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# taz.de -- Berlin und Breslau: Raum für Pioniere
> Dass Breslau Europäische Kulturhauptstadt wurde, hat auch mit dem
> Gründerzeitquartier Nadodrze zu tun. Wie Kreuzberg in es ein Symbol des
> Aufbruchs.
Bild: Die Pomorska Straße in Wrocław Nadodrze
Wenn Patryk Kłos eines nicht mag, sind es Vergleiche. „Mir gefällt der
Vergleich mit Kreuzberg nicht“, sagt der Inhaber des Café Rozrusznik im
Breslauer Stadtteil Nadodrze. „Es geht bei uns weniger ungezwungen und
beliebig zu als in Berlin. Hier sind alle mit den unerfreulichen Tatsachen
des Lebens beschäftigt.“
Zu den Unerfreulichkeiten gehört für Kłos auch die Breslauer Bürokratie.
Mehr als ein Jahr hat es gedauert, bis er alle Genehmigungen zusammen
hatte, erst dann konnte es losgehen. Wenn das Café Rozrusznik ein Synonym
ist für die Entwicklung in Breslaus angesagtestem Stadtteil, muss man wohl
sagen, dass der Anlasser etwas gestottert hat. Anlasser: So nämlich heißt
Rozrusznik auf Deutsch. Inzwischen aber läuft es ganz gut.
Wrocław Nadodrze ist ein Amalgam, historisch, sozial, kulturell. Die
Odervorstadt von Breslau war im 19. Jahrhundert entstanden, die
Mietskasernen erstreckten sich zwischen der Oder und der zu einem Kanal
ausgebauten Alten Oder, hinter der die Vorstädte begannen und beginnen.
Nach dem Krieg kamen am Odertorbahnhof die ersten polnischen Siedler an und
versuchten, so gut es ging, in den deutschen Gründerzeithäusern heimisch zu
werden. Nicht jedem ist das gelungen, denn lange Zeit galt Nadodrze als der
soziale Brennpunkt der niederschlesischen Hauptstadt.
Seit dem Beginn der Stadterneuerung 2007 wurde in dem Stadtteil mit seinen
35.000 Einwohnern ein neues Kapitel aufgeschlagen. „Noch vor zehn Jahren
hat sich Nadodrze in Breslau keines besonders guten Rufes erfreut“, sagt
der für die Stadterneuerung zuständige Vizepräsident der Stadt, Adam Grehl.
„Langsam aber verändert sich das Image. Man merkt das daran, was man über
Nadodrze denkt und wie man über Nadodrze spricht.“
## Große Probleme
„In Nadodrze ist viel Energie“, freut sich Maja Zabokrzycka, die in der
Łokietka-Straße im Infopunkt arbeitet und die Veränderungen in ihrem
Stadtteil über all die Jahre beobachtet hat. „Nadodrze, das sind die Leute,
die im Stadtteil leben“, sagt Zabokrzycka, „die Alten und Armen, die
Jungen, die hier Cafés eröffnen, die Stadtteilinitiativen, die die Leute
miteinander ins Gespräch bringen.“
Auch für Zabokrzycka steht fest, dass sich Nadodrze zum besseren verändert
hat. „Doch die Probleme sind nach wie vor groß.“ Tatsächlich prallen in d…
Breslauer Odervorstadt inzwischen zwei Welten aufeinander. Überall öffnen
neue Galerien, es wird gegärtnert, in den Hofdurchfahrten prangen Graffiti,
im Café Bema liegen Flyer aus, auf denen sich die neuen Geschäfte und
Boutiquen präsentieren. Für die jungen, kreativen Breslauer ist Nadodrze
längst zur Marke geworden.
