# taz.de -- Die unsichtbaren Polen: Ich bin wer, den du nicht siehst | |
> Die größte Gruppe, die nach Deutschland einwandert, sind Polen. Das merkt | |
> keiner, weil sie sich unsichtbar machen. Unsere Autorin ärgert das. | |
Bild: Bloß nicht auffallen – hier zwei Schatten an der Oder | |
Es war der 17. Juni 1988, als wir einen polnischen Abgang machten, wobei | |
ich erst viel später verstand, was das heißt, und auch, dass der Ausdruck | |
uns Polen ein bisschen beleidigen soll. Aber in dieser Nacht von Freitag | |
auf Samstag war es tatsächlich so: Wir hauten einfach ab, grußlos. | |
Wir waren etwa fünfzig Kilometer gefahren, raus aus dem grauen Plattenbau, | |
raus aus Wejherowo, als meiner Mutter das Wörterbuch einfiel. Sie hatte es | |
auf dem Bügelbrett liegen lassen, Deutsch-Polnisch, Polnisch-Deutsch. | |
Tränen rannen über ihre Wangen, wie so oft in diesen Tagen unserer Flucht. | |
Was, wenn es uns verrät? Die ganze Aufregung, die Lügen, alles umsonst? | |
So begann das neue Leben meiner Eltern, und somit auch meins und das meiner | |
Schwester. Mit Angst. | |
Vielleicht erklärt diese Angst, warum meine Eltern, als sie es tatsächlich | |
nach Deutschland geschafft hatten, fast genauso weitermachten: bloß nicht | |
auffallen. Unsere Leitfrage der kommenden Jahre lautete: Wie machen es die | |
Deutschen? So machten wir es auch. | |
Wer Strebermigranten studieren will, der kann uns als Musterfamilie nehmen. | |
Meine Eltern, beide Ärzte, bekamen Arbeit, wir lernten Deutsch, mein Vater | |
stieg auf, meine Mutter weniger, wir bauten ein Haus. Wir fuhren erst einen | |
Mazda, dann einen BMW, dann einen Chrysler, und später eine Limousine von | |
Audi. Ich besuchte ein humanistisches Gymnasium, lernte Klavier und | |
Ballett, mit Polen wollte ich erstmal nichts zu tun haben, ich ging nach | |
Paris und Rom. | |
Erst viel später, als ich erwachsener wurde, fielen sie mir auf: all die | |
Polen in Deutschland. Meine Generation, Anfang dreißig, die im Kindesalter | |
mit ihren Eltern eingewandert war. Top integriert, erfolgreich, sie wirkten | |
fast deutscher als die Deutschen. | |
Ich war wie sie. | |
## Jetzt interessiert sich sogar die Wissenschaft für uns | |
Heute gibt es kein Volk, das zahlreicher nach Deutschland einwandert, als | |
wir Polen es tun. Seit Jahren schon. Nur: Als Migranten sieht man uns kaum. | |
Wir sind unsichtbar. Wir sind quasi gar nicht mehr da, so gut gliedern wir | |
uns ein. | |
Nun interessiert sich deshalb die Wissenschaft für uns. Dissertationen | |
werden geschrieben, Bücher. Studien vergleichen uns mit anderen Migranten | |
und stellen fest: Wir lernen die Sprache schneller. Wir studieren öfter. | |
Integrieren uns besser in den Arbeitsmarkt. Heiraten eher Deutsche als | |
Polen. Polnische Mädchen schneiden in der Schule sogar oft besser ab als | |
ihre deutschen Freundinnen. Wir sind die Champs. | |
Wie Chamäleons haben wir gelernt, uns in der deutschen Gesellschaft zu | |
verstecken. | |
Die Studien klingen, als sei das ein Erfolg. Als würden sich Menschen | |
ernsthaft wünschen, lieber nicht gesehen zu werden. | |
In der Nacht unserer Flucht, als ich auf der Rückbank unseres kleinen Fiat | |
Polski saß, wusste ich gar nicht, dass es so etwas wie Ausland gibt. Ich | |
war fünf und konnte mir nicht verzeihen, dass ich Tomek nicht gefunden | |
hatte. Am Nachmittag hatte meine Mutter gesagt: „Wir fahren in den Urlaub, | |
