| # taz.de -- Neues Buch von Politologe Max Czollek: Im Ring mit der Leitkultur | |
| > In „Gegenwartsbewältigung“ rechnet Max Czollek mit der deutschen | |
| > Vergangenheitsbewältigung ab. Er demontiert das hiesige | |
| > Nationalverständnis. | |
| Bild: Schluss mit dem Integrationstheater, in der Realität ist Deutschland sch… | |
| Halle, Hanau, NSU und Nazis im KSK. [1][Max Czollek] hat genug von | |
| politischen Kampfbegriffen wie [2][„Heimat“ oder „Leitkultur“]. Deshalb | |
| begnügt sich der Autor, Publizist und Politologe nicht mehr damit, die | |
| Debatte darüber, wer zu Deutschland gehört, zu kritisieren. Er möchte die | |
| Idee einer Gesellschaft, in die man hineingeboren werden muss, um sie | |
| mitprägen zu dürfen, am Boden liegen sehen – vom Ringrichter unter tobenden | |
| Jubelschreien angezählt. | |
| Und weil das bisher noch nicht geschehen ist, lädt Czollek in seinem neuen | |
| Essay „Gegenwartsbewältigung“ zum Ringkampf gegen das, was er „deutsche | |
| Dominanzgesellschaft“ nennt. „Die Leitkultur hängt in den Seilen, der | |
| Trainer massiert ihr die Schultern und legt ihr ein frisches weißes | |
| Handtuch um den Nacken.“ | |
| Wer nach Sätzen wie diesem meint, „Gegenwartsbewältigung“ gehe mehr um | |
| Klamauk als um Inhalt, liegt falsch. Spätestens seit Veröffentlichung | |
| [3][seiner Streitschrift „Desintegriert euch!“] sollte klar sein, dass | |
| Czollek beides kann: Lärm machen und Debatten mit Inhalt füllen. In seinem | |
| ersten Buch deckte Czollek die eindimensionale Rolle auf, die Jüd:innen | |
| und Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen „Integrationstheater“ | |
| zugeschrieben wird. | |
| In „Gegenwartsbewältigung“ verhandelt der 33-Jährige Strategien, mit der | |
| sich gesellschaftliche Teilhabe und Solidarität für Gruppen erkämpfen | |
| lässt, die abseits der deutschen Mehrheitsgesellschaft leben. Und das nicht | |
| mehr im „Integrationstheater, sondern im Ring. Bei diesem Match ist er | |
| nicht allein. | |
| ## Adorno im „schwarzen Mankini“ | |
| Denn in „Gegenwartsbewältigung“ holt sich Czollek die Unterstützung | |
| unterschiedlicher Autor:innen und Denker:innen wie [4][Naika Foroutan], | |
| [5][Aladin El-Mafaalani], [6][Hannah Arendt] oder Theodor W. [7][Adorno], | |
| der „knapp bekleidet“ im „schwarzen Mankini“ in den Ring steigt und auf | |
| dessen Rücken die ersten Takte von Schönbergs „Ein Überlebender aus | |
| Warschau“ prangen. | |
| Der Ausgangspunkt für eine Debatte darüber, warum manche Menschen in dieser | |
| Gesellschaft Solidarität und Teilhabe erfahren und andere nicht, beginnt im | |
| Jahr 2020, wie könnte es anders sein, mit dem Corona-Lockdown. Corona, das | |
| sei in Merkels geschichtsträchtigen Worten die größte Herausforderung „seit | |
| der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg“. Czollek macht | |
| dieser Satz stutzig, und er nutzt ihn als Ausgangspunkt für sein knapp | |
| 200-seitiges Essay. | |
| Denn eigentlich erinnern ihn die Worte, mit der die Bundeskanzlerin an die | |
| deutsche Bevölkerung herantrat, nicht an die Zeit nach dem Zweiten, sondern | |
| an die Generalmobilmachung vor dem Ersten Weltkrieg. Damals schwor Kaiser | |
| Wilhelm II. ein vielfach gespaltenes Deutschland mit der Formel „Ich kenne | |
| keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ darauf ein, an einem | |
| Strang zu ziehen. | |
| Und damals wie heute zogen alle mit, auch jene Gruppen, denen sonst keine | |
| Solidarität zuteil wurde, im Gegenteil. Damals waren es | |
