# taz.de -- Deutsch-polnisches Schulbuch: Länderübergreifender Flop | |
> Ein deutsch-polnisches Schulbuch sollte ein Prestigeprojekt mit | |
> Ausstrahlung in die ganze Welt werden. Doch auf beiden Seiten fehlt | |
> Begeisterung. | |
Bild: Klassenzimmer einer Schule in Warschau | |
WARSCHAU taz | Ein „Leuchtturmprojekt“ hatte es werden sollen, das | |
länderübergreifende Schulbuch „Europa. Unsere Geschichte“. Mit ihm sollten | |
deutsche [1][und polnische Kinder] ein besseres Verständnis für die jeweils | |
andere Geschichte entwickeln. Doch das Lehrwerk mit seinen vier Bänden, das | |
Politiker in Polen und Deutschland 2008 angeschoben hatten, wird heute nur | |
selten im Unterricht eingesetzt. | |
„Wir haben seit Erscheinen des letzten Bandes im Jahre 2020 gerade mal | |
1.000 Exemplare verkauft“, sagt Waldemar Czerniszewski, der Direktor des | |
renommierten polnischen Schulbuchverlages WSiP. Für den Verlag sei das eine | |
Katastrophe: In der Buchreihe steckten jahrelange Vorarbeiten, die | |
Entwicklung eines neuen didaktischen Zugangs und hohe Investitionskosten. | |
Dass das Schulbuch kaum angenommen wird, liegt auch an der polnischen | |
Regierung: Ein vom Bildungsministerium beauftragter Historiker bewertete | |
den letzten Band negativ. Das könnte schwere Folgen haben: Denn ohne die | |
Zulassung aller acht Einzelbände zum Schulunterricht bekommt auch das | |
Gesamtwerk in Polen keine Zulassungsnummer. | |
Das umstrittene jüngste Buch der Reihe behandelt die Geschichte vom Zweiten | |
Weltkrieg bis zur aktuellen Situation in Europa und der ganzen Welt. Es | |
soll Achtklässler in Deutschland wie in Polen in die Lage versetzen, die | |
Bedeutung der Teilungen Polens wie Deutschlands zu begreifen – damals und | |
in ihren Auswirkungen bis heute. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Was | |
bedeutet eigentlich die „Überwindung der Teilung“? Haben die Polen auch | |
eine „Wiedervereinigung“ erlebt, möglicherweise sogar mehrere? Immerhin war | |
Polen 123 Jahre lang durch Russland, Österreich und Preußen dreigeteilt. | |
## Bayern zeigt die Rote Karte | |
Deutlich wird dabei, dass es eben nicht die „eine Geschichte“ gibt: Je nach | |
Perspektive und Fragestellung stellt sie sich anders dar. Deutsche Kinder | |
lernen, warum die Kriegszeit in Polen oft „vierte Teilung“ genannt wird, | |
während polnische verstehen, dass die „deutsche Teilung“ anders als im | |
Falle Polens kein Verschwinden des Staates von der Landkarte Europas zur | |
Folge hatte, sondern die Entstehung von zwei unabhängigen Staaten. | |
Ähnlich ist es mit dem Begriff der „okupacja“ oder „Besatzung“. Im Fal… | |
Polens war die deutsch-sowjetische Besatzungszeit 1939 bis 1945 | |
lebensbedrohlich, in Deutschland leitete die Besatzung ab 1945 durch | |
Siegermächte eine Zeit des Friedens und Neuanfangs ein. Die jeweiligen | |
Perspektiven bringen also völlig verschiedene Erfahrungen und | |
Interpretationen mit sich. | |
In Deutschland ist „Europa. Unsere Geschichte“ zwar zum Schulunterricht | |
zugelassen – der letzte Band bekam sogar den Preis als „bestes Schulbuch | |
2021 in der Kategorie Gesellschaft“. Doch auch hier hat ein | |
Bildungsministerium dem Schulbuch die Rote Karte gezeigt – Bayern. Im | |
Lehrplan sei neben europäischer und Weltgeschichte auch diejenige Bayerns | |
vorgesehen, so die Begründung. Diese komme aber im Europa-Geschichtsbuch | |
nicht vor. Die deutsch-polnische Schulbuchkommission und der deutsche | |
Schulbuchverlag Eduversum hätten deshalb Beihefte zur Geschichte Bayerns | |
entwickeln müssen So wurde dies auch in Polen gehandhabt. Dort gibt es | |
„nationale Beihefte“ zum gemeinsamen Schulbuch. | |
Doch auch in anderen Bundesländern habe es „große Bauchschmerzen“ bei der | |
Zulassung des deutsch-polnischen Schulbuches gegeben, bekennt der Gießener | |
Geschichtsprofessor Hans-Jürgen Bömelburg, der seit 2014 deutscher | |
Co-Vorsitzender der deutsch-polnischen Schulbuchkommission ist. | |
Möglicherweise bestand die Sorge, dass am Ende nicht nur für Bayern, | |
sondern für alle 16 Bundesländer Beihefte hätten entwickelt werden müssen �… | |
eine Mammutaufgabe, die zeitlich aufwändig und finanziell kostspielig wäre. | |
Im Endeffekt wählen nun auch in Deutschland nur wenige Lehrer und | |
