| # taz.de -- 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: „Wir sind versöhnt! Weiter … | |
| > Eine polnische und eine deutsche Abiturientin sprechen über das Schweigen | |
| > ihrer Großeltern, Geschichtsunterricht – und den besten Wodka. | |
| Bild: Überlebende des Ghettos in Łódź besuchen die Gedenkstätte. | |
| Sofas, alte Vogelkäfige, ein Baum mitten im Raum – das Café könnte in | |
| Berlin sein. Wir sitzen aber in der Danziger Altstadt, die Stimmung ist | |
| anfangs etwas steif, Gosia und Alisa kennen sich nicht. Die eine Polin, die | |
| andere Deutsche, beide machen sie in diesem Monat ihr Abitur. In welcher | |
| Sprache sollen wir reden? Schwierig. Es geht um den Holocaust. Am Ende wird | |
| es ein Mix aus Deutsch, Polnisch, Englisch und Handzeichen. Später, nach | |
| dem Besuch auf der Westerplatte, gehen die beiden gemeinsam in einen Pub. | |
| taz: Reden wir über Krieg. | |
| Schweigen. Beide nehmen einen großen Schluck von ihrer Sprite. | |
| Gosia Lewandowska: Das Wort ist für mich, für uns Polen, sehr lebendig. Wir | |
| reden oft über Krieg, aber nie in einem Café wie hier. Dafür in der Schule | |
| oder wenn wir Nachrichten schauen. Zu Hause sprechen wir manchmal über die | |
| Situation in der Ukraine, darüber, ob Putin noch weiter gen Westen zieht. | |
| Alisa Benders: Ich rede mit meinen Freunden schon über Kriege, aber eher | |
| über die in Afrika, zum Beispiel im Sudan oder in Somalia. Wir haben sehr | |
| viele Schwarze an unserer Schule. | |
| Ihr steckt gerade mitten im Abitur. Wie oft in eurer Schulzeit habt ihr den | |
| Zweiten Weltkrieg durchgenommen? | |
| Gosia: Drei Mal, in der 8., in der 10. und jetzt in der 13. Klasse. Wir | |
| springen in den Geschichtsthemen nicht hin und her, sondern gehen immer | |
| chronologisch durch. Ich fand das immer anstrengend, am Ende ist man nach | |
| diesem Gang durch die Geschichte und nach all den polnischen Königen | |
| ziemlich erschöpft und hat keine Lust mehr auf den Zweiten Weltkrieg. | |
| Alisa: Bei mir waren es auch drei Mal. In der Grundschule, in der 5. oder | |
| 6., dann in der 10., und jetzt vor Kurzem in der Oberstufe. Da haben wir | |
| dann Hitlers Reden analysiert. | |
| Seid ihr froh, dass es jetzt vorbei ist? Also fast? | |
| Alisa: Schule? Ja. Aber den Zweiten Weltkrieg als Thema finde ich | |
| komischerweise immer noch spannend. | |
| Gosia: Ich habe gerade keine Lust mehr, aber vor allem, weil ich so viel | |
| lerne. Gestern habe ich mit Geschichte angefangen. | |
| Habt ihr Lust auf einen kleinen Wissenstest? | |
| Alisa nimmt einen Schluck. Gosia schaut auf ihre Fingernägel. | |
| Wo ging der Zweite Weltkrieg zu Ende? | |
| Gosia: Als die Russen vor Berlin standen, also in Berlin. | |
| Alisa: Warte. Also, die USA kamen dann. Oder? Und wann war das mit den | |
| U-Booten? | |
| Wie viele Menschen sind gestorben? | |
| Alisa: Zu viele. | |
| Gosia: Ich weiß nicht. 50 Millionen? | |
| Was war der Hitler-Stalin-Pakt? | |
| Alisa: Weiß ich nicht. Aber Stalin war böse. | |
| Gosia: Bei uns heißt das Ribbentrop-Molotow-Pakt, nach den Unterzeichnern, | |
| das waren ja nicht Hitler und Stalin persönlich. Der Pakt besagte, dass sie | |
| Freunde sind und sich nicht angreifen werden, und er legte fest, wie | |
| Deutschland und Russland Polen unter sich aufteilen wollen. | |
| Was ist eigentlich die Westerplatte? | |
| Alisa: Sagt mir nichts. | |
| Gosia: Da hat der Krieg begonnen, am 1. September um 4.45 Uhr fiel der | |
| erste Schuss der Deutschen. Ich finde es aber furchtbar, da hinzugehen, war | |
