# taz.de -- „Traumland“ von Adam Soboczynski: Ein Traumschloss in Berlin | |
> Die Jahrtausendwende – eine verlorene Zeit? Adam Soboczynski erinnert | |
> sich in seinem Buch „Traumland“ an Polen und Westdeutschland. | |
Bild: Die Oder, Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland | |
Einer der berühmtesten Romane der Weltliteratur wurde um die Wende vom 19. | |
zum 20. Jahrhundert geschrieben und trägt den französischen Titel „À la | |
recherche du temps perdu“. Seinem Autor Marcel Proust gelingt es auf | |
Hunderten von Seiten – bei einem quasi autobiografischen Durchgang durch | |
den Alltag des späten 19. Jahrhunderts – eine Vergangenheit auferstehen zu | |
lassen, die bei Erscheinen des Romans denkbar fern war. Prousts Roman | |
gleicht – wenn man so will – einer umfangreichen Gemäldegalerie. | |
Keiner Gemäldegalerie, sondern eher einer gestochen scharfen, gleichwohl | |
impressionistisch wirkenden Farbfotografie gleichen die soeben erschienenen | |
Lebenserinnerungen des Zeit-Redakteurs Adam Soboczynski, eines Mannes, der | |
1975 in Polen geboren wurde und im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern | |
ins damalige Westdeutschland ausreiste – aus einem Polen, in dem das | |
Aufbegehren der [1][Gewerkschaft Solidarność unter der Führung des | |
charismatischen Lech Wałęsa] den Anfang vom Ende des aus der Sowjetunion | |
heraus regierten Ostblocks in Gang setzte. | |
Soboczynski erzählt, wie seine Familie und er in jungen Jahren den Westen | |
erlebten: zunächst die westdeutsche, die rheinische Provinzstadt Koblenz, | |
dann aber das noch geteilte Berlin, nach dem sich der Autor im Rückblick | |
sehnt: „nach nächtlichen Stadtsilhouetten, auf denen sich die Plattenbauten | |
und der Klassizismus Winkelmanns, Wohnblockriegel des Westens und | |
Nazibunker unversöhnlich gegenüberstanden [….] nach der architektonischen | |
Trümmerlandschaft des 20. Jahrhunderts und den Spuren der Mauer, die mein | |
Leben vermutlich mehr prägte als das der meisten Deutschen.“ | |
In den späten 1970ern in Polen geboren, wurde der Autor in Schule und | |
Studium vor allem mit sogenannten Achtundsechzigern konfrontiert, die | |
seinen Bildungsgang vom Gymnasium bis auf die Universität prägen sollten. | |
Daher: „Wir lebten im Rückenwind der 68er, aber nicht mit ihren politischen | |
Parolen.“ | |
## Entlastet vom politischen Getöse | |
Soboczynski erzählt seine persönliche Geschichte, die freilich minder | |
anspricht als die kunstvolle Weise, mit der es ihm gelingt, in quasi | |
impressionistischen Miniaturen jene zweimal zwanzig Jahre auferstehen zu | |
lassen, in denen sowohl der Staatskommunismus zugrunde ging als auch die | |
Zweiteilung der Welt ihr Ende nahm und „Freiheit“ das Leben – nunmehr in | |
Westdeutschland – bestimmte: | |
„Wir lebten in Jahren der Freiheit. Und Freiheit bedeutete: Es sich leisten | |
zu können, von den großen und eindeutigen Gefühlen, von monokausalen | |
Erklärungen, vom politischen Getöse, von weltanschaulicher Illusion | |
entlastet zu sein. Es kam nicht mehr darauf an, was jemand sagte, sondern | |
wie jemand etwas sagte.“ | |
Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass diese so präzisen | |
Erinnerungsbilder am Ende in ein überzeugendes Plädoyer für die liberale | |
Demokratie westlicher Prägung münden – obgleich dem Autor die | |
Schattenseiten einer kapitalistischen Marktwirtschaft durchaus bewusst | |
wurden … Hatten doch „die Jahre der Freiheit Schattenseiten, die man in | |
Kauf nahm“. | |
Dabei gelingt es Soboczynski nicht nur, die Knappheit und relative Armut | |
des damaligen Osteuropas, vor allem Polens, anschaulich sichtbar zu machen, | |
sondern auch den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit Deutschlands – von | |
Hoyerswerda bis nach Mölln und Solingen – zu beschreiben. | |
## Bild eines Epochenwandels | |
Was diese Lebenserinnerungen über andere rein äußerlich vergleichbaren | |
Texte heraushebt, ist nicht nur ihre zweifellos authentische und | |
wirklichkeitsgetreu gestaltete Machart, sondern die Komposition der | |
erinnerten Szenen, die zwar ein Leben erzählen, aber doch weit mehr sind: | |
nämlich das anschauliche Bild eines historischen Epochenwandels, des | |
Zeitalters des Endes des Kalten Krieges und der Aufteilung der Welt in West | |
und Ost. Und das nicht auf Hunderten von Seiten historischer Dokumentation, | |
sondern in einem Bericht von keinen 200 Seiten. | |
Gegen Ende des [2][Buchs] offenbart der Autor seine Vorbilder: Walter | |
Benjamin, der sich seiner Reise nach Moskau erinnert, sowie Stefan Zweigs | |
„Welt von Gestern“, die mit Blick auf diese Welt von einem „Traumschloss�… | |
sprach. Indes, so Soboczynski: „Mein eigenes Traumschloss war etwas | |
renovierungsbedürftig“ – eine Wohnung in Berlin. | |
23 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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