nach Italien.“ | |
Ich rannte auf den Hof mit den verrosteten Teppichstangen, an denen wir | |
manchmal turnten. Ich wollte mich verabschieden, von meinem besten Freund. | |
Lief hin zu dem Sandkasten, in dem wir, zwei Jahre nach Tschernobyl, | |
endlich wieder spielen durften. Kein Tomek. Und ich weiß nicht, ob ich | |
ahnte, dass wir nie zurückkehren würden, aber als meine Mutter mich ins | |
Auto setzte, fing ich an zu heulen. Es ist meine einzige Erinnerung an | |
unsere Flucht. Diese Panik, mich unbedingt verabschieden zu wollen. Und | |
dann einfach wegfahren zu müssen, ohne Tschüs zu sagen. Beziehungsweise: | |
„pa“. | |
1988, als wir beschlossen zu fliehen, hieß es in der deutschen Politik noch | |
immer: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Die Ausländer, die schon | |
seit Jahrzehnten da waren, waren ja nur Gastarbeiter. Also Gäste. Und Gäste | |
reisen irgendwann wieder ab. | |
Mein Vater buchte einen Zelturlaub in Rimini. Dass wir nach Westberlin | |
wollten, wo mein Onkel schon lebte, behielten meine Eltern für sich. Nur | |
die Großeltern wussten Bescheid. | |
Während ich an Tomek dachte, ruckelte und zuckelte unser Fiat durch die | |
Nacht, die Schlaglöcher auf Polens Landstraßen waren fast so groß wie unser | |
Auto. Meine Eltern schwiegen. | |
Die Grenze zur DDR passierten wir einfach. Dann kam die zweite. BRD. Wir | |
sahen sie schon von Weitem. Es war drei Uhr nachts, als sich vor uns ein | |
riesiger Tempel aus gleißenden Strahlern erhob. Drei Beamte liefen auf uns | |
zu und winkten uns zur Seite. Sie befahlen uns auszusteigen. Meine Mutter | |
hob meine schlafende Schwester hoch, und mit mir an der Hand lief sie zum | |
Toilettenhäuschen nebenan. Mein Vater blieb allein zurück. | |
## Wir ließen unsere Identität an der Grenze | |
Meine Mutter ist schon immer ein sehr ängstlicher Mensch gewesen, sie ist | |
es bis heute, und ich kann mir kaum ausmalen, wie sich das für sie | |
angefühlt haben muss. Da standen wir nun, mit einem Bein im alten, mit dem | |
anderen im neuen Leben, als diese bewaffneten Männer anfingen, unseren | |
Kofferraum zu durchsuchen und die Sitze hochzuheben. | |
Sie fanden nur Badeanzüge, Handtücher und ein Zelt. | |
Als wir wieder losfuhren, hörte es plötzlich auf zu ruckeln, als hätte | |
jemand Butter auf den Asphalt geschmiert. Dafür fuhren wir jetzt im Kreis, | |
wie in einem Schneckenhaus, es ging gar nicht mehr geradeaus! Mein Vater | |
verlor die Orientierung und meine Mutter schrie: „Fahren wir jetzt etwa | |
wieder zurück?“ | |
Es war der erste Satz, den meine Eltern sprachen, seit wir aus Wejherowo | |
raus waren, und sie lachten erleichtert, als sie begriffen, dass diese | |
Straßenschnecke lediglich dazu diente, sie auf die erste Autobahn ihres | |
Lebens zu führen. Nach Westberlin. | |
Wir ließen den Eisernen Vorhang, den Stillstand, das System, das unsere | |
Freiheit so willkürlich einschränkte, hinter uns. Nun mussten wir es | |
schaffen. | |
Ob Kriegsflüchtlinge aus Syrien oder Arbeitsmigranten aus Südeuropa – die | |
meisten Einwanderer haben heute den einen Wunsch: irgendwann wieder | |
zurückzukehren. Wir wollten nicht zurück. Vielleicht fiel es uns deshalb so | |
leicht, unsere Identität an der Grenze zu lassen. | |
Wenn ich heute meine Eltern frage, warum sie damals ausgereist sind, sagt | |
