| # taz.de -- Instrumentalisierung des 9. November: Intifada vor der Nudelbox | |
| > Moderner Antiimperialismus wäre in diesen Zeiten dringend notwendig. | |
| > Stattdessen wird sich lieber weiter auf Israel fokussiert – auch am 9. | |
| > November. | |
| Bild: Zwischen „yallah Intifada“ und Gedenken: Grablicht und Stolpersteine … | |
| Abends, halb acht in Berlin-Neukölln. Zwischen Nudelbox und | |
| Karstadt-Eingang fantasieren ausgerechnet am 9. November, dem 84. Jahrestag | |
| der Novemberpogrome, ein paar antiimperialistische Linke bei einer | |
| Kundgebung von der Revolution: gegen den Kapitalismus, gegen Krieg und | |
| Kapital, von Berlin bis nach Gaza, yallah Intifada, rufen sie. Ein paar | |
| halbstarke Jungs bleiben stehen, machen Videos, grölen mit. Einer ruft | |
| „Allahu Akbar“, grinst, läuft weiter. So geht das die nächste halbe Stunde | |
| weiter. | |
| Ich bin auch da und denke kurz nach meiner Ankunft: Scheiße, warum hab ich | |
| nicht die dicken Socken angezogen, es ist verdammt kalt, und dass ich echt | |
| Besseres zu tun gehabt hätte an diesem 9. November. Aber da ist man dann | |
| eben doch auch Journalistin und will diesen Irrsinn beobachten, berichten, | |
| kritisieren. | |
| Gekommen war ich, um zu sehen, wie diese Israelhasser später noch | |
| Stolpersteine putzen gehen. Das hatten sie nämlich im Vorfeld angekündigt. | |
| Echt clever, erst zur Gewalt gegen Israel aufrufen und sich dann mit der | |
| Pseudo-Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus reinwaschen. | |
| Komisch, dass es dem Hauptredner an dem Abend sehr schwerfiel, das Wort | |
| Juden auszusprechen. „Den Ermordeten, den Verfolgten“ vom 9. November wolle | |
| man gedenken, brüllte er ins Mikro. Aber dass sie Juden waren? Hat er | |
| lieber unterschlagen. | |
| Wäre das alles nicht so zynisch, dass der 9. November für antiisraelische | |
| Propaganda mitten in Berlin instrumentalisiert wird, mit einem Redner der | |
| [1][PFLP-nahen Gruppe Samidoun] (in Israel als Terrororganisation | |
| eingestuft), dann könnte man wirklich nur noch lachen über dieses absurde | |
| Bild, dass die Gruppe abgegeben hat. Glaubt jemand ernsthaft, dass die | |
| Revolution neben einem Nudelbox-Stand beginnt? | |
| ## Aufgaben eines modernen Antiimperialismus | |
| Dass es diesen Linken bei ihrem antiimperialistischen Befreiungskampf | |
| komischerweise immer um Israel geht. Dabei wäre ein moderner | |
| Antiimperialismus in Zeiten, in denen menschenfeindliche und tatsächlich | |
| imperialistische Regime wie Russland oder Iran Verbrechen begehen, ja | |
| dringend notwendig. Anetta Kahane schrieb das kürzlich [2][in ihrer | |
| Kolumne]: „Die Frage ist nicht die nach dem Globalen Süden oder Westen, | |
| nicht nach der Herkunft, sondern etwas, das viel wichtiger ist als solche | |
| Wörter. Frau. Leben. Freiheit.“ Es geht um universelle Werte, für alle | |
| Himmelsrichtungen. | |
| Die Antiimps aus Berlin waren leider nicht der einzige Totalausfall. Das | |
| Goethe-Institut hatte gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung an besagtem | |
| Datum zu einer Abendveranstaltung in Tel Aviv eingeladen, um mit ihren | |
| Gästen, taz-Autorin Charlotte Wiedemann, Politologe Bashir Bashir und | |
| Historiker Amos Goldberg, „über den Schmerz der Anderen“ zu sprechen. Also: | |
| über „die Nakba“. | |
| Wie sehr muss man Provokation lieben, um so eine Veranstaltung für den | |
| Gedenktag der Novemberpogrome zu planen? | |
| ## Linke Scheinheiligkeit | |
| Nach heftiger Kritik, unter anderem vom israelischen Botschafter in | |
| Deutschland, hat sich das Goethe-Institut entschieden, die Veranstaltung | |
| erst zu verschieben und später dann doch abzusagen. Man wolle über eine | |
| Neukonzeptionierung nachdenken, [3][hieß es am Freitag]. Stattfinden wird’s | |
| also, nur halt nicht jetzt. | |
| Mit den Antiimps kommt man ja irgendwie noch klar, aber dass Organisationen | |
| wie das Goethe-Institut und die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die beide von | |
| nicht wenigen Steuergeldern finanziert werden, so etwas abliefern, ist dann | |
| doch bedenklich und skandalös. Anstrengend genug, dass wir seit diesem und | |
| vergangenem Jahr wieder über die Singularität des Holocaust streiten | |
| müssen, aber jetzt gibt’s gar keine Grenzen mehr? | |
| Nachdem die Kundgebung in Berlin beendet wurde, zogen erstaunlich schnell | |
| fast alle Teilnehmer ab. Vielleicht haben ja andere die Stolpersteine | |
| geputzt, die die linken Antiimps nicht interessierten. | |
| 11 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Judenhass-auf-Berliner-Demonstrationen/!5847044 | |
| [2] https://www.fr.de/meinung/kolumnen/es-geht-um-emanzipation-imperialismus-pr… | |
| [3] https://www.goethe.de/ins/il/de/ver.cfm?event_id=24278029 | |
| ## AUTOREN | |
| Erica Zingher | |
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