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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Geliebtes, zerstörtes Odessa
> Russland greift Odessa mit Raketen und Drohnen an. Unsere Autorin hat
> eine besondere Beziehung zu der Stadt.
Bild: Die Odessiten sind stark und rau, das Meer hat sie widerstandsfähig gema…
Dieser Tage denke ich viel an meine Eltern. Wie die beiden, frisch
verheiratet, blutjung, mit Kisten voller Obst und Gemüse in den frühen
Morgenstunden aufbrachen Richtung Schwarzes Meer, [1][Odessa], um dort auf
dem Basar ihre Waren anzubieten.
Am Schwarzen Meer harrten sie außerdem Anfang der 90er Jahre für einen
Moment aus, während in meinem Geburtsort, [2][dem heutigen Gebiet
Transnistrien], Krieg herrschte. Nach Odessa unternahmen meine Eltern ihren
ersten gemeinsamen Urlaub – ohne mich – und meiner Mutter brach das Herz,
so erzählte sie es einmal, mich einige Tage zurückzulassen.
Gerade ist es mein Herz, das bricht. Es schmerzt mich, [3][mein geliebtes
Odessa zerstört zu sehen]. Odessa ist mir auf einer Gefühlsebene näher als
die Stadt in Bayern, in der ich aufgewachsen bin. Während Schulkameraden
Urlaub am Mittelmeer machten, verbrachte ich meine Sommer am Schwarzen
Meer. Ich kenne Odessas Straßen, seinen Geruch nach modrigem Beton und
Akazien, kenne die Sonnenuntergänge, die Senioren, die im Sommer mit ihren
Plastiktütchen aus den Außenrajons an den Stadtstrand pilgern; ich weiß,
dass man vorsichtig sein muss und das Meerwasser niemals schlucken darf,
weil es unsere verwöhnten Mägen krank macht.
Russland entgrenzt seinen Krieg weiter, greift Odessa seit über zwei Wochen
massiv mit Raketen und Drohnen an. Am Schwarzen Meer, so heißt es von vor
Ort, hoffen die Soldaten auf mehr moderne Flugabwehr. Jede weitere
russische Bombe im Hafen treibt die Hungersnot in jenen Ländern voran, die
auf Getreideexporte aus der Ukraine angewiesen sind. Orte, die einst
Schutzräume waren, sind längst keine mehr; Russland zerstört bewusst
historische Bauten, heilige Stätten der orthodoxen Kirche wie die
Verklärungskathedrale. Ein paar Meter von dieser entfernt hat mich mein
Freund vor zwei Jahren fotografiert. Ich mit Straßenkatze Nummer 54.
## Viel verloren, immer wieder aufgelebt
Damals, im Sommer 2021, lag ich am Strand von Odessa und las „Die Fünf“ von
Vladimir Jabotinsky, den Odessa-Roman schlechthin. Jabotinsky erzählt darin
von einer jüdischen, assimilierten Familie Anfang des 20. Jahrhunderts und
ihren fünf Kindern: Marussja, Marko, Lika, Serjosha und Torik. Der Autor,
selbst Odessit, beschreibt den Untergang der jüdischen Welt, der
Vielvölkermetropole. Mit großer Verwunderung verzeichnet der Ich-Erzähler
in Jabotinskys Roman, ein Journalist, wie der „Alltag in unserer Stadt, der
vor Kurzem so heiter und sorglos gewesen war“, in eine „Massentragödie“
umschlagen konnte. Odessa, es bebt, bald blutet es. So wie heute wieder.
Die Stadt am Schwarzen Meer musste schon viel erleben, hat sich dabei aber
wehrhaft gezeigt. Odessa war immer wieder Austragungsort kriegerischer
Auseinandersetzungen, ertrug Bomben, verlor Menschen: Allein unter der
deutsch-rumänischen Besatzung 1941 wurden Kommunisten und Juden
unterdrückt, verfolgt, in umliegende Konzentrationslager der Region
Transnistrien gebracht und dort ermordet. Kaum jemand überlebte. Bei einem
Massaker verbrannten allein 22.000 Juden bei lebendigem Leibe in der Stadt.
Obwohl Odessa in seiner Geschichte schon so viel verloren hat, lebte es
wieder und wieder auf. Die Odessiten sind stark und rau, das Meer hat sie
widerstandsfähig gemacht. Sie werden die Russen überleben, Odessa wird
wieder blühen. Daran muss ich glauben.
Jabotinsky beendet seinen Roman mit den Worten: „Es war eine komische
Stadt; aber auch Lachen ist Zärtlichkeit. Doch jenes Odessa gibt es
vermutlich nicht mehr, und ich brauche es nicht zu bedauern, dass ich nicht
mehr dorthin gelangen werde.“
Ich hingegen trauere, bis Odessas Zärtlichkeit nicht mehr von dem
ohrenbetäubenden Geräusch der Raketen heimgesucht wird.
5 Aug 2023
## LINKS
[1] /Biografie-der-ukrainischen-Stadt/!5937249
[2] /Kriegsgefahr-in-Transnistrien/!5857844
[3] /Die-Zerstoerung-Odessas/!5951532
## AUTOREN
Erica Zingher
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