mein Vater, er wollte sich nie wieder einsperren lassen, und meine Mutter | |
sagt, sie wollte, dass wir Töchter bessere Chancen hatten. | |
In Polen gab es keine. So wie es keine Babynahrung in den Läden gab, keine | |
Möbel, kein Fleisch. Es sei denn, man hatte Geduld – oder Kontakte in den | |
Westen. Während ihres Medizinstudiums hatten meine Eltern Alkohol einfach | |
selbst destilliert. | |
Nach dem Studium, als beide schon Anästhesisten waren, arbeiteten sie rund | |
um die Uhr, es reichte trotzdem gerade für einen mittleren Standard. | |
Wohnung: Platte. Küche und Auto: von den Großeltern. Dieses eine Wort gab | |
es in Polen nicht: Aufstiegsversprechen. | |
Der einzige Lichtblick waren die Päckchen, die ein deutscher Freund meines | |
Opas schickte. Mit Kaffee, Schokolade, und dem größten Schatz, den meine | |
Mutter sich vorstellen konnte: dem Burda-Katalog. Unsere Kleider waren | |
immer genäht „jak w Burdzie“. Wie bei Burda. | |
In unseren ersten Tagen in Westberlin kamen wir bei dem Onkel unter. Wir | |
verkauften unseren Fiat Polski für 1.000 Mark. Dann zogen wir um, ins | |
Lager. Eine große Halle in Berlin-Neukölln, eigentlich gedacht für | |
Obdachlose, aber, weil in diesen Jahren so viele von uns kamen, wurde sie | |
auch für Aussiedler geöffnet. Überall Eisenbetten und Plastiktüten, es roch | |
nach Schnaps, und meine Schwester und ich krallten uns an den Beinen | |
unserer Mutter fest. | |
„Ihr könnt hier nicht bleiben“, sagte mein Vater, und fuhr uns zurück zum | |
Onkel. Er selbst schlief wochenlang in der Halle, damit wir den Platz | |
behielten. | |
Mein Vater hatte in Polen seine Bücher zurückgelassen, Goethe, Mann, | |
Dostojewski. In Deutschland hatte er nun Putzdienst und schrubbte Klos und | |
Flure. | |
## Die ersten Wochen liefen wir fast stumm herum | |
Ein Fernsehteam kam und fragte meine Eltern auf englisch, was sie sich am | |
meisten wünschten. Mein Vater sagte: Er würde gern das Ganze, die Flucht, | |
die Ankunft hier, so schnell wie möglich vergessen. Meine Mutter sagte, sie | |
werde erst wieder glücklich sein, wenn sie wieder alles hat, was sie hatte | |
aufgeben müssen: Arbeit, Wohnung, Auto. | |
In diesen ersten Tagen in Deutschland dämmerte es ihnen: Hier ankommen | |
werden sie nur, wenn sie anders werden, als sie sind. | |
Und ausgerechnet die Nazis hatten dafür gesorgt, dass ihnen das leichter | |
fiel als anderen. | |
Wie viele Polen im Sozialismus, hatten auch meine Eltern nach einem | |
„deutschen Großvater“ gesucht, der Eintrittskarte in den Westen. Sie fanden | |
ihn. Mein – durch und durch polnischer – Urgroßvater hatte bei der | |
Reichsbahn gearbeitet und sich in die „Deutsche Volksliste“ eintragen | |
lassen. Denn als die Nazis gemerkt hatten, dass es schier unmöglich ist, | |
alle Polen auszulöschen, um das Land zu „germanisieren“, beschlossen sie, | |
die übrigen Polen irgendwie zu Deutschen zu machen. Mein Urgroßvater galt | |
somit als Deutscher und wir waren, auf dem Papier und ohne einen einzigen | |
deutschen Verwandten zu haben: Aussiedler. Unser Ticket in eine neue Welt. | |
Meine Familie spricht bis heute nicht gern darüber. | |
Statt für Fleisch, stellten sich meine Eltern nun morgens um 5 Uhr für | |
Papiere an. Krankenkasse, Monatskarte, Begrüßungsgeld, als Aussiedler | |
bekamen wir die Luxusbehandlung. | |
Mein Vater konnte es nicht fassen. Ohne jemals einen Pfennig in die | |
