# taz.de -- Kulturhauptstadt Mons: Mit Van Gogh in die Zukunft reisen | |
> Das belgische Mons ist die heimliche Hauptstadt Europas. Erstes Highlight | |
> im Kulturjahr: Eine Ausstellung über einen jungen Prediger, der Maler | |
> wird. | |
Bild: Mit Feuer und Industrieromantik wird in Mons der Start ins Kulturhauptsta… | |
Halden, Schlote, Ruß, Armut und Ausbeutung, so sieht die Borinage gegen | |
Ende des 19. Jahrhunderts aus. Die Borinage (wörtlich etwa das Land der | |
Kumpel) ist das Kohlerevier in der belgischen Wallonie. Ein junger | |
Hilfsprediger aus Holland kommt 1878 in die verrufene Gegend, um sich den | |
armseligen Bergarbeiterfamilien zu widmen und sie zugleich vom | |
evangelischen Glauben zu überzeugen. Erfolg hat er wenig, aber der | |
Aufenthalt des jungen Predigers, der schon in etlichen anderen Berufen | |
gescheitert war, sollte doch ungeahnte Folgen haben. Denn in der Borinage | |
wurde aus dem besagten Prediger ein Maler. Sein Name: Vincent van Gogh. | |
Jetzt ist die Van-Gogh-Ausstellung zur „Geburt eines Künstlers“ der erste | |
Höhepunkt in der Kulturhauptstadt Europas im belgischen Mons. Mons | |
eröffnete sein [1][Kulturhauptstadt-Sein] am Wochenende mit dem üblichen | |
Tamtam von allerlei Kleinkünstlern und nächtlichen Licht- und | |
Feuerinstallationen auf allen Plätzen der Stadt. | |
Mons war schon zu van Goghs Zeiten so etwas wie der kulturelle Mittelpunkt | |
der Borinage. Die große Ausstellung „Van Gogh au Borinage“ hat allerdings | |
mit dem Umstand zu kämpfen, dass der Maler die Arbeiten aus seinen Jahren | |
(1878 bis 1880) im Kohlerevier fast vollständig zerstört hat. Das ist | |
verständlich, wenn man die wenigen überkommenen Bilder jetzt in der Schau | |
sieht. Es sind Studienblätter, in denen der nicht als Künstler ausgebildet | |
van Gogh sich ausprobierte. Dazu gehören auch Kopien von alten Meistern, | |
die in Mons zu sehen ist. | |
Von einem „der größten Maler aller Zeiten“, wie van Gogh in Mons | |
angekündigt wird, ist hier noch wenig zu sehen. Aber van Gogh lernt | |
schnell. Die Motive der Armen und Beladenen, der Bauern und Bergarbeiter | |
kommen auch in seinem späteren, avancierteren Arbeiten immer wieder vor. | |
So handelt die Ausstellung nicht nur von Landschaft und Leuten der | |
Borinage, wie van Gogh sie sah und empfand, sondern sie zeigt auch den | |
Werdegang eines Künstlers, der weitgehend als Autodidakt zu seinem Stil | |
fand. Im Nachhinein erschien die Entwicklung vielen wie der Weg eines | |
Genies, der an der Ignoranz seiner Umwelt für seine Kunst verzweifelte. | |
Aber betrachtet man den in Mons ausgebreiteten van Gogh, dann ist es doch | |
ein Weg zur Reife im Ausdruck. | |
## Verdiente Aufmerksamkeit | |
Wer Mons bislang nicht kannte, scheint etwas verpasst zu haben. Als | |
diesjährige Kulturhauptstadt Europas – neben dem tschechischen Pilsen – | |
bekommt die kleine Provinzstadt jene Aufmerksamkeit, die es schon lange | |
verdient hätte. 70 Millionen Euro wird man in Mons nur für die „300 | |
herausragenden Events und tausend kulturellen und künstlerischen | |
Aktivitäten“ ausgeben. Allein fünf Museen werden in diesem Jahr in der | |
Stadt eröffnet oder nach frischer Renovierung wiedereröffnet. | |
Bei den Ausgaben sind die Mittel für den neuen Bahnhof vom Stararchitekten | |
Santiago Calatrava oder die Kongresshalle von Daniel Libeskind noch gar | |
nicht enthalten. Der Bahnhof ist allerdings bislang nicht fertig und die | |
Halle von Stararchitekt Libeskind sieht auch nur aus wie ein billiger | |
Abklatsch der Dekonstruktivismusmode von gestern. | |
Das Rezept, Stararchitekten mit effekthascherischen Architekturen zu | |
beauftragen, um Touristen anzulocken, scheint hier mangels Klasse nicht | |
aufzugehen. Mons kann mit seiner Handvoll Hotels ohnehin nur wenige | |
Touristen beherbergen. | |
## Sichtbarmachung einer Umstrukturierung | |
Vielmehr ist der Titel Kulturhauptstadt im Falle von Mons zugleich so etwas | |
