ist keine | |
Eins-zu-eins-Übersetzung, sondern dass Menschen aus allen Bereichen der | |
Gesellschaft in den verschiedenen Berufsgruppen beim Film eine Chance | |
haben. Und dass auf diese Weise die erzählten Geschichten anders und | |
komplexer werden, weil bestimmte Erfahrungshorizonte mitschwingen. | |
Skadi Loist, Sie forschen auch zu Arbeitsbedingungen vor und hinter der | |
Kamera. Wo sehen Sie in Sachen Gleichstellung den dringendsten | |
Handlungsbedarf? | |
Loist: Das offensichtlichste Problem für das Erreichen von Diversität in | |
der Branche ist die Überrepräsentation von weißen Männern auf allen Ebenen, | |
aber darin erschöpft es sich nicht. Es gibt etliche weniger augenfällige | |
Muster von Diskriminierung. Deshalb ist diese Studie so wichtig. Sie wird | |
die erste [2][intersektionale] Erhebung in dieser Branche sein, also die | |
erste Studie, die viele Kategorien zusammen erhebt. Nicht nur Gender, | |
sondern: Race, Ethnie, Sexualität, sozialer Status, Ost-West-Position, | |
Behinderung, trans Identität – es wird alles gleichzeitig abgefragt. | |
Was genau werden die Teilnehmenden in der Onlineerhebung gefragt? | |
Aikins: Es gibt mehrere Teile. Zunächst sollen die anonym Teilnehmenden | |
angeben, in welchem Gewerk sie arbeiten. Dann gibt es ein demografisches | |
Profil, wo die Teilnehmenden zur Selbstbezeichnung eingeladen sind. Es ist | |
nämlich dringend notwendig zu differenzieren zwischen der äußeren | |
Zuschreibung von Kategorien, die meist Diskriminierung zugrunde liegt, und | |
der eigenen Selbstdefinition. Danach gibt es die Möglichkeit, Angaben zu | |
Diskriminierungserfahrungen zu machen. Etwa Erlebnisse am Filmset, aber | |
nicht nur, wir fragen auch nach dem Privatbereich. Denn wir gehen davon | |
aus, dass auch bestimmte Vermeidungsstrategien mit zum Gesamtbild gehören. | |
Etwa bei der sexuellen Orientierung, wo Menschen sich womöglich überlegen, | |
ob sie das überhaupt im Arbeitskontext offenbaren. | |
Und schließlich betrachten wir die [3][Auswirkungen der Coronakrise] auf | |
sämtliche abgefragten Diskriminierungskategorien. Etwa vermuten wir, dass | |
der latente Sexismus in der Branche sich durch die angespannte Situation in | |
der Pandemie verschlimmert haben könnte, das fragen wir also auch ab, | |
ebenso wie das Feld der Belästigung und der sexualisierten Gewalt. Wir | |
werden auch nach möglichen Gegenmaßnahmen fragen, die die Teilnehmenden für | |
effektiv halten. Unsere Daten sind ja nämlich kein Selbstzweck, sondern | |
haben ein Ziel: Alle Akteure zu befähigen, auf umfassende Chancengleichheit | |
hinzuwirken. | |
Was bedeutet es, intersektional empirisch zu forschen? | |
Loist: Es gibt bereits einige Studien, die unter dem Stichwort „Diversität“ | |
liefen, wo es dann aber primär um die Genderverteilung geht oder höchstens | |
um eine weitere Kategorie. Es ist aber nötig, mehr Dimensionen und ihre | |
Verschränkung zu sehen. Wir sind mittlerweile in einer Situation, wo die | |
deutsche Branche bei internationalen Kooperationen in Zugzwang gerät. In | |
anderen Ländern ist Vielfalt längst ein Aspekt in der Filmförderung. Zum | |
Beispiel in den 2016 vom British Film Institute eingesetzten Diversity | |
Standards. Diese sind inzwischen eine wichtige Referenz auch im | |
deutschsprachigen Raum. | |