deutsche Arbeitslosenversicherung eingezahlt zu haben, bekamen beide | |
Arbeitslosengeld. Meine Eltern hatten den Eindruck, sie schuldeten diesem | |
Land nun etwas. Auch der Sprachkurs im Goethe-Institut war, wie für alle | |
Aussiedler, kostenlos. Neunzig Prozent sprachen damals kein Wort Deutsch. | |
In den ersten Wochen liefen wir mehr oder weniger stumm durch die Gegend, | |
denn meine Eltern hatten beschlossen: Auf deutschen Straßen sprechen wir | |
deutsch. Dafür wiederholte meine Mutter ihn danach umso öfter, einen ihrer | |
ersten deutschen Sätze. „Pass auf!“ | |
Wenn ein Mensch von einem Land in ein anderes zieht, kommt zu all den | |
Rollen, die er in seinem Leben einnimmt, eine weitere. Er ist nun nicht | |
mehr nur Arzt, Vater, Literaturliebhaber, sondern auch: Einwanderer. Je | |
mehr Rollen, sagen Forscher, desto mehr Spannungen. Vielleicht haben meine | |
Eltern einfach beschlossen, diese Spannung zwischen zwei Kulturen so klein | |
wie möglich zu halten. Sie legten die Rolle der Polen ab. Und büffelten | |
dafür umso mehr für die der Deutschen. | |
Auf meinem Pass prangte jetzt kein weißer, sondern ein schwarzer Adler. Aus | |
der polnischen Emilka Smiechowska war die deutsche Emilia Smechowski | |
geworden. | |
Unsere Namen ändern, das, was von Geburt an immer bleiben sollte – einen | |
größeren Schnitt hätten wir nicht machen können. | |
Manche Flüchtlinge warten jahrzehntelang auf die Papiere, die bestätigen, | |
was schon längst ihre Wirklichkeit geworden ist: Sie sind Deutsche. Sie | |
wissen, wie man in Deutschland lebt. Bei mir war es andersherum. | |
Ich war Deutsche, bevor ich wusste, dass man sich in Deutschland Schokolade | |
aufs Brot schmieren kann. Bevor ich wusste, dass die deutschen | |
Lebensmittelläden Aldi heißen. Dass dort die Regale nie leer sind. Und dass | |
man in der Kirche die Hostie in die Hand statt in den Mund gelegt bekommt. | |
Als Turbo-Deutsche mühten wir uns ab, dem, was auf dem Papier stand, zu | |
entsprechen. Dieses Land wies viele Menschen ab, uns sah es als Deutsche. | |
Hätten wir in dieser Situation die Hand heben sollen und sagen: Aber wir | |
bleiben trotzdem auch polnisch, okay? | |
Neben der Obdachlosenhalle in Berlin-Neukölln gab es noch ein anderes, ein | |
kleineres Haus. Dort hatte jede Familie ihr eigenes Zimmer. Und eine | |
Familie war ausgezogen. | |
Mein Vater kaufte die billigste Flasche Whiskey, die er finden konnte, | |
machte sich auf zum Pförtner und schob sie ihm rüber. Der schaute ihn | |
verdutzt an. Dann schob er sie wieder zurück. „Wir machen sowas nicht in | |
Deutschland“, sagte er. „Hier regelt man die Dinge anders.“ | |
Wir bekamen das Zimmer. Einfach so. | |
Meine Eltern lernten Deutsch. | |
Wir gingen bei Aldi einkaufen. | |
Ich spielte mit alten Stücken aus Pappe. | |
Wir waren glücklich. | |
Wir wurden immer mehr. | |
In den achtziger Jahren kamen eine Million Einwanderer nach Deutschland, | |
davon 800.000 Aussiedler. Mit dem Fall der Mauer wurden es noch mehr. Heute | |
leben etwa 4,1 Millionen Menschen in Deutschland mit Aussiedler-Status, | |
darunter etwa zwei Millionen Polen. Wir sind, nach den Türken, die | |
zweitgrößte Migrantengruppe. Während die Türken Deutschland eher wieder | |
verlassen, stehen wir seit Jahren an der Spitze der Einwanderungsstatistik. | |
70.000 Polen kamen im Jahr 2013 unterm Strich nach Deutschland. So steht es | |
