# taz.de -- Lech Wałęsa zu Protesten in Belarus: „Die Opposition hat keine … | |
> Der Anführer der polnischen Friedens- und Gewerkschaftsbewegung | |
> Solidarność von 1980 über Populismus, Putin und Protest. | |
Bild: Der ehemalige polnische Präsident Lech Wałęsa 2019 in Danzig | |
taz am wochenende: Herr Wałęsa, wenn Sie die aktuellen Proteste in Belarus | |
mit denen in Polen vor 40 Jahren vergleichen, sehen Sie Unterschiede oder | |
eher Ähnlichkeiten? | |
Lech Wałęsa: Belarus ist zurzeit noch dort, wo wir in den 1970er Jahren | |
waren. Damals haben wir den großen Streik in der [1][Danziger Werft] | |
verloren, weil uns nicht klar war, was wir eigentlich wollten. Die | |
Erfahrung lehrte uns, dass wir uns auf die Revolution sehr gut vorbereiten | |
mussten. Wir brauchten vertrauenswürdige Fachleute an wichtigen | |
Schaltstellen im Staat, ein realistisches Programm und Durchhaltevermögen. | |
Die [2][Oppositionsbewegung in Belarus] agiert zurzeit sehr spontan, ohne | |
eine schlagkräftige Struktur und ohne ein zumindest mittelfristiges | |
Programm. | |
Denken Sie bei der Struktur an eine freie Gewerkschaft – so wie die | |
Solidarność 1980? | |
Nicht unbedingt. Die Situation in Belarus ist eine andere als bei uns | |
damals. Dort wurden die Wahlen so dreist gefälscht, dass „die Straße“ | |
protestiert und Freiheit und Demokratie fordert. Bei uns fing alles mit | |
Streiks gegen die schlechten Arbeitsbedingungen an. Eine Gewerkschaft als | |
Struktur der Opposition bot sich also an. Die Belarussen müssen eine eigene | |
Struktur finden. | |
Hat Belarus überhaupt eine Chance, sich aus den Armen Russlands zu | |
befreien? | |
Ich bin ein Praktiker, Politiker und Revolutionär, kein Theoretiker. Es | |
ist doch so: Russland wird sich irgendwann mit dem Rest Europas arrangieren | |
müssen. Die Zeit der Nationalstaaterei und der Kriege ist vorbei. Wir | |
stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen als noch vor einem | |
Jahrhundert. Die globalen Probleme löst kein Staat mehr allein. | |
Die Ukraine, die ihren Freiheitskampf mehr oder weniger in der gleichen | |
Zeit begann wie Polen, ist heute weder in der EU noch in der Nato. Hat sie | |
ihre historische Chance verpasst? | |
Als ich Präsident Polens war, verfolgte ich die Konzeption eines | |
gemeinsamen Beitritts zu Nato und EU – also erst Polen und die anderen | |
mitteleuropäischen Staaten, dann die baltischen Republiken und schließlich | |
die Ukraine und auch Belarus. Doch dann verlor ich die Wahlen und hatte | |
keine zweite Amtszeit mehr. Damals zerfiel die Sowjetunion. Es hätte also | |
klappen können. Ich hatte bereits alles in die Wege geleitet, ohne dies | |
aber an die große Glocke zu hängen. Die Ukraine hat nicht ihre historische | |
Chance verpasst, sondern geht einen anderen Weg. Wenn die EU der Ukraine | |
und Belarus Strom, Gas und Öl liefern könnte, wären die beiden Länder | |
weniger abhängig von Russland und hätten einen größeren Handlungsspielraum. | |
Aber dazu ist die EU derzeit nicht in der Lage. | |
Aber es ist Ihnen noch gelungen, den Abzug der sowjetischen Soldaten aus | |
Polen zu verhandeln. Wie kam es dazu? | |
Vergessen Sie nicht die Berliner Mauer! Die wäre ohne unsere Vorarbeit | |
nicht gefallen. Die Sowjetunion war damals sehr schwach und konnte mit den | |
kapitalistischen Ländern nicht mehr konkurrieren. Zugleich hatten bereits | |
