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# taz.de -- Chantal Mouffe über Demokratie: „Populismus kann progressiv sein…
> Kann es einen guten linken Populismus geben? Der populären
> Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe zufolge schon. Den Konsens der
> Mitte lehnt sie ab.
Bild: Die belgische Politikwissenschaftlerin und Professorin Chantal Mouffe
Den Konsens kritisiert sie ebenso wie den radikalen Bruch: Chantal Mouffe
und ihr verstorbener Mann Ernesto Laclau haben seit ihrem Buch „Hegemonie
und radikale Demokratie“ (1985) großen Einfluss auf linke
Aktivist*innen genommen. Podemos, Syriza, La France Insoumise beziehen
sich auf sie, einige ihrer prominenten Mitglieder sind ihre Freunde.
Dem Liberalismus wirft Mouffe vor, das zwangsläufig konflikthafte Wesen des
Pluralismus zu verkennen. Politik sei der Kampf um Hegemonie. Nun wartet
die Theoretikerin der radikalen Demokratie mit dem Plädoyer für einen
linken Populismus auf, der sich stellenweise wie das Programm für Sahra
Wagenknechts „Aufstehen“-Bewegung liest. Querfront oder Emanzipation? Wir
sprachen mit Chantal Mouffe am Rande des Humanities-Festivals in Wien.
taz: Madame Mouffe, Sie sagen, wir leben in einer postpolitischen Zeit. Man
könnte auch das Gegenteil annehmen.
Chantal Mouffe: Was ich postpolitisch nenne, ist die Tatsache, dass die
Bürger nicht mehr zwischen unterschiedlichen Konzepten wählen können. Es
gibt keine Unterschiede mehr zwischen Mitte-links und Mitte-rechts. Das ist
wie eine Wahl zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola. Demokratie muss
agonistisch sein, es muss Konfrontation geben und damit auch die
Möglichkeit der Wahl. Wir haben einen Konsens der Mitte und der ist
schlecht für die Demokratie. Das habe ich schon 2005 formuliert.
Zur dritten Amtszeit Tony Blairs.
Ja, Blairs dritter Weg, Giddens „Beyond Left and Right“ – politische
Kontroversen wurden als überwunden erklärt. Alle bewegten sich in die Mitte
und präsentierten sich als Mitte-links, Blair wollte den Thatcherismus mit
menschlichem Antlitz. Sie hatten die rechte Hegemonie des Thatcherismus
akzeptiert. Alle, die auf einen Bruch mit dem Thatcherismus gehofft hatten,
waren enttäuscht worden. Was in der Zivilgesellschaft passierte, hatte
nicht die Möglichkeit, sich in verschiedenen Alternativen auszudrücken. Das
nenne ich postpolitisch. Alternativlosigkeit ist gefährlich für die
Demokratie, das führt zu Enthaltung oder schafft das Terrain für
Populismen. Leider war meine Vorhersage richtig. Damals gab es nur zwei
Rechtspopulisten, Haider und Le Pen, heute sind sie in ganz Europa.
Und ein neuer Populismus von links soll das ändern?
Der populistische Moment ist eine Reaktion auf die Postdemokratie.
Populismus kann regressiv oder progressiv sein.
Den regressiven sehen wir täglich. Es fällt mir schwer, mir einen
progressiven vorzustellen.
Schauen Sie in die 1930er Jahre. Karl Polanyi hat die Widerstände gegen die
erste Globalisierungswelle studiert, sie waren entweder regressiv und
führten zum Faschismus und Nazismus oder progressiv und führten zum New
Deal eines Franklin D. Roosevelt. Wir erleben gerade etwas sehr Ähnliches.
Die Gesellschaften wehren sich gegen die Folgen des Neoliberalismus.
Andererseits wollen Sie ausgerechnet von Margaret Thatcher, der Mutter der
neoliberalen Revolution, lernen.
Genau. Im Gegensatz zur Labour Party war sie sich des konfrontativen Wesens
der Politik sehr bewusst. Ihre Strategie war eindeutig populistisch. Sie
zog eine Frontlinie zwischen den „Kräften des Establishments“ auf der einen
Seite und den einfachen Leuten auf der anderen. Deshalb war sie
erfolgreich. Heute gibt es eine Rückkehr von Konflikten durch all jene
Widerstandsbewegungen, die ich die Anti-Establishment-Bewegungen nenne,
deshalb spreche ich von einem populistischen Moment.
Sie sprechen auch von Postdemokratie.
