# taz.de -- Kulturhauptstadt 2016: Europa ist mehr als ein Event | |
> Breslau wird Kulturhauptstadt 2016. Um die hochgesteckten Ziele zu | |
> erreichen, muss den Jungen der Weg freigemacht werden. | |
Bild: Die Universität von Breslau. | |
Als die Familie Oppenheim 1810 ihr Stadtpalais am ehemaligen Blücherplatz | |
kaufte, war Breslau eine Stadt im Umbruch. Vier Jahre zuvor hatte Napoleon | |
die Odermetropole unter seine Herrschaft gebracht. Nach dem Schleifen der | |
Befestigungswälle entstand Platz für neue Stadtteile wie die | |
Odertor-Vorstadt, heute Nadodrze, und auch eine jüdische Familie wie die | |
Oppenheims würde zwei Jahre später mit dem Toleranzedikt das Recht | |
bekommen, sich überall in Preußen niederzulassen. | |
Nirgendwo lässt sich die stürmische Geschichte Breslaus, das auf polnisch | |
Wrocław heißt, so anschaulich nachempfinden wie am Plac Solny 4, dem | |
Salzplatz – so heißt der Blücherplatz heute. Hier, wo die Oppenheims ihr | |
Palais kauften, verneigt sich Viola Wojnowski vor der Geschichte des Hauses | |
und will sie zum Sprechen bringen. Zwei Millionen Euro hat die | |
Unternehmerin hingelegt, um das Haus zu kaufen. 2,5 Millionen wird die | |
Sanierung kosten. „Dann werden wir einen Ort haben, der der Geschichte der | |
Stadt und der Kultur gehört“, sagt Wojnowski. Im nächsten Jahr soll alles | |
fertig sein, dann ist Breslau, neben San Sebastián im Baskenland, Europas | |
Kulturhauptstadt. | |
Das Oppenheim-Haus ist Teil des großen Programms, „mit dem Breslau endlich | |
in die erste Liga der europäischen Städte aufrücken will“, sagt | |
Stadtpräsident Rafał Dutkiewicz. Das klingt wenig bescheiden, genauso wie | |
das Thema, mit dem Breslau nächstes Jahr punkten will. „Es geht darum, wie | |
aus einer deutschen Stadt eine polnische wurde. Und es geht um Europa, zu | |
dem diese beiden Städte, die der Vergangenheit, und die der Gegenwart | |
gehörten.“ Der nahezu komplette Austausch der Bevölkerung habe dazu | |
geführt, dass Breslau heute eine weltoffene Stadt sei. „Nirgendwo ist die | |
europäische Identität so greifbar wie hier“, sagt Dutkiewicz. | |
## Das Breslauer Kreuzberg | |
Was ist eine europäische Stadt? Architekten und Stadtplaner haben darauf | |
eine einfache Antwort. Europäisch ist eine Stadt, wenn sie Maß und Mitte | |
bewahrt, den öffentlichen Raum hegt und die Innenstadtbezirke davor | |
bewahrt, zu reinen Geschäftsvierteln zu werden. Europa als Antipode zu | |
Amerika. | |
In Breslau erzählt man die Geschichte der europäischen Stadt von ihren | |
Menschen her. Von Familien wie den Oppenheims, aber auch von den | |
Neusiedlern, die 1945 am Bahnhof der Odertor-Vorstadt ankamen. „Die | |
Ankömmlinge zogen dort in die Altbauten, elegante Gründerzeithäuser mit | |
fließendem Wasser“, sagt Magda Piekarska von der Tageszeitung Gazeta | |
Wyborcza. „Einerseits war das ein zivilisatorischer Aufstieg, andererseits | |
weckte es Misstrauen. Also ließen die Leute die Häuser verfallen – Nadodrze | |
bekam den Ruf eines gefährlichen Stadtteils.“ | |
Am Infopunkt in der Łokietka-Straße zeigt die junge Aktivistin Maja | |
Zabokrzycka, dass Nadodrze nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine | |
Zukunft hat. „Die Stadt hat dieses Quartier lange vernachlässigt, doch seit | |
2009 hat man mit der Aufwertung begonnen“, sagt sie. „Mittlerweile gibt es | |
in Nadodrze dreißig Galerien. Junge Leute ziehen hierher. Manche | |
vergleichen Nadodrze deshalb auch mit Kreuzberg.“ | |
Tatsächlich zeigen sich viele Straßenzüge zwischen Oder und Odertor-Bahnhof | |
heute teilweise herausgeputzt. Über dreißig Millionen Euro hat die Stadt in | |
die Sanierung der Gebäude gesteckt. | |
## Die europäische Stadt soll integrieren | |
Weil die meisten Altbauten der Stadt gehören, geht mit der Aufwertung nicht | |
automatisch eine Vertreibung einher. Maja Zabokrzycka erhofft sich durch | |
den Status Kulturhauptstadt neu en Schwung. „Es gibt ein Programm namens | |
„Mikro-Granty“, bei dem Projekte Geld von der Kulturhauptstadt bekommen | |
können. Auch in Nadodrze profitieren einige Initiativen davon. Es gibt zum | |
Beispiel ein Projekt, in dem Obdachlose eine Galerie eröffnet haben.“ | |
Die europäische Stadt als Integrationsthema. Das ist eines der Ziele, die | |
sich der Leiter der Kulturhauptstadt, Krzysztof Maj, gestellt hat. Über | |
