# taz.de -- Reichspogromnacht am 9. November 1938: Vor aller Augen | |
> Was geschah am 9. November 1938 in meinem Heimatort? Für Niedersachsen | |
> beantwortet jetzt eine neue Website Fragen wie diese. | |
Bild: Alle konnten zusehen: Hannovers Synagoge in Flammen, gesehen vom Turm/Dac… | |
BREMEN taz | Es könnte ja sein, dass heute Morgen irgendwo eine Lehrerin | |
ihren Schülern über den 9. November 1938 erzählen möchte – jenem Tag vor … | |
Jahren, an dem die Ausgrenzung der Juden im Nationalsozialismus in | |
systematische Verfolgung überging. Wahrscheinlich haben heute sogar eine | |
ganze Menge Lehrer die sogenannte Reichspogromnacht auf dem Lehrplan. Dann | |
können sie froh sein, wenn sie in Niedersachsen unterrichten. | |
Hier können sie die Jugendlichen jetzt selbst auf Entdeckungsreise schicken | |
und erfahren lassen, dass die Reichspogromnacht nicht irgendein Ereignis im | |
fernen Berlin oder München war, sondern sich vor der Haustür ihrer | |
Urgroßeltern abgespielt hat. Zum Beispiel in Friesland – in Dornum, | |
Neustadtgödens, Jever oder Varel. | |
„Am 10. November 1938 morgens gegen 5 Uhr wurde der SA-Sturmführer Bruns | |
aus Dornum von dem Sturmführer Wedukin aus Norden telefonisch darüber | |
informiert, dass die Norder Synagoge bereits brennen würde und alle Juden, | |
egal welchen Alters, sofort zu verhaften wären. Sturmführer Bruns | |
verständigte sofort seinen Vertreter Tadema in Dornum und befahl ihm, in | |
SA-Uniform zum Hotel „Zum Kronprinzen“ zu kommen, ebenso die weiteren | |
Mitglieder der Dornumer SA. Bruns und Tadema waren im Begriff, die Synagoge | |
sofort anzuzünden und hatten auch keine Bedenken wegen der dicht daneben | |
stehenden Häuser.“ | |
Dies ist eine der vielen Geschichten, die auf der [1][Website | |
„Novemberpogrome 1938 in Niedersachsen“] zu finden sind. Für 55 Orte von | |
Achim bis Wolfenbüttel ist hier dokumentiert, wie die lokalen Machthaber | |
die Direktiven aus der Hauptstadt umsetzten. Abrufbar über eine interaktive | |
Landkarte oder eine Listenansicht aller Orte, entweder als Kurzversion oder | |
in Langfassung. | |
„Geschichte geschieht nicht einfach, sondern wird gemacht“, sagt Jens | |
Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsischer | |
Gedenkstätten, die bei der Entwicklung der Website federführend ist. „Zwar | |
wurden die Pogrome reichsweit zentral gesteuert. Doch das Ausmaß der | |
Brutalität vor Ort war das Ergebnis des Handelns und Entscheidens lokaler | |
Akteure.“ | |
Diese lokale Dimension macht die Website mit sorgfältig und anschaulich | |
formulierten Schilderungen, zu der auch zahlreiche Fotos und Dokumente | |
gehören, deutlich. Sie benennt Opfer und Täter, was auch 80 Jahre später in | |
der Realwelt vieler Orte noch sorgsam vermieden wird. | |
„Ob die Führer der Dornumer SA bereits wussten, dass die Synagoge zwei Tage | |
vorher, am 7. November, von dem letzten Synagogenvorsteher Wilhelm Rose an | |
den Besitzer des Nachbarhauses, Möbelhändler August Teßmer, verkauft war, | |
lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Es waren ca. 30 SA-Leute | |
vor der Synagoge versammelt. Teßmer behauptete, dass die Synagoge ihm | |
gehörte, aber die gesamte Einrichtung noch den Dornumer Juden. Daraufhin | |
wurden die Fenster der Synagoge demoliert und die Bänke, die Bima sowie der | |
Thoraschrein und die Ehrentafel der Gefallenen des Ersten Weltkrieges | |
herausgebrochen und auf dem Marktplatz aufgeschichtet.“ | |
Die Ereignisse des November 1938 werden in den historischen Zusammenhang | |
gestellt. So erfahren die Leser*innen nicht nur, dass die Geschichte | |
jüdischer Familien in Dornum bis ins Jahr 1648 zurückzuverfolgen ist, | |
sondern auch, was mit den Opfern der November-Pogrome später geschah. | |
„1933 hatten 53 jüdische Personen in Dornum gelebt, davon wurden 31 | |
ermordet. Die übrigen konnten emigrieren. 1940 verließen die letzten | |
jüdischen Bewohner Dornum.“ | |
Ergänzt werden die historischen Darstellungen von Kurzbiografien, zumeist | |
der jüdischen Opfer, in einigen Fällen aber auch der Täter. Auch der – | |
falls vorhandenen – justiziellen Aufarbeitung in der Bundesrepublik sowie | |
den bereits existierenden Formen des Gedenkens sind eigene Kapitel | |
gewidmet. So gibt es in Dornum seit 1992 die vom gleichnamigen Verein | |
initiierte Gedenkstätte „Synagoge Dornum“. Dessen Leiter Georg Murra-Regner | |
hat den Dorumer Beitrag für die Website geschrieben. | |
Insgesamt haben über hundert Menschen an der aus einem Projekt der | |
Universität Hannover hervorgegangenen Website mitgewirkt – zumeist | |
ehrenamtlich. Zu manchen Orten gibt es bislang nur Kurztexte, viele | |
Dokumente und Bilder sind noch unentdeckt. Das Projekt ist ausdrücklich auf | |
Weiter- und Mitmachen angelegt, dafür gibt es zu jedem Ort weiterführende | |
Literatur und Links. | |
Vor aller Augen, so der Untertitel der Website, fanden die Novemberpogrome | |
in Niedersachsen statt. Vor aller Augen wird ihre Aufarbeitung nun | |
fortgeschrieben. Das muss nicht nur ein Thema für Schulen sein – die Augen | |
können überall aufgemacht werden. | |
9 Nov 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://pogrome1938-niedersachsen.de/ | |
## AUTOREN | |
ralf lorenzen | |
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