Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay Novemberpogrome von 1938: Kein deutsches Schicksalsdatum
> Die Juden sollten nicht länger als Statisten im deutschen
> Gedächtnistheater dienen. Sie brauchen ihre eigenen Rituale.
Bild: „Juden tauchen an beiden Tagen nur als Opfer der Deutschen auf“
[1][Achtzig Jahre sind seit den Novemberpogromen] vergangen, und die
Erinnerung an den Terror hat mittlerweile ihre eigene Geschichte. Nach
Jahren des relativen Beschweigens in Deutschland brach im November 1988 die
Erinnerung an die sogenannte Reichskristallnacht mit voller Wucht los und
besetzt seitdem die große Öffentlichkeit. Vergessen wird dabei, dass den
Juden in Deutschland wie auch andernorts von Beginn an die Pogrome durchaus
präsent waren und in privaten Kreisen wie auch in vielen Synagogen über
viele Jahre hinweg der Novemberterror ein Thema war.
Ausgelöst wurde diese Wende in der deutschen kollektiven Erinnerung vor
allem auch durch einen von außen kommenden Schock – [2][die vierteilige
Fernsehserie „Holocaust“], basierend auf dem Roman des US-Schriftstellers
Gerald Green, die bereits neun Jahre zuvor in Deutschland ausgestrahlt
worden war. Damals fanden sich nach den Ausstrahlungen vielerorts Menschen,
die das Bedürfnis hatten, sich mit anderen, oft ihnen unbekannten, zu
treffen und auszusprechen.
Zum runden Jahrestag 1988 dann wurde dieses Miteinander-Erinnern und -Reden
möglich. Auf dem Kurfürstendamm in Berlin brannten unzählige Kerzen, und
auf Initiative der Berliner Geschichtswerkstatt wurden die damals
arisierten Gebäude angestrahlt und wurde die Geschichte ihrer dort zur
Nazizeit lebenden Juden auf großen Tafeln dargestellt. Gitarrenmusik war zu
hören, und verschiedentlich blieben junge Leute mit Schlafsäcken über
Nacht.
Mehr als 10.000 Veranstaltungen thematisierten in Deutschland den Terror in
Hunderten Städten und Gemeinden. Vorträge, Radio- und Fernsehsendungen,
Mahnwachen und nicht zuletzt Programme in Kirchen und Gemeinden fanden
statt. Es war ein wildes, spontanes, zivilgesellschaftliches Gedenken, noch
ohne disziplinierte Erzählung. Am deutlichsten wird das daran ersichtlich,
dass die damalige persönlich gehaltene, redliche Ansprache des
Bundestagspräsidenten [3][Philipp Jenninger 1988 zu einem Eklat führte] und
viele Abgeordnete den Saal verließen. Sie hatten sich an der
Täterperspektive gestoßen, aus der heraus Jenninger sprach.
## Der Terror begann am nächsten Morgen
Mittlerweile verläuft das deutsche, von nichtjüdischen Deutschen initiierte
Gedenken an die Novemberpogrome jedoch in strukturierten Bahnen. Weiterhin
mit vielerlei Gedenkritualen, Celans „Todesfuge“, Anne Frank, Prozessionen
mit Kerzen zur Synagoge, Zeitzeugenvorträgen und Gemeindefeiern. Das
etablierte Narrativ vereinnahmt die Novemberpogrome für die deutsche
Geschichte, und deklariert den 9. November als „deutsches Schicksalsdatum“:
die Abdankung Kaiser Wilhelms am 9. November 1918 und die Ausrufung der
Republik; Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München am 9. November
1923. Und dann eben die Novemberpogrome 1938 und zuletzt der Fall der Mauer
am 9. November 1989.
Eine wichtige Tatsache jedoch wird weiterhin hartnäckig ignoriert: Der 9.
November 1938 war ein ruhiger Tag, der Terror begann erst am frühen Morgen
des 10. November und erreichte am helllichten Tag mit den Plünderungen und
Verhaftungen seinen Höhepunkt. So wird dann dieser „jüdisch“ besetzte Raum
geschaffen, und zum deutschen Schicksalsdatum deklariert. Es war zuerst
auch kein deutsches, sondern ein jüdisches Schicksalsdatum.
Im Übrigen war der 9./10. November ohnehin aus Sicht der Politik kein
günstiges Datum, denn die Initiativen zur Erinnerung an den
antisemitischen Terror beinhalteten ein potenziell explosives Gedenken.