Ja, das Postpolitische ist nur ein Aspekt der Postdemokratie. Unsere
Gesellschaften sind natürlich immer noch demokratisch, aber die zentralen
Eigenschaften der Demokratie, das Prinzip der Gleichheit und die
Souveränität des Volkes gibt es nicht mehr.
Wie verhält es sich genau mit der Souveränität?
Das betrifft den Aspekt des Postpolitischen, das Fehlen von Alternativen.
Aber seit der Finanzkrise 2008 gibt es einen weiteren Aspekt, nämlich die
Oligarchisierung unserer Gesellschaft: Sie stellt das Ideal der Gleichheit
radikal in Frage.
Dass die Menschen den Rechten zulaufen, interpretieren Sie als Folge des
Neoliberalismus. Aber weil Sie Haider und Le Pen nannten: Die haben doch
auch immer radikal marktliberal argumentiert.
Ja, das stimmt, viele rechtspopulistische Bewegungen widersprechen nicht
wirklich dem Neoliberalismus, aber dennoch sind sie eine Reaktion gegen die
Postdemokratie. Postdemokratie ist eine Konsequenz des Neoliberalismus,
aber das erkennen die Rechtspopulisten nicht unbedingt. Sie sagen, die
Postdemokratie sei eine Folge der Migration. Nur linke Populisten erkennen,
dass der Feind, die Kräfte des Neoliberalismus sind.
Sie sagen aber auch, ein linker Populismus dürfe gewisse Dinge nicht den
Rechten überlassen: Die Kategorien Volk und kollektiver Wille finden Sie
keinesfalls problematisch, im Gegenteil, ebenso die Idee eines
charismatischen Anführers.
Im Sinne eines linken Populismus ist das Volk keine empirische Referenz, es
ist eine politische Kategorie – es ist immer eine Konstruktion.
Dennoch ist das Volk ohne den Rekurs auf eine ethnische Gemeinschaft oder
die Nation nicht zu haben.
Natürlich wird bei einigen der Begriff immer eine ethnische Dimension
haben. Bei Marine Le Pen bedeutet er etwas anderes als bei Jean-Luc
Melenchon, bei ihm gibt es keine ethnische Dimension.
Und wie ist die Idee eines kollektiven Willens mit der Heterogenität der
Kämpfe vereinbar?
Das ist die größte Herausforderung für den linken Populismus. Bereits in
den 1980ern schrieben Ernesto Laclau und ich, emanzipative Politik dürfe
sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränken, wir waren damals sehr
besorgt, weil die neuen sozialen Bewegungen, nicht berücksichtigt wurden.
Heute stehen wir vor einem ähnlichen Problem. Wegen der Oligarchisierung
unserer Gesellschaft gehen viele Forderungen vom Prekariat aus. Tatsächlich
sind wir heute, im Postfordismus, alle in einem viel stärkeren Ausmaß als
noch im Fordismus von der Logik des Kapitalismus betroffen, in der
Zwischenzeit wurde sogar der Wohlfahrtsstaat abgebaut. Ein linker
Populismus muss eine Vielzahl heterogener demokratischer Forderungen,
antirasstische, ökologische etc., bündeln und die Herauskristallisierung
eines kollektiven Willens anstreben, der von gemeinsamen Affekten getragen
wird. Alle, die dem Linkspopulismus kritisch gegenüberstehen, bemängeln,
dass dazu ein charismatischer Führer nötig sei und darin eine autoritäre
Dimension läge.
Ja. Und was antworten Sie?
Es muss sich dabei nicht zwangsläufig um ein Individuum handeln, es können
spezifische Forderungen sein, die zum Symbol aller anderen Forderungen
werden. Solidarność wurde zum Symbol für viele verschiedene Forderungen
gegen den Totalitarismus. Oder nehmen Sie „Ni una menos“ in Argentinien,
diese Feministinnen kämpfen auch für die Rechte der Immigranten, für die
Arbeiterklasse. Das Bild des Anführers ist wichtig, wenn es um Affekte in
der Politik geht. Das ist eine Frage der Identifikation. Der Anführer kann
auch ein Primus inter Pares sein.
Da drückt sich für mich eher ein vertikales Politikverständnis aus, das mit
dem Rekurs auf die Masse verbunden ist – eine politische Form, die in die
Phase des Fordismus gehört.
Nein, ich bin dezidiert kritisch gegenüber der Vorstellung von Homogenität.