wie Sichtbarmachung einer Umstrukturierung, die nicht allein auf das | |
Strohfeuer massenkompatibler Events setzt, sondern bleibende Strukturen und | |
Einrichtungen schaffen will. Elio Di Rupo, sozialistischer Bürgermeister | |
von Mons, ehemaliger Premier in Belgien und der eigentliche Ideengeber und | |
Strippenzieher des Kulturhauptstadtprojekts, will der Stadt eine | |
Perspektive mindestens bis 2030 geben. Der Wandel von einer Region der | |
Montanindustrie zu einem Zentrum des Informationszeitalters ist in vollem | |
Gange. | |
Wenn man so will, ist Mons bereits so etwas wie eine heimliche Hauptstadt, | |
in der buchstäblich viele Fäden zusammenlaufen. Google hat hier 800 | |
Millionen Euro investiert und vor den Toren der Stadt sein Data Center | |
errichtet. Die alte, noch dem Kohlezeitalter geschuldete Infrastruktur von | |
Kraftwerken und Wasserkanälen war übrigens ein Grund für Google, sich in | |
Mons anzusiedeln. Ihr riesiger Computerpark von der Größe einer Kleinstadt | |
muss ja ständig aufwendig gekühlt werden. | |
## Das „Google auf Papier“ | |
Daneben residiert eine andere einflussreiche Macht, deren stark gesicherte | |
Niederlassung S.H.A.P.E. (Supreme Headquarters Allied Powers Europe) heißt. | |
Es ist das europäische Hauptquartier der Nato, von dem aus alle Einsätze | |
der alliierten Streitkräfte gesteuert werden. Und wie, wenn nicht durch | |
Informationskanäle, die die ganze Welt mit der belgischen Provinzstadt | |
verbinden würden? | |
Kann es da ein Zufall sein, dass sich in Mons auch die Wiege des Internets | |
– das Mundaneum – befindet? Die Idee des 1898 von Paul Otlet und Henri La | |
Fontaine ursprünglich in Brüssel gegründeten Archivs bestand darin, das | |
gesamte Wissen der Welt systematisch zu erfassen. Dazu benutzte man eine | |
Dezimalklassifikation, nach der noch heute Bibliotheken ihre Bestände | |
sortieren. Heute hat das Mundaneum seinen Sitz in Mons und besteht de facto | |
hauptsächlich aus Karteikästen. Natürlich ist auch das Mundaneum, das | |
„Google auf Papier“, wie man es nennt, bei „Mons 2015“ ab Juni mit dabe… | |
Auch das „Digital Innovation Valley“, auf der Rückseite des zukünftigen | |
Bahnhofs gelegen, zeigt, dass die Reise von Mons in die Zukunft bereits | |
begonnen hat. Mons will hier beweisen, dass auch kleinere Städte weiterhin | |
in Europa attraktiv sein können. Kultur soll als Motor der Prosperität | |
fungieren. | |
## Kapital Bildung | |
Kultur, das meint vor allem Bildung. Mons hat zwei Universitäten mit | |
zusammen 18.000 Studenten. Ihre Bildung ist auch ein Kapital. Das Kapital | |
in Mons zu halten und zu entwickeln, ist eine der Aufgaben, denen sich Mons | |
bereits seit einem Jahrzehnt verschrieben hat. Das Digital Innovation | |
Valley, im Grunde eine Art Industriegebiet mit viel Platz für künftige | |
Start-ups, ist nur die stadtplanerische Seite der Entwicklung. Im Laufe des | |
Jahres werden etliche Konferenzen und Ausstellungen die eingeschlagene | |
Entwicklung theoretisch und künstlerisch begleiten. | |
Die Schau „Atopolis“ etwa folgt der Faszination, die moderne Kunst für | |
Verkehr, Austausch und Transfer entfaltet. Mons selbst wird in all den | |
Veranstaltungen immer wieder zum Anschauungsobjekt für einen | |
Strukturwandel, bei der Kultur sowohl Ausdruck wie Mittel der Veränderung | |
sein soll. | |
Mons hat sich also den Titel Kulturhauptstadt nicht allein für die vielen | |
Theater-, Tanz-, Literatur- und Kunstevents verdient, die das ganze Jahr | |
über stattfinden werden. Vielmehr sollen diese Veranstaltungen die | |
Veränderungen in der Stadt reflektieren – oder man könnte auch sagen: | |
Content generieren. Ohne den kann nämlich weder die alte noch die neue | |
Kulturindustrie auskommen. | |
31 Jan 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.mons2015.eu/de/home/ | |
## AUTOREN | |
Ronald Berg | |
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