viele kluge Köpfe – polnische, russische, litauische – an | |
Eliteuniversitäten in den USA und auch in Westeuropa studiert. Sie | |
erkannten, dass das kommunistische Wirtschaftssystem nirgends | |
funktionierte, und so waren auch die sowjetischen Politiker nicht mehr | |
bereit, das bisherige System zu verteidigen. So erreichte ich in | |
Verhandlungen, dass die Sowjetsoldaten vollkommen friedlich aus Polen | |
abzogen. | |
Und heute? Haben Sie einen Ratschlag für die Oppositionellen in Belarus? | |
Von außen einen Rat zu geben ist sehr schwer. Man muss vor Ort sein, die | |
Situation mit Herz und Hirn erfassen, mal vor preschen, mal zurückweichen | |
und immer im Dialog mit der anderen Seite bleiben. Ich werde mich hüten, | |
einen konkreten Rat zu geben. Aber etwas gegen Russland zu unternehmen | |
empfiehlt sich zurzeit wohl nicht. Das würde Putin nicht zulassen. Kleinere | |
politische Projekte hingegen könnte die Opposition problemlos auf den Weg | |
bringen und dabei wertvolle Erfahrungen sammeln. | |
Mit oder ohne die Europäische Union? | |
Die EU ist heute sehr schwach. Es gibt zu viele antagonistische Kräfte | |
innerhalb der EU. Es wäre gut, wenn die Deutschen, Franzosen und Italiener | |
entweder die EU von innen reformierten oder aber – nachdem sie zuvor von | |
Großbritannien, Polen, Ungarn und Konsorten zerstört wurde – von Neuem | |
gründeten. Wie zuvor sollte jeder beitreten können, also auch diejenigen | |
Staaten, die vorher unbedingt raus wollten. Allerdings müssten sie einen | |
ganz klaren Rechte-und-Pflichten-Katalog unterschreiben, dessen Einhaltung | |
dann auch streng kontrolliert werden sollte. Die Farce rund um die | |
Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn und deren Ahndung | |
durch die EU ist doch einfach nur peinlich. Die Deutschen sollten endlich | |
zu ihrer Verantwortung stehen und aus dem politischen Zwerg EU einen Riesen | |
machen, der in der Weltpolitik ein Wort mitzureden hat. In ihrer jetzigen | |
Verfassung kann die EU weder Belarus noch der Ukraine helfen, fürchte ich. | |
Sie fordern eine Führungsrolle für Deutschland in der EU trotz des Zweiten | |
Weltkriegs? | |
Wir sind in einer anderen Epoche heute, führen keine Kriege mehr, sondern | |
sind Partner, die Vertrauen zueinander haben. Wissen Sie, ich habe auch | |
meinen Vater im Krieg verloren, war als junger Mann voller Zorn gegenüber | |
den Deutschen, bis mir klar wurde, dass die Zeiten sich geändert haben. Wir | |
Polen haben einen hohen Preis bezahlt, müssen aber in die Zukunft schauen. | |
Globale Probleme lösen wir nicht alleine. Kein Staat tut das. Wir brauchen | |
also eine starke EU. Die Deutschen sollten sich endlich an die Arbeit | |
machen. | |
Sie tragen seit ein, zwei Jahren in der Öffentlichkeit ein T-Shirt mit der | |
Aufschrift „Verfassung“! Steht es so schlecht um Polens Rechtssystem? | |
Nicht nur in Polen, sondern weltweit fallen immer mehr Menschen auf | |
Populisten herein. Sogar in den USA. Das Problem ist: Die Analysen der | |
Populisten sind oft richtig, aber ihre Lösungen sind fatal. Statt es besser | |
zu machen als ihre Vorgänger, zerstören sie das bisherige Rechtssystem und | |
die Demokratie. Als ich Präsident war, haben mich die Urteile mancher | |
Richter auch sehr geärgert, aber anders als die derzeit regierende Partei | |