Lehrerinnen das Schulbuch für ihren Unterricht. | |
## Brandbrief an Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier | |
Ein Herzensanliegen ist das europäische Schulbuch bis heute für | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Als 2006 der erste Band eines | |
deutsch-französischen Schulbuches vorgestellt wurde, regte er in seiner | |
damaligen Funktion als Außenminister und gemeinsam mit seinem polnischen | |
Amtskollegen Radosław Sikorski an, als nächstes Projekt ein | |
deutsch-polnisches Schulbuch zu entwickeln. | |
Die Autoren – Polen und Deutsche – sollten künftige Generationen dazu | |
befähigen, die Geschichte [2][aus verschiedenen Blickwinkeln] zu | |
betrachten. Neben notwendigem Faktenwissen sollte das neue Schulbuch eine | |
gewisse Perspektivenvielfalt vermitteln und Empathie mit den jeweils | |
anderen wecken. | |
Der offizielle Startschuss fiel 2008. Die deutsch-polnische | |
Schulbuchkommission übernahm das Projekt. Sie ließ die deutschen und | |
polnischen Geschichtslehrpläne für die Klassen 5 bis 8 in die jeweils | |
andere Sprache übersetzen und entwickelte zusätzliche Empfehlungen für alle | |
Autoren und Autorinnen des künftigen Lehrbuchs. 2016 erschien der erste | |
Band des Schulbuchs, dann Jahr für Jahr die weiteren. Wissenschaftler und | |
Politiker stellten sie feierlich der Öffentlichkeit vor. Auch Steinmeier | |
hielt die ersten Bände begeistert in die Kameras. Alles schien in bester | |
Ordnung zu sein. | |
Doch dann kam das Jahr 2020. Der letzte Band wurde den Gutachtern | |
ausgehändigt – und bekam in Polen die negative Beurteilung. Daraufhin | |
ernannte Bildungsminister Przemysław Czarnek einen weiteren Gutachter, | |
dessen Urteil dann bindend sein sollte. Es war erneut negativ. „Für uns kam | |
das völlig überraschend“, erzählt Andrzej Dusiewicz, Projektleiter von | |
„Europa. Unsere Geschichte“ im Schulbuchverlag WSiP. „Wir haben jedes | |
einzelne Argument des Gutachters genau unter die Lupe genommen und | |
gemeinsam mit der Schulbuchkommission ein detailliertes Beschwerdeschreiben | |
an das Ministerium geschickt. Ohne Erfolg.“ | |
## Nichts von Problemen mitbekommen | |
Verlagschef Czerniszewski trommelt mit seinen Fingern nervös auf die | |
Tischplatte in seinem Büro. „Auf dem Spiel stand nicht nur der letzte Band! | |
Sollte der Minister seine Unterschrift unter das letzte Gutachten setzen, | |
wäre das auch das Aus für die gesamte Schulbuchreihe gewesen, der ja dann | |
der letzte Band gefehlt hätte.“ | |
Er trinkt einen Schluck Espresso und sagt: „Wir haben dann den letzten Band | |
aus dem Zulassungsverfahren zurückgezogen. Damit können wir den Band zu | |
einem späteren Zeitpunkt und vielleicht – wenn der deutsche | |
Eduversum-Verlag mitzieht – aktualisiert um ein Kapitel über den russischen | |
Angriffskrieg auf die Ukraine erneut einreichen.“ | |
Projektleiter Dusiewicz ergänzt: „Insgesamt hat das Projekt allein in Polen | |
rund 15 Millionen Zloty gekostet, also über 3 Millionen Euro. Die vielen | |
Reisen der Autoren, Honorare für rund 40 Übersetzer und Dolmetscher, dann | |
die meist einwöchigen Hotelübernachtungen – das haben der WSiP-Verlag | |
bezahlt und die Ministerien für Bildung, für Auswärtige Politik und für | |
Kultur und Nationales Erbe.“ | |
Vom Streit um das „Leuchtturmprojekt“ scheinen Steinmeier und sein Büro | |
nichts mitbekommen zu haben. Um die Buchreihe noch zu retten, | |
veröffentlichten die Professoren Robert Traba aus Warschau und Michael G. | |
Müller aus Halle-Wittenberg, die ehemaligen Co-Vorsitzenden der | |
Schulbuchkommission, Ende 2022 einen Brandbrief an die Staatspräsidenten | |
Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier. | |
## Bildungsminister wollte nicht auf Verfahren verzichten | |
Während Duda bis heute schweigt, antwortete das Bundespräsidialamt im | |
Februar, Steinmeier wolle alles in seiner Macht Stehende tun, um den | |
letzten Band und damit auch das Gesamtwerk „hochrangig“ und öffentlich zu | |
präsentieren. Auf Nachfrage der taz Mitte Mai – in der Zwischenzeit hatte | |
sich nichts getan – schreibt das Amt: „Dem Bundespräsidenten liegt das | |
Projekt weiterhin sehr am Herzen. Er spricht es regelmäßig in seinen | |