Wer sich den Diskurs in Großbritannien, Kanada oder den USA anschaut, | |
bemerkt, wie anders dort über Ethnizität oder Race gesprochen wird. In | |
Deutschland gilt das bisher als Nebenaspekt. Erst mit dem Tod von George | |
Floyd scheint den Deutschen wieder eingefallen zu sein, dass es | |
[4][Rassismus] gibt. Intersektional forschen ist natürlich erst einmal eine | |
Herausforderung. Wie erhebe ich eine Statistik, in der sich die einzelne | |
Person wiederfindet, die aber auch sinnvoll zu erheben ist. Welche | |
Definitionen verwende ich überhaupt? Existierende statistische Kategorien | |
wie der „Migrationshintergrund“ helfen da kaum weiter, da sie | |
Diskriminierungserfahrung aufgrund von Hautfarbe nicht zwingend abbilden | |
Aikins: Deswegen haben wir bewusst in der Konzeption der Studie mit | |
Vertreter*innen unterschiedlicher Selbstorganisationen von Menschen mit | |
Diskriminierungserfahrung gearbeitet, also verschiedenste Perspektiven | |
zusammengebracht. Dieses Vorgehen ist ein Grundprinzip unserer Arbeit zur | |
Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten – der | |
konzeptionelle Einbezug der Gemeinschaften, um deren Erfahrungen es geht, | |
ist eines der Kernprinzipien, die wir dazu entwickelt haben. Grundideen, | |
Vorgehen und die Qualitätskriterien stellen wir in der frei verfügbaren | |
Publikation „Wer nicht gezählt wird, zählt nicht“ dar. Das hat uns | |
ermöglicht, genauer die spezifischen Verletzlichkeiten und Dynamiken zu | |
begreifen, die in der Überschneidung von Diskriminierungen entstehen | |
können. | |
Nehmen wir die Erfahrung, die uns eine Schauspielerin of Color berichtete | |
hat: Sie erhielt zum einen immer wieder sehr spezifische Rollenangebote | |
eines bestimmten Typs, nämlich Prostituierte. Zugleich erlebte sie | |
unmissverständliche sexuelle Avancen, die mit dem Rollenangebot verknüpft | |
waren. Da überlagern sich also verschiedene Verletzlichkeiten: Frausein | |
und rassistische Zuschreibung. Nun könnte man etwa noch die Altersdynamik | |
dazunehmen oder soziale Herkunft, und trans Identität. Solche | |
Verschränkungen können wir dann an unserem Datenmaterial abprüfen. | |
Wie wollen Sie mit der Ergebnisfülle umgehen? | |
Aikins: Es gibt einen quantitativen Teil mit Multiple-Choice-Fragen, der | |
sich statistisch auswerten lässt, sowie auch Felder, in die freier Text | |
eingetragen werden kann. Diesen kodieren wir nach bestimmten thematischen | |
Mustern. Das lässt sich dann wiederum an die quantitativen Daten | |
zurückbinden und ergibt dann ein Gesamtbild aus gemischten Methoden. Der | |
intersektionale Ansatz erlaubt dabei, Menschen facettenreicher zu | |
betrachten anstatt festgelegt auf einen Aspekt ihres Seins. | |
Loist: Ziel ist, wie gesagt, nicht, einfach einen Status quo abzubilden, | |
sondern auch Anregungen für mögliche Maßnahmen zu entwickeln – in der | |
Hoffnung, dass die Branche endlich anfängt, darüber nachzudenken, etwas | |
Grundlegendes zu verändern. Wenn wir diversere Geschichten vor der Kamera | |
wollen und weniger Problemfilme mit stereotypen Rollen, dann brauchen wir | |
Menschen hinter der Kamera, die ihre diversen Erfahrungen einbringen und | |
nuanciertere Geschichten miterzählen können. | |
17 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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