Recht und Gerechtigkeit [3][(PiS)] habe ich nie versucht, Polens Gerichte | |
zu zerstören. Ohne Respekt vor der Verfassung, der Dreiteilung der Macht | |
und der freien Presse degeneriert so jedes populistisch regierte Land zur | |
Diktatur. In Polen und überall. | |
Die aktuell regierende PiS versucht, Sie aus der Geschichte Polens zu | |
eliminieren und Sie entweder totzuschweigen oder sogar durch eine andere | |
Person zu ersetzen. Schmerzt Sie das? | |
Ach, nein. Das zeigt doch nur, dass ich meinen Platz in der Geschichte | |
habe. Ich empfinde diesen zum Teil hysterischen Kampf gegen mich als eine | |
Art Wertschätzung. Sie können es nicht aushalten, dass ich als einfacher | |
Elektriker etwas geschafft habe, während sie als studierte Leute Statisten | |
geblieben sind. Da hängen sie mir an, ein kommunistischer Agent gewesen zu | |
sein. Haha, was ein Witz! | |
Wie sieht Ihre Bilanz aus – 40 Jahre nach der Solidarność -Registrierung! | |
Worüber freuen sie sich bis heute? | |
In der Solidarność-Revolution ging es nicht um mich, sondern um die | |
Freiheit und Souveränität Polens, auch um die Wiedervereinigung | |
Deutschlands. Das ist mir gelungen. Und das freut mich sehr. | |
20 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://!5444081& | |
[2] http://!5709585& | |
[3] http://!5694761 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
## TAGS | |
Belarus | |
Polen | |
Solidarnosc | |
Lesestück Interview | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Dokumentarfilm | |
Polen | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Populismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Essayfilm „Der nackte König“ online: Die Substanz der Revolte | |
Was haben Ayatollah Khomeini und Lech Wałęsa gemein? Der schweizer | |
Essayfilm „Der nackte König“ sucht „Fragmente der Revolution“. | |
Pol*innen rebellieren gegen Regierung: Schnauze voll in Warschau | |
Erst brachte die Verschärfung des Abtreibungsrechts durch das | |
Verfassungsgericht die Pol*innen in Rage. Dann kamen neue | |
Corona-Einschränkungen hinzu. | |
Pole bekommt Asyl in Norwegen: Flucht nach Oslo | |
Der polnische Regisseur Rafal Gawel zeigt rechtsradikale Straftaten an. Aus | |
Furcht vor Verfolgung in Polen ist er nach Oslo geflohen. | |
Vereidigung von Lukaschenko in Belarus: „Ich kann nicht anders“ | |
Unangekündigt und hinter verschlossenen Türen läutet Machthaber Lukaschenko | |
in Belarus seine neue Amtszeit ein. Zuvor lässt er halb Minsk sperren. | |
Erneute Proteste in Belarus: Stacheldraht gegen Demo | |
In Belarus riegeln Sicherheitskräfte das Minsker Zentrum gegen die | |
Protestierenden ab. Die kommen trotz der abgeriegelten Straßen. | |
Oppositionsführerin im Europaparlament: Von Belarus nach Brüssel | |
Tichanowskaja betont vor den EU-Abgeordneten, die Proteste seien nicht | |
gegen Russland gerichtet. Die EU verhängt vorerst keine neuen Sanktionen. | |
Kriegsende vor 75 Jahren: „Das Leid der Polen ist unbekannt“ | |
SPD-Politiker Markus Meckel plädiert für ein Polen-Denkmal in Berlin. Es | |
soll nicht an NS-Opfer erinnern, sondern an Polens Bande zu Deutschland. | |
Chantal Mouffe über Demokratie: „Populismus kann progressiv sein“ | |
Kann es einen guten linken Populismus geben? Der populären | |
Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe zufolge schon. Den Konsens der | |
Mitte lehnt sie ab. |