politischen Gesprächen an.“ | |
Ein schwerwiegendes Problem für die Zukunft des Schulbuchs in Polen ist das | |
Zulassungsverfahren. Obwohl jeder Band vom Expertenrat der | |
deutsch-polnischen Kommission und vom Ministerium geprüft wurde, wollte | |
Polens Bildungsminister nicht auf das übliche Verfahren verzichten, das | |
jedes Schulbuch durchlaufen muss. Das Problem dabei: Die Gutachter kennen | |
meist weder die politische Genese des Buches noch die deutschen und | |
polnischen Lehrpläne, die in Übereinstimmung zu bringen waren, geschweige | |
denn die rund 150 Seiten mit Empfehlungen der Schulbuchkommission für die | |
einzelnen Texte. | |
Dass die ersten Bände dieses Verfahren mehr oder weniger glatt überstanden, | |
ist auf den anfänglichen politischen Willen zurückzuführen. Doch die | |
politische Stimmung in Polen ist heute eine andere. Die | |
nationalpopulistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) setzt | |
für die Parlamentswahl im Herbst auf die antideutsche Karte. Das war | |
bereits vor der Präsidentschaftswahl 2020 deutlich zu spüren. Dass Polens | |
Bildungsminister dann ausgerechnet den Posener Professor Grzegorz | |
Kucharczyk mit dem endgültigen Gutachten betraute, einen Mitarbeiter des | |
regierungsnahen Pilecki-Instituts und regelmäßiger Kommentator im | |
rechtsklerikalen Radio Maria, ließ das Schlimmste befürchten. | |
## Zurückhaltung mit der Kritik | |
Und tatsächlich sind seine „Korrekturen“ grotesk: Die Hauptillustration f�… | |
das Kapitel „Zweiter Weltkrieg“ sei fehl am Platze, da mit den Juden auf | |
dem Weg vom Warschauer Ghetto ins Vernichtungslager Treblinka suggeriert | |
werde, dass der Holocaust das Hauptverbrechen der Deutschen im Krieg | |
gewesen sei. Man solle die Leiden der verschiedenen Opfer nicht werten. | |
Außerdem solle nicht die Berliner Mauer das Symbol für das Ende der Teilung | |
in West- und Osteuropa sein, sondern die Arbeiterstreiks 1980 auf der | |
Danziger Werft. Eventuell könne man beide Bilder zeigen. | |
Die Kommission unter ihren neuen Vorsitzenden Hans-Jürgen Bömelburg aus | |
Gießen und Violetta Julkowska aus Posen hält sich mit Kritik an der | |
Blockadehaltung der polnischen Verantwortlichen zurück. Sie erarbeitet | |
gemeinsam mit dem Georg-Eckert-Institut in Braunschweig, dem Zentrum für | |
Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften | |
sowie den polnischen Lehrer-Arbeitskreisen Online-Module zum Schulbuch und | |
macht in Seminaren Werbung für die gemeinsame Buchreihe. | |
Sollte Polens Bildungsminister keine Idee entwickeln, wie aus dem selbst | |
verschuldeten Schulbuch-Flop doch noch ein Erfolg werden kann, wird der | |
„Leuchtturm“ am Ende wohl nur in Deutschland stehen – noch dazu | |
mitfinanziert von drei polnischen Ministerien. | |
24 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Deutschunterricht-in-Polen/!5904588 | |
[2] /Deutschunterricht-in-Polen/!5833879 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
## TAGS | |
Polen | |
Schule | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Bildungspolitik | |
PiS | |
Polen | |
Polen | |
Polen | |
Polen | |
Polen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Traumland“ von Adam Soboczynski: Ein Traumschloss in Berlin | |
Die Jahrtausendwende – eine verlorene Zeit? Adam Soboczynski erinnert sich | |
in seinem Buch „Traumland“ an Polen und Westdeutschland. | |
Demonstration gegen Polens Regierung: Für Demokratie, gegen die PiS | |
In Warschau demonstrieren Polen und Polinnen gegen die populistische | |
Regierungspartei. Sie sorgen sich: Bleibt ihr Land künftig noch eine | |
Demokratie? | |
Deutschunterricht in Polen: Auf Kosten der Kinder | |
Polens Regierung streicht Gelder für den Deutschunterricht an Schulen. Die | |
deutsche Minderheit sieht das als Wahlkampf der Rechtspopulisten. | |
Polens Vergangenheit und Gegenwart: Historische Parallelen | |
Vor 100 Jahren erschoss ein Attentäter den ersten Präsidenten der Zweiten | |
Polnischen Republik. Auch heute hetzen Rechte im Wahlkampf gegen | |
Minderheiten. | |
Deutschunterricht in Polen: Eine Minderheit in Geiselhaft | |
Deutschsprachige Kinder in Polen sollen weniger Unterricht in ihrer | |
Muttersprache erhalten. Das soll Druck machen auf die deutsche | |
Bildungspolitik. |