im aktuellen Migrationsbericht der Bundesregierung. | |
Und doch haben wir keinen Cem Özdemir, keine Aydan Özoguz im Bundestag, es | |
gibt keinen Verband, der für uns spricht, und wenn der Deutsche schnell was | |
auf die Hand will, holt er sich ganz sicher keine Piroggen um die Ecke. | |
Klar, wir sind auch nicht die Protagonisten in Büchern eines Thilo | |
Sarrazin, wir sind es nicht, die Zehntausende Dresdner dazu treiben, „Wir | |
sind das Volk!“ zu rufen. | |
Nicht mehr. | |
Emilie Mansfeld kam wie ich als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland. | |
Heute arbeitet sie als Politologin bei der Deutschen Gesellschaft für | |
Auswärtige Politik. „Durch den Verzicht aufs Polnische haben wir einen Teil | |
unserer Identität verloren. Der Begriff mag angestaubt sein, aber er trifft | |
es noch immer: Migranten sind Brückenbauer. Wir aber haben die Brücke | |
hinter uns gleich abgerissen“, sagt sie. | |
## Der große Wagen ist noch oben | |
Kennen Sie den noch? | |
„Eine kurze Anzeige mit drei Lügen: Anständiger Pole mit eigenem Auto sucht | |
Arbeit.“ | |
Oder den? | |
„Woran merkt man, dass noch kein Pole im All war? Der große Wagen ist noch | |
oben.“ | |
Noch einen? | |
„Wann gibt es in Polen Weihnachten? Zwei Tage, nachdem in Deutschland | |
Bescherung war.“ | |
Harald Schmidt hat diese Witze erzählt, der große Entertainer des deutschen | |
Fernsehens. In den neunziger Jahren war das. Das war die Stimmung. | |
Da waren wir schon längst raus aus dem Heim, hatten fünf Zimmer, Küche, Bad | |
bezogen, unsere erste Sozialwohnung. Sogar einen Balkon gab es, mit einem | |
grünen Belag, der aussehen sollte wie Rasen. Am ersten Abend saßen wir auf | |
dem hellen Teppich im leeren Wohnzimmer und aßen Brot mit Philadelphia. | |
Andere Flüchtlinge im Heim kauften vom Geld, das ihnen der Staat gab, | |
sofort Fernseher und Stereoanlage. An unserem ersten deutschen Weihnachten | |
gab es einen Plastikbaum und etwas Lametta. Wir tranken aus ausgewaschenen | |
Senfgläsern. Wir fuhren mit unserem Sozialticket U-Bahn. Nach Polen fuhren | |
wir erstmal nicht. Keiner von uns ahnte, dass nur ein Jahr später der | |
Eiserne Vorhang fallen sollte. | |
An 9. November 1989 sahen meine Eltern die Gesichter im Fernsehen. Die | |
Flaggen. Dieses Jetzt-ist-alles-wieder-möglich-Gefühl. Deutschland war | |
wieder vereint. Meinen Eltern machte das wieder: Angst. | |
Mein Vater fing in einem Krankenhaus an, meine Mutter in einem anderen, wir | |
gingen in den Kindergarten. Ihren Kollegen erzählten sie nicht, wie sie | |
bisher gelebt hatten. Es fragte auch keiner. | |
Mein Vater staunte, wie niedrig die Differenz zwischen seinem Gehalt und | |
dem Preis für ein Auto war. In Polen musste er etliche Jahre auf etwas | |
sparen, das es dann oft gar nicht gab. Die Butterpreise schwankten manchmal | |
von einem Tag auf den anderen um das zwölffache. Jetzt wartete er vier | |
Monatsgehälter und kaufte einen grauen Mazda, schnell und geschmeidig wie | |
eine Raubkatze. | |
## Nur eine 2 plus? Wie konnte das denn passieren? | |
Wenn wir andere Polen im Supermarkt hörten, rollten wir noch immer mit den | |
Augen. „Nur weil ich Polen im Ausland treffe, heißt das ja nicht, dass sie | |
meine Freunde werden müssen“, sagte mein Vater. Deutsch bedeutete Erfolg | |
und Geld. Polnisch bedeutete Armut. Und etwas Dreck. | |