Diese Initiativen kamen aus der Zivilgesellschaft, von unten, und waren
überdies zu nahe am Eingemachten: an den eigenen Großvätern und -müttern,
die passiv vor brennenden Synagogen und zerstörten Wohnhäusern gestanden
oder sich als Mittäter aktiv beteiligt hatten.
## Protest gegen Missachtung als „Zaungäste“
So gesehen war für die Politik der 27. Januar der geeignetere Gedenktag:
die apathische Ereignislosigkeit des Geschehens am 27. Januar 1945, fern
von Deutschland, als die [4][Rote Armee Auschwitz – nein, nicht befreite,
sondern betrat.] Denn zu jenem Zeitpunkt war Auschwitz längst evakuiert,
die noch halbwegs „funktionsfähigen“ Gefangenen befanden sich auf den
Todesmärschen in Schnee und Eis, nur etwa 7.500 kranke und sterbende
Gefangene waren zurückgelassen worden, die Wachmannschaften längst
verschwunden.
Der Begriff der „Befreiung“ ist natürlich allemal aufbauender als das
wirkliche Drama, das sich um den 10. November 1938 in deutschen Städten
abspielte. Das Datum 27. Januar befördert ein abstrahierendes, ein
verallgemeinerndes Gedenkziel. Wer also diesen 27. Januar als jüdisch
zentriert missversteht, hat den universalisierenden, doch deutschen
Diskurs auch der vielen Gedenkreden zu diesem Tag nicht wahrgenommen. Eine
Ausnahme war die Bundestagsrede Ruth Klügers 2016, die als Jüdin diesen
Todesmarsch mit erleiden musste.
Genau aus dieser Entortung des Jüdischen heraus haben aber im Jahre 2006
und auch in den Folgejahren die Spitzen des Zentralrats der Juden gegen
ihre Missachtung als „Zaungäste“ bei der Gedenkstunde im Bundestag
protestiert. Dies war bereits 1988 der Fall, als Heinz Galinski, der neue
Vorsitzende des Zentralrats und der Berliner Jüdischen Gemeinde dagegen
protestierte, dass er nicht eingeladen worden war, anstelle von Jenninger
im Bundestag zu reden.
## Präsenz einiger Juden in der AfD
Sowohl für den 10. November wie auch für den 27. Januar gilt, dass die real
existierenden, in Deutschland lebenden Juden nur Rollen als Statisten in
diesem Gedächtnistheater übernehmen. Denn bislang wurde kein heute in
Deutschland lebender Jude, keine Jüdin gebeten, in einer Gedenkstunde des
Bundestags zu sprechen. Diese Rolle im Gedenken aber reflektiert deutlich
ihre Position in der deutschen Gesellschaft insgesamt: Sie sind vermittels
ihrer legitimatorischen ideologischen Arbeit eng an das politische System
und sein „christlich-jüdisches“, den Islam ausschließendes
Selbstverständnis gebunden.
Sie suchen aber auch selbst die Anbindung an Zentren politischer Macht –
vermehrt in den letzten Jahren aufgrund der Angst vor zunehmendem
Antisemitismus, der stärkeren muslimisch-arabischen Präsenz und nicht
zuletzt als Repräsentant*innen Israels in Deutschland und Apologeten der
Politik Israels unter Netanjahu. Die [5][Präsenz einiger Juden in der AfD]
ist dabei nur der absurde Ausdruck dieser ideologischen Gemengelage.
Diese Positionierung der jüdischen Institutionen in Deutschland ist
keineswegs zwingend gegeben. Sie unterscheidet sich deutlich vom
Beziehungsrahmen von Juden und Muslimen in Nordamerika, wo die beiden
Religionsgemeinschaften vielerorts nachgerade herzliche Beziehungen
zueinander entwickelt haben – zuletzt wurde dies sichtbar in der spontanen
Spendensammlung der muslimischen Gemeinde Pittsburgh für ihre jüdischen
Nachbarn nach dem Massaker in der Synagoge Tree of Life. Solch ein
Engagement in einer breiteren jüdischen Organisation für Flüchtlinge ist in
Deutschland nur in den allerwenigsten Synagogen zu finden.
Das Gedenken an die Judenverfolgung, vom 10. November und vom 27. Januar,
hat seine eigene Geschichte: vom Beschweigen und der Verreligiösierung des
„Holocaust“ in den frühen Jahren bis zur „Schoah“ heute. Die Erinnerun…
die Schoah wird so zu einem Bauteil der neuen nationalen Identität, als
Waffe gegen den wieder erstarkenden völkischen Rechtspopulismus. Als
solches erfüllt dieses Gedenken die bestmögliche Aufgabe für die deutsche
Gesellschaft. Seine vielen Akteure verdienen unseren Respekt.
