# taz.de -- Schmerzhaftes Erinnern: „Was passierte, ist wie ausgelöscht“ | |
> Der in Hamburg geborene Holocaust-Überlebende Nathan Ben-Brith hat seine | |
> Erinnerungen veröffentlicht – leicht ist ihm das nicht gefallen | |
Bild: Nathan Ben-Brith zieht nichts nach Hamburg, wo seine Verfolgungsgeschicht… | |
taz: Herr Ben-Brith, was empfinden Sie, wenn Sie heute durch Hamburg gehen? | |
Nathan Ben-Brith: Wenn nicht Frau Apel und Frau Grolle gewesen wären, die | |
sich beide um mein Buch gekümmert haben, wäre nicht gekommen – das muss ich | |
ehrlich sagen. Mich zieht nichts nach Hamburg. Obwohl es eine schöne Stadt | |
ist und meine Geburtsstadt. | |
Sie sind 1947 nach Israel ausgewandert. Haben Sie beobachtet, wie in | |
Deutschland – wenn auch spät – die Zeit des NS-Regimes aufgearbeitet wurde… | |
Für mich war Deutschland tabu. Ich möchte jetzt nicht von den Damen und | |
Herren Historikern sprechen, die sich mit mir beschäftigen. Aber | |
Deutschland an sich ist tabu und das bleibt so. | |
Trotzdem sind Sie 2004 wieder nach Hamburg gekommen. | |
Da war ich schon über 80 Jahre alt und ich habe mir gedacht, dass jetzt | |
keiner mehr von denen, die mich mal geschlagen oder die meinen Vater | |
ermordet haben, noch am Leben ist. Da habe ich die Einladung der Stadt | |
Hamburg angenommen – unter der Bedingung, dass auch meine vier Kinder | |
mitkommen. | |
Wie erlebten Sie den Besuch? | |
Wir sind eine Woche geblieben, um die Stolpersteine für unsere Angehörigen | |
einzuweihen: Mein Vater wurde in Majdanek ermordet. Eine meiner Großmütter | |
starb in Theresienstadt, eine Tante in Auschwitz. Und ein Onkel, meines | |
Vaters ältester Bruder, ist mit seiner zweiten Frau und einer Tochter in | |
Minsk umgebracht worden. Alle haben zuletzt in der Hamburger Brahmsallee | |
gelebt. | |
Sie beschreiben in Ihren Erinnerungen, dass Sie bis zur Reichspogromnacht | |
am 9. November 1938, als die Hamburger Bornplatz-Synagoge brannte, im | |
Grindelviertel eine normale Kindheit hatten. | |
Das tägliche Leben war in Ordnung. Aber wir haben uns schon mit den Kindern | |
auf der Straße herumgeschlagen. Ich erinnere eine Szene an irgendeinem | |
Sonntag, mein jüngerer Bruder und ich sind mit unseren Fahrrädern irgendwo | |
hingefahren und irgendwelche Halbstarken wollten mit uns eine Schlägerei | |
anfangen. Da haben wir, obwohl wir kein Hebräisches sprachen, Verse eines | |
hebräischen Gebets zitiert. Ich habe einen halben Vers gesagt und mein | |
Bruder hat die andere Hälfte. Da haben sie uns in Ruhe gelassen und sind | |
weggegangen. Das war noch vor dem 9. November 1938. | |
Haben Ihre Eltern Ihnen erklärt, dass das Nazi-Regime Juden schikanierte? | |
Ich weiß nicht, wie das heute in Deutschland ist, aber damals hat man | |
Kindern nichts erklärt. | |
Die Eltern haben nicht über ihre Ängste gesprochen? | |
Nein. Kinder waren Kinder. | |
Aber Sie fast 15. | |
Ich war kein kleines Kind mehr, aber ich war noch ein Kind. So war das | |
früher. | |
Aber haben Sie bemerkt, dass sich Ihre Eltern sorgten? | |
Mir ist nicht bewusst, dass ich irgendwas gemerkt habe. Wahrscheinlich ist | |
deswegen die Reichspogromnacht am 9. November so ein Schock gewesen. | |
Ihr Vater ist an diesem Tag verhaftet worden. Ihre Mutter hat Sie und Ihre | |
Geschwister mit einem Kindertransport nach Belgien geschickt. Erinnern Sie | |
sich an den Abschied von Ihrer Mutter in Hamburg? | |
Alles, was damals passiert ist, ist wie ausgelöscht. | |
Als die Deutschen Belgien überfielen, floh Ihre Familie über Paris in den | |
unbesetzten Teil Frankreichs. Aber Sie wurden an die Deutschen ausgeliefert | |
und ins KZ deportiert. | |
Alles, was ich da erlebt habe, habe ich in diesem Buch geschrieben. | |