Mit aller Macht wollten wir verhindern, dass man auf uns herabsah. | |
Mit sieben wurde ich eingeschult. Meine Mutter wiederholte es wie das | |
Vaterunser: „Du musst dich mehr anstrengen als die deutschen Kinder.“ Wenn | |
ich mit einer 2 plus nach Hause kam, legte sich ihre Stirn in Falten. Wo | |
denn das Problem gewesen sei? | |
Zahnpasta mit Erdbeergeschmack. Benjamin Blümchen. Eis in der Form eines | |
Buntstifts. Wurst in der Form eines Bärchens. 4You-Schulranzen. | |
Levi's-Jeans. | |
Urlaub in Schweden. Urlaub auf Capri. | |
Aktien. Schiffsanteile, um Steuern zu sparen. | |
Wir wollten Freiheit. Und bekamen Kapitalismus. | |
Es gab auch die Sommer, wie sie schon immer waren. Wir Schwestern mit | |
unseren Großeltern, in unserem Wald in Polen, unser Zelt, unsere zwei Seen, | |
unsere Birken, unser Moos, unser Feuer. | |
Unsere Eltern blieben in Berlin. Arbeiten. | |
Das bisschen Arbeitslosengeld, das sie bezogen hatten, hatten sie | |
tausendfach mit Steuern zurückgezahlt. Die Rechnung war beglichen. | |
Meine Mutter stand nervös in der Küche, als sie deutsche Freunde zum Essen | |
einlud. Was sollte sie kochen? Es gab dann Tomate mit Mozzarella, Lasagne | |
und Tiramisu. Von Piroggen hatte sie genug. | |
Mittlerweile besaßen wir einen 3er BMW in Grünmetallic. Diese Blicke, wenn | |
wir damit durch polnische Dörfer fuhren. Wir parkten auf bewachten | |
Parkplätzen, natürlich, und mein Vater befestigte die Lenkradsperre. Unser | |
neues Leben wurde beäugt. Von Fremden, aber auch von Tanten, Onkels, | |
Kusinen, die in Polen geblieben waren. | |
In Deutschland schämten wir uns dafür, arme Polen zu sein. In Polen | |
schämten wir uns dafür, reiche Deutsche zu sein. Wir fühlten uns wie die | |
Wölfe im Schafspelz. | |
Ist das der Preis einer Integration? Die Unsichtbarkeit? Die Scham? | |
„Tja“, sagt der polnische Historiker Robert Traba. „Die Generation Ihrer | |
Eltern, die damals zu Hunderttausenden nach Deutschland kam, litt unter | |
einem Minderwertigkeitskomplex. Sie hatte das Gefühl, etwas aufholen zu | |
müssen, was die Deutschen ihnen voraus hatten. Der Druck, so zu werden wie | |
die Deutschen, war groß. Sie haben sich nicht integriert, sondern | |
assimiliert. Assimilation aber führt ins Nichts.“ | |
Heute belächeln wir diesen Minderwertigkeitskomplex und gründen | |
Kulturvereine wie den „Club der polnischen Versager“. Damals konnten | |
Deutschland und Polen unterschiedlicher kaum sein. Sozialismus und | |
Kapitalismus, Arm und Reich, Grau und Glitzer. Wer schämte sich da nicht, | |
als Grauer? | |
Meine zweite Schwester wurde geboren. Meine Eltern kauften ein Grundstück. | |
Mit Garten. Sie stritten sich jetzt öfter. Meine Mutter wollte | |
Designerstühle, mein Vater fand sie zu bunt. | |
In der Schule sprachen wir zum gefühlt zehnten Mal über das Dritte Reich. | |
Lasen „Jakob der Lügner“ und „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. La… | |
mich endlich in Ruhe mit diesen bescheuerten Nazis! Der Lehrer schaute | |
irritiert. Ach, war die nicht aus Polen? Tja, dachte ich, jetzt fragst du | |
dich, wie viele aus meiner Familie vergast wurden. | |
Dabei interessierte mich das Thema brennend. Politik überhaupt. Nur konnte | |
ich nichts anfangen mit dem kollektiven Schuldgefühl der Deutschen. Was sie | |
wohl in polnischen Schulen lehrten? | |
Denkt ein Deutscher an Italien, sieht er Pizza. Denkt ein Deutscher an | |