| ewig nicht mehr da. Ich glaube, da gehen vor allem viele Patrioten hin. | |
| Alisa: Peinlich, dass ich diese Fakten nicht weiß. Aber zu meiner | |
| Verteidigung kann ich sagen, dass ich keine Geschichtsklausur geschrieben | |
| habe und sowieso nur noch mündlich geprüft werde, in Philosophie. Ich bin | |
| also nicht mehr so drin im Stoff. | |
| Etwa sieben Kilometer von hier entfernt hat also der Zweite Weltkrieg | |
| begonnen, auf der Westerplatte, dem damaligen Munitionslager der Polen. Wie | |
| nah ist er heute, im Jahr 2015? | |
| Alisa: Du meinst, der Zweite Weltkrieg? | |
| Nein, Krieg überhaupt. | |
| Alisa: Relativ weit weg. Man sieht Krieg im Fernsehen, aber man hört keine | |
| Bomben, keine Sirenen. Ich sehe in meinem direkten Umfeld eher kleine | |
| Kriege, Rassismus, Demonstrationen. Aber richtiger Krieg ist für mich sehr | |
| weit weg. | |
| Gosia: Für mich ist er gerade sehr nah. Als vor einem Jahr um die Krim | |
| gekämpft wurde, wurde die Angst vor Krieg in unserem Land plötzlich wieder | |
| lebendig. Wir haben hier das Gefühl, in Russland passiert etwas, und wir | |
| wissen nicht genau, was. Man könnte sagen, wir sind mittlerweile doch alle | |
| zivilisiert, aber das stimmt nicht. Krieg hat sich verändert, ist | |
| unsichtbarer geworden, aber nicht weniger brutal. Er wird ja teilweise auch | |
| gar nicht so genannt, wie in der Ukraine lange Zeit. | |
| Hast du Angst vor Krieg, Alisa? | |
| Alisa: Nein, gar nicht. Es ist irgendwie unheimlich, weil wir nur 600 | |
| Kilometer voneinander entfernt wohnen und diese Frage so unterschiedlich | |
| beantworten. Deutschland liegt mitten in Europa, dort fühle ich mich | |
| sicher. Krieg ist so weit weg. | |
| Wart ihr mal in Auschwitz? | |
| Gosia: Nein, aber in Stutthof, so nennt ihr Deutschen das doch, oder? Das | |
| war ein KZ bei Danzig. Wir sind mit der Klasse hingefahren, ich war 16 | |
| Jahre alt. Obwohl ich alles mit eigenen Augen sehen konnte, war es für mich | |
| unvorstellbar, dass es das gegeben haben soll. Wir sahen diese kleinen | |
| Holzbetten für drei Menschen gleichzeitig. Diese Bäder, in denen von unten | |
| das Wasser kam, damit die Leute schnell aufs Klo gingen und sauber wurden. | |
| Und am Ende die Gaskammern. Mir erschien das damals einfach nicht logisch, | |
| wieso sollte man Menschen verbrannt haben? Ich hätte mir sowieso gewünscht, | |
| dort allein durchzulaufen. In der Klasse waren wir es eigentlich gewohnt, | |
| Späße zu machen auf Ausflügen, zu lachen. Manche haben das dann auch | |
| gemacht. | |
| Alisa: Ich war noch nie in einem KZ. Wir haben Filme und Dokus darüber | |
| gesehen, aber das war’s. Wir als Klasse wollten gern. Als wir 12 oder 13 | |
| waren, wurde mal darüber gesprochen. Aber unsere Eltern haben ein Veto | |
| eingelegt. Das war denen zu früh. | |
| Redet ihr mit euren Eltern über den Zweiten Weltkrieg? | |
| Gosia: Nein. | |
| Alisa: Ist schon länger her. | |
| Und mit den Großeltern? | |
| Gosia: Erst recht nicht. Aber ich habe in Vorbereitung auf unser Treffen | |
| meine Oma so lange ausgefragt, bis sie erzählt hat. Ich weiß, dass mein Opa | |
| damals auf dem Dorf gewohnt hat, nicht weit von hier, und seine Eltern | |
| mussten die deutschen Soldaten bei sich unterbringen und ernähren, das | |
| wurde damals einfach gemacht, sagt meine Oma. Das waren einfache Leute auf | |
| dem Dorf, komplett unaufgeklärt, das kann man nicht mit den Aufständischen | |
| in Warschau vergleichen. Meine Oma wuchs hingegen in der heutigen Ukraine | |
| auf. Ihr Vater wurde damals von den Nachbarn verraten. Die Nazis haben | |
| Spezialisten gesucht, ihr Vater war Schlosser und kam 1943 nach Dachau. | |