Sie haben zwei Todesmärsche überlebt, wogen zuletzt nur noch 38 Kilo, waren | |
nach Kriegsende in Salzburg drei Monate im Krankenhaus. Im Juli 1945 gingen | |
Sie zurück nach Paris. | |
Bis ich zurück in Paris war, habe ich nicht gewagt zu sagen, dass ich Jude | |
bin. Auch nicht, als in Salzburg ein amerikanischer, jüdischer Offizier vor | |
mir stand, was ich ja an seiner Uniform sah. Erst in Paris war der | |
Holocaust für mich zu Ende. | |
Sie haben in Frankreich Ihre spätere Frau kennengelernt. | |
Ja, sie hat in Frankreich im Widerstand gearbeitet, nicht im gewöhnlichen | |
Widerstand, sondern im jüdischen. | |
Haben Sie mit Ihrer Frau über Ihre KZ-Haft gesprochen? | |
Wir haben nicht über das gesprochen, was passiert war. Meine Frau hat | |
aufgepasst, dass meine Kinder mich nichts fragten, um – sagen wir mal – | |
meine seelische Ruhe nicht zu stören. | |
Ihre Kinder haben nie gefragt? | |
Sie durften nicht fragen! | |
Und an dieses Familientabu haben sich Ihre Kinder gehalten? | |
Sie werden sich wohl daran gehalten haben. | |
Trotzdem haben Sie sich eines Tages hingesetzt und Ihre | |
Verfolgungsgeschichte aufgeschrieben. Wie kam es? | |
Ein Nachbar, der mit mir in der Armee war, hatte eine Tochter. Sie musste | |
für die Universität eine Arbeit schreiben, und da hat er mich gefragt, ob | |
ich bereit wäre, ihr meine Geschichte zu erzählen. Das war das erste Mal, | |
dass ich sie erzählt habe – auf Hebräisch natürlich. Sie hat alles mit | |
einem Tonband aufgezeichnet. Als nächstes hat mich die Gedenkstätte Yad | |
Vashem gebeten, zu erzählen. Ich habe ihnen die Kassetten gegeben und dann | |
haben sie noch einmal ein Interview mit mir gemacht. Aber weiter habe ich | |
nicht darüber gesprochen. | |
Auch nicht mit Ihren Kindern? | |
Ich glaube nicht, ich weiß es nicht mehr. Zum dritten Mal habe ich meine | |
Geschichte berichtet, als der Sohn meiner Cousine mit seiner 16-jährigen | |
Tochter zu meinem 80. Geburtstag aus Amerika kam. Ich habe alles auf | |
Englisch für ein 16-jähriges Kind aufgeschrieben. Danach bin ich nach | |
Hamburg gekommen, und Frau Apel hat mich befragt und ich habe es ihr | |
erzählt – das erste Mal auf Deutsch. Es hat noch ein bisschen gedauert, | |
aber dann hat man mich überzeugt, dass ich es auch auf Deutsch schreiben | |
soll. Daraus ist das Buch geworden. Aber auch heutzutage spreche ich nicht | |
darüber. | |
Sie sind in Israel Soldat geworden. Warum? | |
Ich wollte das gar nicht! Ich wollte zur Hochzeit meines Bruders fahren, | |
man hat den Bus angehalten und an meinen Papieren gesehen, dass ich noch | |
keinen Militärdienst absolviert hatte. Also hat man mich arrestiert, zum | |
Militär gebracht und mich gezwungen, dort zu bleiben. Am 19. April 1948 bin | |
ich Soldat geworden, und später habe ich beschlossen, es zu bleiben. Wissen | |
Sie, was ein Muselmann ist? | |
So nennt man einen KZ-Häftling, der nach jahrelanger Haft fast wie ein | |
Skelett aussieht. | |
Ich bin so ein Muselmann gewesen – und dann wurde ich Soldat in der | |
israelischen Armee, das hat mir gefallen. Ich habe es bis zum | |
Oberstleutnant gebracht, das ist eine Stufe höher als Major. | |
Und nach der Militärzeit? | |
Habe ich mich als Fremdenführer ausbilden lassen. Ich kann Hebräisch, | |
Deutsch, Englisch, Französisch und Flämisch. Unser Land gefällt mir, und so | |
war ich viele Jahre als Reiseleiter tätig. | |
Auch für deutsche Touristen? | |
Mit Deutschen habe ich nicht gearbeitet! Nur mit Schweizern. | |
Nathan Ben-Brith: Mein Gedächtnis nimmt es so wahr – Erinnerungen an den | |
Holocaust, herausgegeben von Linde Apel, bearbeitet von Inge Grolle, | |
Wallstein Verlag 2015, 184 S., 12,90 Euro | |
26 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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