Polen, sieht er das Tor von Auschwitz. | |
Bismarck, Hitler, Vertriebene. Brandts Kniefall in Warschau. Meine beiden | |
Länder waren vor allem durch Schuld und Sühne verwoben. „Es gibt keine | |
deutsche Identität ohne Auschwitz“, hat neulich unser Bundespräsident | |
gesagt. Genau das war lange Zeit mein Problem. | |
Wir waren das Auschwitz in Deutschland, die Opfer im Täterland. Und wollten | |
uns als solche lieber nicht zu erkennen geben, vierzig Jahre nach | |
Kriegsende. In Deutschland war doch jetzt so vieles anders, was sollten wir | |
da in alten Wunden rühren. Lieber werden wie die Deutschen. Weg mit dem | |
Unterschied. | |
In den USA ist das anders. In allen größeren Städten gibt es polnische | |
Communitys, polnische Feste, polnische Läden. Und ob man samstagabends | |
Piroggen oder Ribs essen geht, entscheidet lediglich der Appetit, nicht die | |
Geschichte. Es gibt sie nicht zwischen Polen und den USA, nicht so. | |
Ich fing an zu studieren. Ging ins Ausland. Und fing mit der Zeit an, ein | |
kleines Spiel zu spielen. Ich tanzte zwischen den Kulturen, bediente mich | |
mal dieser, mal jener Identität, je nachdem, wie es besser passte. Auf | |
deutschen Formularen hatte ich keine Lust auf Nachfragen und gab gar nicht | |
erst meine polnische Herkunft an. Um Auslandsstipendien zu bekommen, | |
schrieb ich seitenlange Motivationsschreiben über meine polnischen Wurzeln. | |
Es hatte schizophrene Züge. | |
Sollte ich am Telefon meinen Namen buchstabieren, sagte ich „Siegfried | |
Marta Emil Cäsar Heinrich Oskar Wilhelm Siegfried Kaufmann Ida“ und ließ | |
unkommentiert, wenn jemand mein akzentfreies Deutsch lobte. | |
Meine Eltern schämen sich noch heute, wenn sie merken, dass sie einen | |
winzigen Grammatikfehler gemacht haben. Mein Vater ist mittlerweile | |
Chefarzt. Je höher er aufsteigt, desto mehr muss er darauf achten, keine | |
Fehler zu machen, sagt er. Meine Mutter verwechselt noch immer „der, die, | |
das“. Sie sagt „Witzbeutel“, wenn sie Witzbold meint. Und „Tiefkultur“ | |
statt Tiefkühltruhe. | |
Wenn ich heute meine Eltern frage, warum sie sich so unsichtbar gemacht | |
haben, sagt mein Vater, man schämte sich eben damals als Pole, und meine | |
Mutter sagt, sie hatte Angst, es sonst nicht zu schaffen. | |
„Es ist verständlich, dass unsere Eltern so reagiert haben“, sagt Katharina | |
Blumberg-Stankiewicz. Als Politikwissenschaftlerin promoviert sie über die | |
unsichtbaren Polen. „Aber man sieht, wie wir als zweite Generation darauf | |
reagieren. Wir straucheln. Und holen uns irgendwann das Polnische zurück.“ | |
Manchmal steht, wer glaubt, sich entscheiden zu müssen, am Ende verloren | |
da. Assimilation ist kein Ankommen, es ist ein Versteckspiel. | |
Der Versuch, mich zu de-assimilieren, führt mich nach Polen. Als ich | |
beruflich zwei Monate in Warschau verbringe, fühlt es sich irgendwie schräg | |
an. Ich bin erwachsen, schwanger, will arbeiten. Aber am liebsten würde ich | |
mich mit meiner Oma an der Hand in der nächsten Bäckerei anstellen, für ein | |
Mohn-Quark-Teilchen. Nur ist meine Oma mittlerweile tot. | |
Ich lese polnische Geschichtsbücher und polnische Lyrik, gehe in die | |
Botschaft und will meine polnische Staatsbürgerschaft zurück. Nicht aus | |
Prinzip. Ich will wählen gehen. Wie ich es in Deutschland seit dreizehn | |
Jahren tue. | |
Als die CSU vorschlägt, wir Migranten sollten zu Hause besser deutsch | |
