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# taz.de -- Buch „Die populistische Vernunft“: Sich die Hände schmutzig ma…
> Hilft es, den Populismus einfach zu ignorieren? Ernesto Laclau zufolge
> nicht. Sein theoriepolitischer Klassiker liegt nun auf Deutsch vor.
Bild: Ernesto Laclau
Während sich das deutschsprachige Feuilleton ein Jahrzehnt lang die klugen
Köpfe über den Populismus zerbrechen konnte und der sozialwissenschaftliche
Lehr- und Publikationsbetrieb sein hot topic gefunden hatte – ein „Spuk“,
der „nicht so schnell vorbeigeht“, wie Jan-Werner Müller 2016 der Zeit zu
Protokoll gab –, war wohl niemandem so recht aufgefallen, dass nicht ein,
sondern der Klassiker fehlte.
Über anderthalb Jahrzehnte nach dem Original ist nun Ernesto Laclaus „Die
populistische Vernunft“ erstmals auf Deutsch erschienen.
Laclaus Theorie des Populismus entzieht sich den in der deutschsprachigen
Debatte gewöhnlichen Bestimmungen. Populismus ist für ihn weder ein
Konglomerat ambivalenter oder irrationaler politischer Ideologien noch ein
vulgärer Stil in der Politik. Laclau bestimmt ihn nicht inhaltlich, sondern
formal. Er beschreibt eine Form, in der sich politische Forderungen zu
einem hegemonialen Projekt verketten.
Am Anfang des Populismus steht nicht das Volk – als etwas, das einfach da
wäre, wie der Nationalismus es sich vormacht –, sondern die Forderung. Sie
bildet die kleinste analytische Einheit der Theorie, aus der heraus sich
erst politische Subjekte und schließlich das „Volk“ konstruieren. Einem
psychoanalytischen und dekonstruktiven Anti-Essentialismus verpflichtet,
denkt Laclau den Populismus in Abwesenheit und radikaler Negativität.
## Rhetorik als Modell aller Gesellschaftstheorie
Gegen den Logos kalkulierender und instrumenteller Vernunft setzt Laclau
die Rhetorik als Modell aller Gesellschaftstheorie. Gegen das elitäre
Projekt rationaler Verwaltung des Bestehenden steht die aktivierende Macht
der Affekte. [1][Populistische Politik] und damit jede Politik im starken
Sinn ist folglich kontingent – was ist, hätte immer auch anders kommen
können – und sie sucht den Konflikt. Notwendigkeit, Alternativlosigkeit,
Harmonie und Konsens sind prekäre und instabile Überdeckungen eines
ontologischen Antagonismus.
Wie das bereits in den 1980er Jahren gemeinsam mit [2][Chantal Mouffe]
verfasste Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“, eine theoretische
Programmschrift der Verbindung der durch Thatcher geschwächten
Arbeiter_innenbewegung mit den neuen sozialen Bewegungen, versteht sich
auch „Die populistische Vernunft“ als Beitrag zu einer linken
Strategiedebatte.
Laclaus polemische Verve richtet sich gegen Strategien des subkulturellen
Rückzugs oder kalter Kalkulation. Für den Gramscianer Laclau heißt Politik
nicht weniger, als Ansprüche auf die gesellschaftliche Hegemonie zu
erheben, ein „Volk“ zu konstruieren.
Für eine deutsche Übersetzung steht Laclaus von lateinamerikanischen
Debatten beeinflusster Begriff des „Volks“ eine Schwierigkeit dar. So
diskutierten die Herausgeber von Laclaus früher populismustheoretischer
Schrift „Politik und Ideologie im Marxismus“ noch, ob nicht „Bevölkerung…
eine angemessenere Übertragung für people sein könnte? Doch das geht an der
politischen Stoßrichtung Laclaus vorbei. „Volk“ muss als demos oder Leute
gedacht werden.
## Durchaus queere oder antirassistische Aneignungen
Laclau ist für seine Affirmation des Konflikts oft vorgeworfen worden,
nicht zwischen analytischen und normativen Zugriffen differenzieren zu
können. Leicht ließen sich begriffliche Instrumente auch jenseits
emanzipativer Politiken aneignen. Doch auch eine andere Deutung scheint
möglich. So macht die Offenheit des hegemonialen politischen Subjekts – des
„Volks“ – durchaus auch queere oder antirassistische Aneignungen denkbar,
die hegemoniale Konstruktionen angreifen.
Politik bleibt bei Laclau eine Angelegenheit, bei der man sich auch mal die
Hände schmutzig macht. So wichtig antagonistische Strategien dafür sind,
die liberalen Eingrenzungen der Demokratie zu durchbrechen, so falsch wäre
es auch, in jeder Form populistischer Kontestation eine Ausweitung
demokratischer Möglichkeiten erkennen zu wollen. Die Erfahrungen in der
Abwehr rechter Populismen hat gezeigt, wie wichtig es ist, rote Linien
durchzusetzen.
Das Gespür für die latenten Konflikte unter der stillen Oberfläche des
Sozialen war seit jeher eine der großen theoretischen Stärken Laclaus. Nun,
17 Jahre nach der Erstveröffentlichung, treten die hegemonialen Konflikte
viel offener zutage, und dennoch scheint die linke Strategiedebatte noch
immer einen starken Begriff von gesellschaftlichem Konflikt und politischer
Affektivität zu entbehren. Wer den Konflikt theoretisch ernst nimmt, kommt
an Laclau nicht vorbei.
26 Jul 2022
## LINKS
[1] /Die-Abschaffung-des-Kapitalismus/!5368836
[2] /Chantal-Mouffe-ueber-Demokratie/!5538435
## AUTOREN
Matthias Lorenz
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Politisches Buch
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Politische Theorie
Klima
Andreas Gabalier
Populismus
Arbeiterklasse
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