Doch das andere, das arme Nadodrze ist nicht verschwunden. Immer wieder
beschweren sich Bewohner über Lärm, Vandalismus und ungebetene Gäste, die
in den weiträumigen Höfen – die ehemalige Odervorstadt hat im Gegensatz zu
Kreuzberg keine Hinterhäuser – Bier und Wodka trinken. In einem Durchgang,
der zum Ekocentrum Wrocław führt, heißt es auf einem Graffito
unmissverständlich: „Selbst Hunde pinkeln hier nicht hin.“
In Nadodrze drängen sich die Probleme im wahrsten Sinne des Wortes. Mit
31.818 Einwohnern pro Quadratkilometer ist die Odervorstadt einer der am
dichtesten besiedelten Stadtteile Breslaus. Der Durchschnitt in der 630.000
Einwohner zählenden Odermetropole beträgt 2.170 Einwohner pro
Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Friedrichshain-Kreuzberg, dem am
dichtest besiedelten Bezirk Berlins, leben trotz der Hinterhäuser und
Seitenflügel, die es in den Berliner Gründerzeitquartieren gibt, 13.500
Einwohner pro Quadratkilometer. Pro Person stehen in Kreuzberg also weitaus
mehr Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung als in Nadodrze. Die
unerfreulichen Tatsachen des Lebens, von denen Patryk Kłos spricht, sind
auch statistisch messbar.
Maja Zabokrzycka vom Infopunkt in Nadodrze kennt nicht nur Breslaus neues
In-Viertel ganz gut, sondern auch Berlin. Auch sie mag den Vergleich mit
Kreuzberg nicht so besonders. „In Kreuzberg gibt es eine ganz andere
Tradition des Widerstands“, weiß sie. „Auch die Identifizierung mit dem
Stadtteil ist viel größer als bei uns.“
Dennoch bilde sich langsam eine Nadodrze-Identität heraus, glaubt
Zabokrzycka. Zu der gehört aber auch, dass die Entwicklung des Stadtteils,
anders als in Kreuzberg, nicht in Auseinandersetzungen und Straßenkämpfen,
durch Hausbesetzungen und Befriedung entsteht. Der Spirit von Nadodrze ist
eher der des Konsenses. Nicht selten ziehen NGO’s und Stadtverwaltung an
einem Strang, die „neuen“ Bewohner bringen die „alten“ untereinander ins
Gespräch. Und sich selbst mit den alten.
## Sanierung von oben
Wer die Altstadt über die Universitätsbrücke in Richtung Norden verlässt,
ist mittendrin in der hippen Gründerzeitkulisse Breslaus. Auf den ersten
Blick aber dominieren unsanierte Fassaden mit Einschlusslöchern aus dem
Krieg, holprige Gehwege, der Geruch von Kohleheizungen. Doch gleich neben
der Pomorska-Straße erstreckt sich eine weiträumige Grünfläche, auf der
selbst im Winter zahlreiche Bewohner spazieren gehen. Im Sommer tobt hier
das Leben.
„Durch verschiedene Untersuchungen haben wir festgestellt, dass sich in
Nadodrze die sozialen Probleme häufen“, sagt Grażyna Adamczyk-Arns,
Architektin, Stadtplanerin und Geschäftsführerin der städtischen
Sanierungsgesellschaft Wrocławska Rewitalizacja. „Weil der Stadt nur wenige
Mittel für die Stadterneuerung zur Verfügung standen, haben wir uns auf die
Aufwertung der Grünflächen und Innenhöfe konzentriert“, erklärt
Adamczyk-Arns. „Es ging uns darum, als Stadt Impulse zu geben, die dann von
den Bewohnern und privaten Investoren aufgegriffen werden.“
Sechs Jahre lang – von 2007 bis 2013 – begleitete die Stadt den
Sanierungsprozess in der Odervorstadt. Gemäß einem Masterplan wurden neben
dem Park in der Pomorska-Straße auch der Park Staszica nahe des
Odertor-Bahnhofs und die Grünfläche am Platz Świętego Macieja hergerichtet.