reden, bringen wir unserer Tochter gerade bei, dass „spac“ und „schlafen�… | |
das Gleiche bedeuten, dass „babcia“ und „Oma“ dieselbe Person ist. | |
Eine Initiative von polnischen Frauen, die sich „Zwischen den Polen“ nennt, | |
veranstaltet eine Weihnachtsfeier. Wir essen Mandarinen und reden über | |
unseren Heiligabend zu Hause. Über das Extragedeck für den fremden Gast, | |
das Warten auf den ersten Stern, darüber, wie wir die große Oblate geteilt | |
haben. | |
Bin ich jetzt rückwärtsgewandt? Konservativ? Oder lebe ich einfach nur mein | |
eigenes Multikulti? | |
Deutschland, so heißt es, ist das zweitbeliebteste Einwanderungsland der | |
Welt geworden. Die Politik hat sich ein Wortungetüm ausgedacht, um all die | |
Angekommenen zu vereinen. Aber auch wir „Menschen mit | |
Migrationshintergrund“ wissen nicht, wie wir lieber genannt werden wollen. | |
„Neue Deutsche“? „Menschen mit ausländischen Wurzeln“? „Hybride | |
Identitäten“? | |
Egal, welches Label wir uns geben: Den Unterschied lässt es nicht | |
verschwinden. | |
Soll es auch nicht. Ich will als Frau die gleichen Rechte wie ein Mann, das | |
gleiche Gehalt, die gleichen Aufstiegschancen. Das heißt doch aber auch | |
nicht, dass ich ein Mann sein will. | |
Ich habe heute wieder zwei Pässe – und will mich nie wieder entscheiden | |
müssen. Ich bin weder „neue Deutsche“ noch „alte Polin“. Was bitte ist… | |
dem Dazwischen? Noch immer scheint ethnische Vielfalt ein Symbol für | |
gescheiterte Integration zu sein. Wo keine homogene Masse zu sehen ist, wo | |
man die Migranten als solche erkennt, muss etwas falsch gelaufen sein. | |
Die Polen als Vorbild der Integration? Hätten sich alle Migranten so | |
„integriert“ wie wir, würden wir in Deutschland nur Schweinsbraten oder | |
Grünkohl mit Pinkel essen und uns im Theater langweilen. | |
## Die gehen ins Ausland, sind polnisch und stolz darauf! | |
Danzig, Breslau, nochmal Warschau. Ich schreibe über polnische Obdachlose | |
und die boomende Wirtschaft. Sehe Hipster und Hochhäuser und spreche mit | |
Jugendlichen und denke: Die kennen den polnischen Minderwertigkeitskomplex | |
gar nicht! Die gehen ins Ausland und sind polnisch und stolz drauf! | |
Mein Heimatland hat sich verändert. Wie kein anderes aus dem ehemaligen | |
Ostblock hat es den Systemwechsel geschafft – aus eigener Kraft. 2009 war | |
es das einzige Land in Europa, das trotz Eurokrise ein Wirtschaftswachstum | |
zu verzeichnen hatte. Das britische Magazin Economist schrieb: Seit dem 16. | |
Jahrhundert war Polen nicht mehr so wohlhabend, friedlich, vereint und | |
einflussreich. | |
Polen wird heute bewundert, nicht belächelt. | |
Und wir? | |
Haben diese Entwicklung nur aus der Ferne beobachtet. Uns ist nun auch | |
dieses Land ein bisschen fremd geworden. | |
Meine Mutter hat noch immer 50 Eier im Gepäck, jedes Mal, wenn sie in Polen | |
war. Ein Ei ist dort mittlerweile genauso teuer wie hier. | |
Meine Schwester hat einen Deutschen geheiratet und heißt jetzt anders. | |
Mich kostet es noch immer Überwindung, polnisch über den Spielplatz zu | |
rufen. | |
Sprachlich sei er irgendwie heimatlos geworden, sagt mein Vater. Er spricht | |
jetzt seine Muttersprache mit deutschem Akzent. | |
22 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Emilia Smechowski | |
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