| Dort hat er gearbeitet, in Munitionsfabriken. Und überlebt, weil er den | |
| Nazis nützlich war. | |
| Von wem ging denn all die Jahre das Schweigen aus? Von dir oder von deiner | |
| Oma? | |
| Gosia: Von uns beiden. Aber wahrscheinlich wollten wir unterbewusst beide | |
| darüber reden. Ich bin froh, dass ich jetzt mehr weiß. Unsere Großeltern | |
| werden immer älter, wir müssen diese Informationen noch aus ihnen | |
| rausziehen, ich finde das wichtig. | |
| Wie war das bei dir, Alisa? | |
| Alisa: Mein Opa ist gestorben, als ich fünf war, meine Oma vor zwei Jahren. | |
| Sie wollte nicht viel darüber reden. Sie war, glaube ich, etwas naiv, sie | |
| hat in Mönchengladbach auf dem Dorf gewohnt. Sie hat da meinen Opa | |
| kennengelernt, der musste dann in den Krieg, nach Russland. Er war der Chef | |
| eines Panzers, er hat diesen Panzer geführt. Der wurde gesprengt, alle sind | |
| raus, er ist zurück, um die Technik zu zerstören, das war ja seine Aufgabe. | |
| Er hat dann auch eine Medaille dafür bekommen. Er war nicht in der NSDAP, | |
| wollte nicht in den Krieg, er hat die Medaille weggepackt, er wollte sie | |
| nicht haben. Meine Oma hat noch erzählt, dass sie es lustig fand, nach | |
| Kriegsende mit den GIs im Jeep durch die Dörfer zu fahren. Meine Oma sagte | |
| immer, von den Verbrechen der Nazis wusste sie nichts. | |
| Hast du ihr das geglaubt? | |
| Alisa: Sie hat sich nie für Politik interessiert, den Rest hat sie | |
| wahrscheinlich verdrängt und als Einzelfälle abgetan, das Ausmaß war ihr | |
| nicht klar. Sie hat dann auch gesagt, Hitler habe auch gute Dinge getan, | |
| Autobahnen gebaut, die Arbeitslosigkeit reduziert. Das war schwierig, da | |
| mit ihr zu diskutieren. | |
| Habt ihr mit Freunden über die Schicksale eurer Familien gesprochen? | |
| Alisa: Ja, ich weiß noch, dass wir mal reihum erzählt haben, was unsere | |
| Großeltern im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Und eine sagte dann: Also, | |
| mein Opa hat im KZ gearbeitet, was, wusste sie nicht mehr genau oder wollte | |
| es nicht sagen. Wir wussten überhaupt nicht, wie wir reagieren sollten. Wir | |
| wussten ja, dass sie selbst kein Nazi ist, aber irgendwie war dann doch | |
| eine Distanz da. Ich wusste dann gar nicht mehr, ob ich das wirklich wissen | |
| wollte. | |
| Gosia: Wir haben überhaupt nicht darüber gesprochen. Auch jetzt, vor dem | |
| Gespräch, habe ich meine Freundinnen gefragt. Keine weiß etwas. Ich glaube | |
| fast, dass wir Polen mehr Fakten pauken, aber die deutschen Jugendlichen | |
| aufgeklärter sind über die Schicksale ihrer Familien, weil der Krieg in | |
| Deutschland besser aufgearbeitet wurde. | |
| Hilft reden überhaupt? | |
| Gosia: Sollte es. Würde es. Aber die Alten reden nicht gern. Sie wollen es | |
| einfach vergessen. Das ist ja eine Form von kollektivem Gedächtnis, eine | |
| Erinnerung, die, wenn sie weitergegeben wird, eher erleichtert als | |
| beschwert. Aber bei uns gab es nun mal auch bis 1990 die Zensur, viele | |
| Bücher waren verboten, zum Beispiel die Erzählungen von Borowski. Meine | |
| Eltern haben noch gelernt, dass die Deutschen die Bösen sind und die Russen | |
| unsere Freunde. Kein Wunder, dass wir etwas hinterherhinken, was die | |
| Aufarbeitung angeht. | |
| Alisa: Wir müssen unbedingt reden, über unsere Geschichte Bescheid wissen. | |
| Denn alles, was jetzt passiert, baut ja auf der Geschichte auf. Wir können | |
| schon aus Fehlern lernen, daran glaube ich. Und ich glaube, dass zum | |
| Beispiel Rassismus oft einfach durch Dummheit entsteht. Würden Kinder zum | |