Die demokratischen Ansprüche stimmen nicht notwendigerweise überein, sie
können gar in Konflikt zueinander stehen. Man muss eine „Äquivalenzkette“
zwischen den verschiedenen Ansprüchen bilden, um sie in Forderungen zu
verwandeln. Meine Überlegungen basieren auf der dissoziativen Sichtweise
des Politischen als Feld des Konflikts und des Antagonismus. Es kann nicht
darum gehen, einen rationalen Konsens zu etablieren, das ist nicht möglich.
Aber nicht im Sinne Carl Schmitts, der glaubt, der konstitutive Konflikt
führe zwangsläufig in die Selbstzerstörung der liberalen Demokratie.
Nein, das Ziel ist, den Dissens auf eine Weise zu managen, die nicht zum
Bürgerkrieg führt.
Einige Linkspopulisten machen die so genannte Migrantenproblematik zum
Thema, ist das nicht Wasser auf die Mühlen der Rechten?
Ich bin mir da nicht sicher, bei Podemos sehe ich das nicht und ich weiß
nicht, was in Deutschland gerade geschieht, um ein Urteil zu fällen. Die
Libération hat sich neulich genau angeschaut, was Wagenknecht genau sagt,
und in der Tat gibt es nichts, was klar als Antimigrationsposition gesehen
werden kann. Ich denke nicht, dass die Alternative entweder keine Grenze
oder Antimigration ist. Wir sollten nicht in die Falle tappen, die Frage
der Einwanderung als ein Entweder-oder zu stellen.
Sie sagen, Marine Le Pen sei keine rechtsextreme Politikerin.
Ich glaube nicht, dass es Grund zur Annahme gibt, dass Marine Le Pen, käme
sie an die Macht, die repräsentative Demokratie abschaffen würde, obschon
sie die Demokratie einschränken würde, klar. Ich bin sehr kritisiert worden
für die Behauptung, die rechtspopulistischen Parteien seien keine
faschistischen Parteien und keine extrem rechten Parteien. Das Ziel der
extremen Rechten ist es, die repräsentative Demokratie zu Fall zu bringen
und ein völlig anderes System zu schaffen. Die extreme Rechte benutzt
Gewalt, keine Wahlen.
Vielleicht ist der Plan weniger der Putsch als das langsame Sterben der
Demokratie.
Ich erinnere mich, dass es in Italien einen Moment gab, als die
kommunistische Partei sehr wichtig war, das demokratische Spiel spielte und
einige sagten, das sei bloß Heuchelei. Wenn sie an die Macht kämen, würden
sie einen totalitären Staat gründen. Das ist eine konspirative Sichtweise.
In Skandinavien etwa sind einige Rechtspopulisten in einer
Regierungskoalition, ich glaube nicht, dass ihr Ziel ist, eine Diktatur zu
etablieren.
Aber es gibt Verbindungen zwischen gewalttätigen Gruppen auf den Straßen
und Rechtspopulisten in Parlamenten.
In Frankreich und Großbritannien gibt es auch eine extreme Rechte, aber es
sieht nicht so aus, als würden sie sich zur Wahl stellen. Das sollte man
auch nicht zulassen. Auch die FPÖ ist keine Neonazi-Partei. Natürlich sind
einige rechtsextrem, aber die Art, diese Parteien zu stigmatisieren, ist
eine Strategie, um sich selbst als gute Demokraten zu präsentieren und den
Rechtspopulismus als moralische Krankheit abzutun. Die anderen für
Rassisten, Sexisten und Homophobe zu halten ist eine einfache Strategie für
die sogenannten guten Demokraten, um keine Selbstkritik üben zu müssen.
Wen meinen Sie?
Der Erfolg des Rechtspopulismus ist die Folge des Verzichts der
Sozialdemokraten auf die Arbeiterklasse. Es ist viel einfacher für sie, den
Rechtspopulismus zu einem natürlichen Phänomen zu machen, wie das Wetter,
für das es keine rationale Erklärung gibt.
Sie sagen eine Konfrontation zwischen linkem und rechtem Populismus voraus.
Mir scheint eher, dass die Grenzen da zunehmend verschwimmen.
Ja, aber auf der anderen Seite ist es interessant, diese antipopulistische
Hysterie zu sehen.
Hysterie? Von wem?
Von denen, die versuchen, den Status quo zu verteidigen, und alle Menschen,
die den vorherrschenden Konsens kritisieren, als Antidemokraten
diskreditieren. Seit 2008 bröckelt die neoliberale Hegemonie, das macht
einige nervös, wir müssen verstehen, dass das Problem die Postdemokratie
ist. Deshalb sage ich, dass die Widerstände gegen die Postdemokratie
originär demokratisch sind.
10 Oct 2018
## AUTOREN
Tania Martini
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