| Sozialdemokrat:innen, Jüd:innen, die davor wie danach diskriminiert, | |
| verfolgt und ausgelöscht wurden. Heute sind es (Post-)Migrant:innen und | |
| einmal mehr Jüd:innen, auf die nur wenige Wochen vor dem Lockdown in Hanau | |
| und in Halle geschossen wurde. | |
| ## Produktive Bewältigung der eigenen Geschichte | |
| Den Schlüssel, um zu verstehen, wieso „wir in einer Gesellschaft leben, die | |
| manche verrecken lässt und manche nicht“, sucht Czollek in der Geschichte. | |
| Genauer: dem, was wir zur deutschen Geschichte erheben. Dabei ist | |
| „Gegenwartsbewältigung“ durchaus als Antwort auf das Konzept der | |
| Vergangenheitsbewältigung zu sehen, also der produktiven Bewältigung der | |
| eigenen Geschichte. | |
| Eindrucksvoll deckt Czollek auf, dass Deutschland es mit dieser | |
| Aufarbeitung doch nicht so genau genommen hat, wie viele glauben möchten. | |
| Dass die Schicksalsjahre 1945 und 1989/90 keine Brüche in der deutschen | |
| Geschichte markieren, sondern vielmehr die Fortsetzung eines knapp 200 | |
| Jahre alten, nationalistischen Gesellschafts- und Kulturverständnis | |
| darstellen, nur eben unter anderen Vorzeichen. | |
| Dafür findet Czollek Argumente zuhauf. Etwa wenn er den | |
| Geschichtsrevisionismus anklagt, mit dem man hierzulande Stadtschlösser | |
| wiederaufbaut, um darin „kleptomanische Humanisten“ wie Alexander von | |
| Humboldt zu verehren oder mit dem sich ein Alexander Gauland wünscht, „von | |
| großen Gestalten der Vergangenheit“ wie Otto von Bismarck lernen zu dürfen, | |
| von denen man sich allenfalls „Strategien zum Verhökern eines ganzen | |
| Kontinents“ abschauen könne. | |
| Und nicht zuletzt, wenn er die Kontinuität aufdeckt, mit welcher der | |
| Antisemit Richard Wagner und zeitgenössische Kulturtheoretiker:innen | |
| wie Andreas Reckwitz oder Thea Dorn gleichermaßen argumentieren, „erst | |
| nationale Verwurzelung ermögliche gute Kunst“. | |
| ## Von Wagner über Grass bis zu Samy Deluxe | |
| Dass all das „gequirlter Quatsch“ ist, zeigt ein kurzer Realitätscheck, | |
| den „Gegenwartsbewältigung“ dankenswerterweise mitliefert. Deutsche Kultur, | |
| das seien eben schon lange nicht mehr nur Männer wie der Antisemit Richard | |
| Wagner, der SS-Mann Günter Grass oder der Wehrmachtssoldat Heinrich Böll, | |
| sondern ebenso die afrodeutsche Dichterin May Ayim, der jüdische Lyriker | |
| Paul Celan oder der deutsch-sudanesische Rapper Samy Deluxe. | |
| Wie aber geht man mit einer Gesellschaft um, in der Selbstverständnis und | |
| Realität schon lange nicht mehr zusammenpassen? Auch dafür hält | |
| [8][Czollek] eine Antwort parat: Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch | |
| radikale Vielfalt. Das bedeutet: „Die Realität der postmigrantischen | |
| Gesellschaft anerkennen“, in dem man ihr Potenzial nutzt, „historische und | |
| kulturelle Bezugspunkte jenseits der deutschen Tradition“ herzustellen. | |
| Konkret heißt das, das Narrativ um die deutsche Nachkriegsgesellschaft um | |
| eben die Perspektiven zu erweitern, die zwar schon immer da waren, aber nie | |
| erzählt wurden. Denn Nachkriegsdeutschland ist eben nicht nur Wiederaufbau, | |
| Wiedervereinigung und Willkommenskultur. | |
| Sondern eben auch anhaltender Naziterror, die Treuhandanstalt sowie die | |
| Integrationsleistung von knapp einem Viertel unserer Gesellschaft. „Die | |
| Leitkultur klopft vor Schmerz auf den Boden, die Kommentatoren johlen in | |
| ihrem Kabuff.“ | |
| 23 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Patrick Wagner | |
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