| Beispiel schon in der Grundschule etwas darüber lernen, würde das helfen. | |
| Wann ist Krieg vorbei? | |
| Alisa: Wie bei kleinen Kindern nach einem Streit: Wenn sie sich ehrlich | |
| entschuldigt und die Hand gegeben haben, und danach ein Zusammenleben auf | |
| Augenhöhe möglich ist. | |
| Gosia: Ich glaube, dass er nie vorbei ist. Zumindest nicht in unserem Land. | |
| Das ist auf Dauer auch anstrengend hier. | |
| Haben sich Deutschland und Polen denn schon richtig die Hand gegeben? | |
| Gosia: Ja! Mehr als genug. Wir sind versöhnt! Weiter geht’s! | |
| Alisa: Ich glaube, unter jungen Leuten auf jeden Fall. Aber Deutschland hat | |
| noch immer eine Verantwortung, auch jetzt in Europa. Wir haben dieses | |
| Wir-müssen-es-wiedergutmachen-Gefühl noch immer. Finde ich okay. | |
| Wie informiert ihr euch? | |
| Gosia: Ich schaue Nachrichten im polnischen Ersten, ich lese keine | |
| Zeitungen, falls du das meinst. | |
| Alisa: Ich lese nur Zeitung, wenn ich auf dem Klo bin, da liegt sie bei uns | |
| rum. Ansonsten gucke ich „Tagesschau“. Und bei Facebook kommen manchmal | |
| Posts, so stoße ich oft auf gute Artikel. Und ich höre Radio. | |
| Wie oft wart ihr im Nachbarland? | |
| Gosia: Ein Mal, in Braunschweig. Ich habe meine Tante in den Ferien | |
| besucht, für zwei Wochen. Da war ich 12. Ich erinnere mich aber nur, dass | |
| wir in einem Freizeitpark waren. | |
| Alisa: Vier Mal. Als Kind zwei Mal, ich glaube, wir waren an der Ostsee, | |
| irgendwo war auch ein Rummel. Dann in Danzig und Gdynia, da war ich mit | |
| meiner Mutter und ihrem Freund auf einem Festival, wir sind von Stettin aus | |
| mit dem Fahrrad gefahren. | |
| Ihr seid ein untypisches Paar. Statistisch gesehen gehen mehr junge Polen | |
| nach Deutschland als andersrum. Was magst du an Polen, Alisa? | |
| Alisa: Die Sprache, die ehrliche Art, ich fühlte mich hier immer sehr | |
| willkommen. Und die Wodkasorten! Ich mag eigentlich keinen, aber die | |
| schmecken echt! Ah, und die Architektur! Und ist das blöd, wenn ich das | |
| sage? Die Wangenknochen. Ich finde, Polinnen haben schöne Gesichter. | |
| Welchen polnischen Wodka magst du denn? | |
| Alisa: Ich weiß nicht, wie der hieß, war mit Erdbeergeschmack. | |
| Gosia: Ich finde auch Wodka mit Geschmack gut. Am besten schmeckt der von | |
| Lubelska. | |
| Wie gut sprecht ihr die Sprache des anderen? | |
| Gosia: Ich habe sechs Jahre Deutsch an der Schule gelernt, bei uns ist das | |
| oft die zweite Sprache nach Englisch. Hund, Bücher, Lampe, grün, ich kann | |
| hier alles benennen, was ich im Café sehe. Aber ich würde lieber Spanisch | |
| lernen, gefällt mir besser. | |
| Alisa: Warum wird in Polen Deutsch unterrichtet, aber in Deutschland nicht | |
| Polnisch? | |
| Gosia: Keine Ahnung. Früher gab es ja nur Russisch bei uns. Jetzt | |
| orientieren wir uns westwärts, und da ist Deutsch schon auch wichtig, damit | |
| kann man sich immerhin in drei Ländern verständigen. Polnisch spricht man | |
| nur in Polen. | |
| Würdest du denn Polnisch lernen wollen, Alisa? | |
| Alisa: Ja! Ich kann schon ein bisschen was. Lewo, prawo, dzien dobry, nie | |
| rozumiem, tak, nie, uwaga. Und ein paar Schimpfwörter: Kurwa, spierdalaj. | |
| Der Osten wird oft so dargestellt, als würde er etwas hinterherhinken, das | |
| sehe ich nicht so. | |
| Habt ihr Reisen geplant, nach dem Abi? | |
| Gosia: Spanien. | |
| Alisa: Griechenland. | |
| Gosia: Sonne. | |
| 8 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Emilia Smechowski | |
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