eine Art soziale Barrierefreiheit soll die Teilhabe der Bewohner am | |
kulturellen Leben erhöht werden. Bisher besuchen 7 Prozent der Breslauer | |
Kulturveranstaltungen in der Oper oder den Theatern der Stadt. Nach 2016 | |
soll sich diese Zahl auf 14 Prozent verdoppeln. | |
„Direkt vor dem Schaufenster haben die Demonstrationen stattgefunden“, | |
erklärt Joanna Męczyńska. „Einmal kam es zu einem Unfall, bei dem sich ein | |
Auto überschlagen hat. Es gibt alte Fotos, aus denen haben wir eine | |
Installation gemacht.“ Wenn Męczyńska über die „Orangene Alternative“ | |
spricht, jene Spaßguerilla der achtziger Jahre, die den Kommunismus mit | |
Ironie und ihren überall hingepinselten Zwergen weglachen wollte, gerät die | |
junge Breslauerin ins Schwärmen. „Breslau war das Zentrum dieses Protests.“ | |
Joanna Męczyńska, geboren 1979, ist die Koordinatorin der „Bar Barbara“, | |
jener legendären Milchbar in der Świdnicka-Straße, in der sich die alten | |
und jungen Breslauer einst trafen und es nun wieder tun sollen. Aus der | |
Milchbar ist inzwischen so etwas wie das öffentliche Gesicht der | |
Kulturhauptstadt geworden, mit einem stylischen Café und | |
Veranstaltungsräumen. „Damals sind viele Demonstranten in die Bar | |
geflüchtet, um sich vor der Polizei in Schutz zu bringen. Auch heute wollen | |
wir ein offener Ort sein.“ | |
Joanna Męczyńska gehört zu jener jungen Generation von Breslauern, die ihre | |
Stadt noch nicht aufgegeben hat. „Viele gehen weg, nach Warschau oder | |
Berlin“, sagt sie, „weil auch in Polen die Jugendarbeitslosigkeit steigt.“ | |
Anders als für den Breslauer Stadtpräsidenten Dutkiewicz, der mit der | |
Kulturhauptstadt 2016 die Zahl der Touristen verdoppeln will, ist das | |
kommende Jahr für Męczyńska auch ein Test dafür, ob sich die Stadt verjüngt | |
und die alten Eliten bereit sind, den Jungen Platz zu machen. „Wir wollen | |
hier eine Zukunft haben“, sagt sie und weiß sich damit auch einig mit den | |
meisten Kulturhauptstadt-Aktivisten. Breslau 2016 ist deshalb auch ihr | |
Projekt – und die letzte Chance für die Stadt, ihren jungen Kreativen zu | |
zeigen, dass sie gebraucht werden. | |
## Gefahr von rechts | |
Denn die europäische Idee, die die einstigen Solidarność-Aktivisten | |
hervorgebracht haben, muss immer wieder erneuert werden. Für die | |
Generation, die die Wende geprägt hat, bestand sie darin, die deutsche | |
Vergangenheit und die polnische Gegenwart der Stadt miteinander zu | |
versöhnen. Die folgende Generation hat aus Breslau eine offene | |
Kulturmetropole gemacht, in der fast 140.000 Studierende leben. Die aber | |
werden nun von der Krise Europas ebenso erwischt wie von einer politischen | |
Klasse, die immer mehr an Vertrauen verliert. | |
Mit Großereignissen alleine werde man die hochgesteckten Ziele nicht | |
erreichen, warnen deshalb die Kritiker. Es gehe auch darum, neue Wege der | |
Mitbestimmung umzusetzen. „Die Kulturhauptstadt erinnert an einen Laden, in | |
dem für eine bestimmte Summe Events verkauft werden“, sagt der | |
Theaterregisseur Krzysztof Kopka. „Sie sollen hübsch verpackt und wie in | |
einer Vitrine ausgestellt sein. Danach schließt der Laden und öffnet in | |
einer neuen Kulturhauptstadt.“ | |
Was wird von 2016 bleiben? Zumindest am Salzmarkt scheint die Sache klar. | |
„Wir wollen ein Haus sein, in dem eine Brücke von Breslau nach Berlin | |
geschlagen wird“, sagt Viola Wojnowski. Die Geschichte des Oppenheim-Hauses | |
hat Lisa Höhenleitner für sie recherchiert, eine Studentin der | |
Europa-Universität Viadrina. „Als die Oppenheims 1860 von Breslau nach | |
Berlin gezogen sind“, sagt Höhenleitner, „haben sie das Haus der Jüdischen | |
Gemeinde übergeben. Die hat es für Wohlfahrtzwecke genutzt. 1898 hat Ludwig | |
Herz im Erdgeschoss ein Schuhgeschäft eröffnet, das bis zur Pogromnacht am | |
9. November 1938 existierte.“ | |
Lisa Höhenleitner hat auch die polnische Geschichte des Hauses erforscht. | |
Und auch da zeigte sich Breslau wieder als Ort des Widerstands. „Die | |
Erinnerungen weisen nicht nur auf die unzureichenden Wohnverhältnisse hin. | |
Während der Solidarność-Demonstrationen suchten Demonstranten Schutz bei | |
den Mietern des Hauses, wenn die Polizei sie verfolgte.“ | |
26 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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