Doch diese Gedenktage bleiben ein Gedächtnistheater. Juden tauchen an
beiden Tagen nur als Opfer der Deutschen auf: am 9. November als Tag des
Beginns der Vernichtung und am 27. Januar, der für das Ende steht. Als
Opfer erhalten Juden eine nachgerade sakrosankte Aura, aus der heraus
etwa Kritik an der Politik Netanjahus unterdrückt wird. Für die jüdische
Gemeinschaft aber waren und sind die Novemberpogrome eine andere,
persönliche und bedrohliche körperliche Erfahrung, deren sie anders
gedenken müssen. Mancherorts geschieht dies übrigens schon seit vielen
Jahren, etwa durch das Lesen der Namen der Ermordeten in Synagogen und
Gemeindesälen.
Die jüdischen Vertreter sollten sich deshalb lossagen von ihrer
alimentierten Rolle für die deutsche Politik und Kultur und sich auf sich
selbst besinnen. Auch in Bezug auf Israel, wie es der [6][jüdische Autor
Max Czollek unlängst als „Desintegration“] gefordert hat. Was das Gedenken
betrifft, auch achtzig Jahre nach der jüdischen Katastrophe, so müssen wir
erkennen, dass man mancher Dinge bei allem guten Willen nicht gemeinsam
gedenken kann. Und das müssen wir eben auch akzeptieren.
10 Nov 2018
## LINKS
[1] /Reichspogromnacht-am-9-November-1938/!5546663
[2] /US-Fernsehserie-Holocaust-auf-DVD/!5162322
[3] /Debatte-Meinungsfreiheit/!5134782
[4] /70-Jahre-Befreiung-von-Auschwitz/!5022561
[5] /Gastkommentar-Juden-in-der-AfD/!5536617
[6] /Buch-ueber-Integration-in-Deutschland/!5525542
## AUTOREN
Michal Bodemann
## TAGS
Reichspogromnacht
Holocaust
Judenverfolgung
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Erinnerungskultur
Gedenkveranstaltung
Der 9. November
Kolumne Grauzone
Lyrik
Rechtsextremismus
#Unteilbar
Judenverfolgung
Holocaust
Reichspogromnacht
Novemberrevolution 1918
Der 9. November
## ARTIKEL ZUM THEMA
Instrumentalisierung des 9. November: Intifada vor der Nudelbox
Moderner Antiimperialismus wäre in diesen Zeiten dringend notwendig.
Stattdessen wird sich lieber weiter auf Israel fokussiert – auch am 9.
November.
Gedichtband von Max Czollek: Lyrischer Luftangriff
Fakt oder Fiktion? Max Czollek lässt diese Frage in „Grenzwerte“ meist
offen. Der Band ist voller Anspielungen auf die deutsch-jüdische
Geschichte.
Demonstrationen in Bielefeld: Tausende gegen Neonazi-Marsch
Zum 81. Jahrestag der Novemberpogrome wollten Neonazis in Bielefeld
marschieren. 10.000 Menschen auf insgesamt 14 Gegendemonstrationen haben
dagegen Flagge gezeigt.
Bündnis #unteilbar formiert sich neu: Alle zusammen – ohne Grenze?
Im Berliner Hebbel-Theater diskutierte am Dienstag das antirassistische
Bündnis #unteilbar über die Zukunft. Brüche können nicht ausbleiben.
Buch über jüdische Greiferin neuaufgelegt: Überleben in Berlin
Stella Goldschlag meldete der Gestapo Verstecke anderer jüdischer Menschen.
Peter Wyden lernte sie in der Schule kennen und beschreibt sie.
Studie zu Kenntnissen über den Holocaust: Junge Deutsche sind häufig unwissend
Ein Drittel der Europäer gibt an, sich unter dem Holocaust kaum etwas
vorstellen zu können. Junge Deutschen weisen eine noch schlechtere Quote
auf.
Reichspogromnacht am 9. November 1938: Vor aller Augen
Was geschah am 9. November 1938 in meinem Heimatort? Für Niedersachsen
beantwortet jetzt eine neue Website Fragen wie diese.
100 Jahre Novemberrevolution: Die entgrenzte Gewalt
Deutschland sollte sich an den 9. November 1918 und 1938 gemeinsam
erinnern. Die beiden Daten verbindet die brachiale rechtsextreme Gewalt.
9. November in der deutschen Geschichte: Wenn die Deutschen durchdrehen
Die Republik, der „Hitler-Ludendorff-Putsch“, die Reichspogromnacht, der
Mauerfall und Holger Meins. Der 9. November ist ein Tag zum Vergessen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.