Hinzu kam die Aufwertung von einem halben Dutzend Innenhöfe. Bis zur
Sanierung waren die riesigen Höfe oft heruntergekommen, dienten als wilde
Autoparkplätze oder Müllkippen. „In den Bürgerbefragungen und Versammlungen
haben die Bewohner immer wieder betont, dass die Gestaltung der Höfe und
Grünflächen für sie an ersten Stelle stehen“, sagt Stadterneuerungschefin
Adamczyk-Arns. „Nun sehen sie, dass sich der Stadtteil zum Besseren
verändert hat.“
Die Sanierung der Gründerzeithäuser beschränkte sich dagegen auf wenige
Straßenzüge wie etwa die ulica Bolesława Chrobrego. Der Grund dafür liegt
in der Eigentümerstruktur der Breslauer Gründerzeitviertel. Alleine in
Nadodrze gehören 70 Prozent der Wohnungen der Stadt. Das hat eine schlechte
und eine gute Seite. Die schlechte: Die Stadt hat kein Geld, mehr als
Fassaden, Dächer und Treppenhäuser zu sanieren. Um die Wohnungen müssen
sich die Bewohner selbst kümmern. Die gute: „Anders als in Kreuzberg ist
Gentrifizierung in Nadodrze so gut wie unbekannt“, sagt Grażyna
Adamczyk-Arns. Zwar verkauft die Stadt mitunter Wohnungen an die Bewohner
zum Vorzugspreis. „Die dürfen dann aber fünf Jahre lang nicht
weiterverkaufen“, so die Sanierungschefin. Eine Art gesetzliche Bremse, die
dafür sorgt, dass auf Nadodrze keine Spekulationswelle zurollt.
Auch Adamczyk-Arns, die neben ihrem Job in Breslau auch noch an der HFT
Stuttgart lehrt, ist oft in Berlin. Gerade die fehlende Gentrifizierung,
sagt sie, mache einen Vergleich schwierig. „Eines aber haben Kreuzberg und
Nadodrze gemeinsam“, ist sie überzeugt. „Kreuzberg war der Vorreiter der
behutsamen Stadterneuerung in Deutschland, Nadodrze ist Vorreiter der
Revitalisierung in Polen.“
## Kritische Stimmen
Roland Zarzycki gehört zu den kritischen Stimmen, wenn es um die Zukunft
von Nadodrze geht. Als die nationale Jury aus Warschau vor einigen Jahren
nach Breslau gekommen war, um den Stand der Bewerbung als Kulturhauptstadt
in Augenschein zu nehmen, war es Zarzycki, der die Stadtoberen davon
überzeugt hat, dass man die Juroren auch durch Nadodrze führen müsse.
Gerade dieser Stadtteil, war der Aktivist und Mitautor der Breslauer
Bewerbung überzeugt, unterscheide Breslau von den Mitbewerbern in Stettin,
Danzig, Lodz oder Kattowitz. Nadodrze könnte den Ausschlag geben bei der
Entscheidung um den Kulturhauptstadttitel.
Zarzycki sollte Recht behalten. Als sich die Jury im Infopunkt in der ulica
Łokietka zum Gespräch mit den Bewohnern von Nadodrze traf, war eine
Vorentscheidung gefallen. „Mitten im Gespräch war eine engagierte Frau
aufgestanden und hatte die Jury aufgefordert, Breslau den Titel zu geben“,
erinnert sich Zarzycki. „Und zwar wegen solcher vernachlässigter Stadtteile
wie Nadodrze, in denen dringend gegen die weitere soziale Ausgrenzung
gekämpft werden müsse.“ Teilhabe gegen sozialen und kulturellen Ausschluss,
das waren die wichtigsten Punkte der Breslauer Bewerbung gewesen.
Tatsächlich fiel auf dieser Sitzung, wie einige Juroren später einräumten,
die Wahl auf Breslau. Doch der nächste große Wurf für Nadodrze, den
Zarzycki und die anderen Autoren der siegreichen Bewerbungsschrift für die
Zeit nach der Sanierung im Sinn hatten, fiel aus. Kaum hatte Breslau den
Titel in der Tasche, hat die Stadtverwaltung die Gelder für Nadodrze
zusammengestrichen. Übrig blieben so genannte „Mikrokredite“, um die sich
Bewohner und Initiativen bewerben konnten.
Dennoch blickt auch Zarzycki mit Optimismus auf die Zukunft von Nadodrze.
„Hier gibt es zwar keine großen Kulturinstitutionen“, sagt er. „Aber es
gibt Festivals, Debatten, Workshops und zahlreiche Treffpunkte.“ Vor allem
die spontanen Gespräche auf den Parkbänken, vor den Geschäften, an der
Ecke, zeigen, dass Nadodrze lebt, so Zarzycki. In Berlin würde man dazu
sagen: Am, aber sexy.
16 May 2016
## AUTOREN
Uwe Rada
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