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# taz.de -- Gedichtband von Max Czollek: Lyrischer Luftangriff
> Fakt oder Fiktion? Max Czollek lässt diese Frage in „Grenzwerte“ meist
> offen. Der Band ist voller Anspielungen auf die deutsch-jüdische
> Geschichte.
Bild: Max Czollek ist Teil des Lyrikerkollektivs G13 und wirkt im „Studio Я�…
Für empfindliche Leser:innen ist Max Czolleks Lyrik ganz sicher nichts.
Ein Czollek-Vers geht zum Beispiel so: „ein gefühl wie eure großstädte nach
dem luftangriff“. Wer da empfindlich reagiert, sei gewarnt: Diese Zeile ist
durchaus typisch für seinen kleinen Gedichtband „Grenzwerte“.
Spätestens seit seiner Streitschrift „Desintegriert euch“ (2018), in der
Czollek die Rolle der Jüd:innen in der deutschen Erinnerungskultur
dekonstruiert, kennt man nicht nur Czolleks Positionen, sondern auch den
aggressiven Ton, mit dem er diese formuliert. Für den hat er einen guten
Grund, zeigen seine Beobachtungen doch, welch einseitige Rollen
[1][Jüd:innen und anderen Minderheiten in der deutschen Gegenwart] oft
zugeschrieben werden.
[2][Identitäten abseits der deutschen Mehrheitsgesellschaft] verhandelt hat
der 32-Jährige aber schon zuvor, etwa in seinen Werken „Druckkammern“
(2012) und „Jubeljahre“ (2015). Dort aber nicht als Sachbuchautor, sondern
auch schon als Lyriker.
In seiner jüngsten Veröffentlichung kommentiert Czollek deutsche Diskurse
erneut als Dichter, und das möglichst scharf. Lyrik heißt bei ihm:
[3][Gegenwartsbewältigung]. Doch dabei beschränkt sich Czollek nicht auf
das Hier und Jetzt, sondern schreibt über historische Ereignisse oder
Szenen, die er während seiner Aufenthalte in der Ukraine, der Türkei und
Zentralasien einmal erlebt hat.
## Anne Frank überlebte in „Grenzwerte“ die Shoah
Abgesehen von den Kapiteln, die von Mario Hamborg illustriert wurden, gibt
es in dem Band wenig erkennbare Struktur. Die Gedichte selbst halten sich
an keine „Regeln“, Czollek arbeitet nicht mit Reimschemata oder bestimmten
Gedichtformen. Mal bauen Texte innerhalb der Kapitel aufeinander auf, mal
hängen sie bloß thematisch zusammen oder scheinen gar lose
zusammengewürfelt. Die Grenzen zwischen Ichperspektive und Betrachtung
scheinen zu verschwimmen.
Dabei mischt Czollek gekonnt Fakt mit Fiktion. Wie im Kapitel „Kosher
Nostra“. Dort porträtiert er jüdischstämmige Mafiosi im New York des früh…
20. Jahrhunderts und ergänzt deren Biografien mit eigener Imagination und
lässt andere historische jüdische Figuren erscheinen, die mit der New
Yorker Mafia nichts zu tun haben.
Und er lässt Anne Frank die Schoah überleben und sie als Wiedergängerin der
Bauhausschülerin Anni Albers nach North Carolina fliehen. Czollek
ermöglicht durch solche kontrafaktischen Erzählungen vielschichtigere
Lesarten jüdischer Geschichte als jene, die im Zentrum der deutschen
Gedenkpolitik an die Schoah stehen.
Dabei sind seine Gedichte voll subtiler Referenzen und bitterem Zynismus.
Zum Beispiel, wenn er mit den Worten „Czollek schenkt den Deutschen ein
Gedicht“ den NS-Propagandafilm „Hitler schenkt den Juden eine Stadt“
zitiert.
## Mit den Waffen der Lyrik
Oder wenn er über seinen Besuch in der Gedenkstätte von Babyn Jar schreibt.
Dem Ort, an dem die Wehrmacht 1941 mehr als 33.000 Juden vernichtete. Dort
schüttelt das lyrische Ich dem deutschen Kulturattaché die Hand und hält
eine Lesung vor leeren Rängen. Warum die Sitze leer sind? „die
dreißigtausend zuhörer:innen / aus dem kartenvorverkauf wurden erschossen“.
Hier verschmilzt Erlebtes mit Imaginiertem, Gegenwart mit Vergangenheit. Es
entsteht eine alternative lyrische Wirklichkeit.
Derlei Polemik zieht sich durch alle Ebenen des Gedichtbands und macht
nicht mal vor der typografischen Gestaltung halt. Gestalter Dominik Ziller
hat sich für eine Typo namens „Grenze“ entschieden. Die ist von der
„Gebrochenen Grotesk“ inspiriert, eine Schriftfamilie, die von den
Nationalsozialisten zunächst als urdeutsch instrumentalisiert und später
von Hitler persönlich 1941 als „Schwabacher Judenlettern“ mit der
angeblichen jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung in Verbindung
gebracht wurde.
Anstelle einer klaren Struktur und der Argumentationsketten seiner
Sachtexte setzt Czollek in „Grenzwerte“ die Waffen der Lyrik ein, spielt
mit Motiven, Assoziationen, Referenzen. Oft wird klar, was Czollek in
seinen Gedichten kommentiert. Manchmal erschließt sich hingegen nicht,
worauf er hinauswill. Zumindest für Czollek selbst ist das kein Problem,
sondern ein Qualitätsmerkmal von Lyrik: „wenn du bei einer lyriklesung bist
und nichts verstehst / bist du richtig“.
10 Feb 2020
## LINKS
[1] /Essayist-Max-Czollek-ueber-Chemnitz/!5530911
[2] /Streit-um-Leitkultur-Begriff/!5403929
[3] https://gorki.de/de/gegenwartsbewaeltigung-i
## AUTOREN
Patrick Wagner
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