# taz.de -- Deutsche mit polnischen Wurzeln: Sollten Migranten unsichtbar sein? | |
> Die größte Gruppe, die nach Deutschland einwandert, sind Polen. Merkt nur | |
> keiner, weil sie sich integrieren, bis keiner sie sieht. Unsere Autorin | |
> ärgert das. | |
Bild: Manchmal verstecken sich Migranten einfach. | |
Kennen Sie den noch? | |
„Eine kurze Anzeige mit drei Lügen: Anständiger Pole mit eigenem Auto sucht | |
Arbeit.“ | |
Oder den? | |
„Woran merkt man, dass noch kein Pole im All war? Der große Wagen ist noch | |
oben.“ | |
Harald Schmidt hat diese Witze erzählt, der große Entertainer des deutsches | |
Fernsehens. In den neunziger Jahren war das. | |
Damals auf dem Schulhof habe ich so getan, als hätten sie nichts mit mir zu | |
tun. Ich war keine Polin mehr. Sondern längst auf dem besten Weg, deutscher | |
als die Deutschen zu werden. | |
Meine Eltern, meine Schwester und ich – wir sind 1988 aus dem | |
sozialistischen Polen geflohen. Wir galten als Aussiedler. Kaum waren wir | |
in Westberlin, kaum hatten wir einen deutschen Pass bekommen, machten wir | |
uns als Polen unsichtbar. | |
Ein Phänomen, das es nicht nur in meiner Familie gibt. Je älter ich wurde, | |
desto mehr „unsichtbare Polen“ traf ich. Unsere Biografien ähneln sich auf | |
erschreckende Weise. Ach, deine Eltern haben dir auch verboten, auf der | |
Straße polnisch zu sprechen? Wie, deine Mutter hat auch die Stirn | |
gerunzelt, wenn du nicht nur Einsen in der Schule hattest? | |
## So wurden wir Polen zu Supermigranten | |
Alexandra Tobor hat über ihr Ankommen in Deutschland ein Buch geschrieben, | |
es heißt „Sitzen vier Polen im Auto“. Sie sagt: „Als wir in Deutschland | |
angekommen waren, und ich sah, wie hier alle leben, habe ich angefangen, | |
Polnisch zu hassen. Mit einem Hass, zu dem nur Kinder fähig sind. Ich habe | |
beschlossen, es zu verlernen. Und ich habe es verlernt. Fürs Deutsche.“ | |
So wurden wir Polen zu Supermigranten. Zu Vorzeigebeispielen, die keiner | |
wahrnimmt. | |
Zum einen lag das daran, dass die meisten Polen, die in den achtziger | |
Jahren nach Deutschland kamen, auf keinen Fall wieder zurück wollten. „Sie | |
hatten einen festen Entschluss gefasst“, sagt der polnische Historiker | |
Robert Traba. „Im Gegensatz zu den meisten Flüchtlingen, die davon träumen, | |
irgendwann in ihre Heimat zurückzukehren, wollten die Polen, die dem | |
Sozialismus entflohen waren, auf keinen Fall zurück.“ | |
## Deutschland wollte die Strebermigration | |
Katharina Blumberg-Stankiewicz kam wie ich als Kind mit ihren Eltern nach | |
Deutschland. Heute promoviert sie als Politikwissenschaftlerin über die | |
unsichtbaren Polen. Sie sagt: „Diese Strebermigration war ja irgendwie auch | |
von Deutschland gewollt. Die Polen wurden zu Deutschen gemacht und sollten | |
nicht weiter auffallen.“ | |
Heute gibt es kein Volk, das zahlreicher nach Deutschland einwandert, als | |
wir Polen es tun. 70.000 waren es unterm Strich im Jahr 2013. Schaut man | |
auf den aktuellen Migrationsbericht der Bundesregierung, wird schnell klar: | |
Die Einwanderung nach Deutschland ist europäisch. An zweiter und dritter | |
Stelle des Wanderungssaldos, also abzüglich derer, die Deutschland | |
verlassen, stehen die Rumänen und Italiener. Syrische Flüchtlinge kommen | |
erst an neunter Stelle, nach den Russen. Die Türken, derzeit noch die | |
größte Migrantengruppe in Deutschland, verlassen das Land eher wieder. | |
Deutschland braucht Einwanderung, das sagt die Wirtschaft seit Jahren. Denn | |
in den kommenden zehn Jahren könnten fünf Millionen Fachkräfte fehlen. Fast | |
alle Parteien sprechen sich deshalb für ein Einwanderungsgesetz aus – mit | |
dem Vorbild Kanada. Dort werden bevorzugt Hochqualifizierte ins Land | |
gelassen. Nachdem sie eine gewisse Punktzahl (zum Beispiel für | |
Berufsabschluss, Sprachen, Alter) erreicht haben. Doch das System gilt | |
mittlerweile nicht mehr als Allheilmittel. Zu unsicher ist, welchen Bedarf | |
an Arbeitskräften es in Zukunft überhaupt geben wird. | |
## Machen es die Türken besser? | |
Die Migrationsforschung in Deutschland ist eine vergleichsweise junge | |
Disziplin. Seit 2005 wird überhaupt erst die Herkunft der Menschen | |
statistisch erfasst, davor wurde im Mikrozensus lediglich nach der | |
Staatsbürgerschaft gefragt. In Zeiten, in denen so viele Menschen wie nie | |
zuvor nach Europa fliehen, stellt sich immer drängender die Frage: Wie | |
deutsch muss man in diesem Land werden? Wie klappt Integration am besten? | |
Der Minimalkonsens lautet heute: Wenn sich die Menschen auf gemeinsame | |
Werte verständigen können, wenn sie dieselbe Sprache sprechen, gleiche | |
Chancen auf Bildung haben und sich an politischen Entscheidungen beteiligen | |
können. | |
Wir dachten damals, je deutscher, desto besser. Wir schämten uns, Polen zu | |
sein. In den ersten Wochen in Deutschland liefen wir mehr oder weniger | |
stumm durch die Gegend. Meine Eltern hatten sich in den Kopf gesetzt: Auf | |
deutschen Straßen sprechen wir deutsch. Wenn Freunde zum Essen kamen, gab | |
es Lasagne und Tiramisu. Von Piroggen hatte meine Mutter genug. | |
## Zur De-Assimilierung nach Polen | |
Katharina Blumberg-Stankiewicz sagt: „Es ist verständlich, dass unsere | |
Eltern so reagiert haben. Aber man sieht, wie wir als zweite Generation | |
darauf reagieren. Wir straucheln. Und holen uns irgendwann das Polnische | |
zurück.“ | |
Machen es die Einwanderer aus der Türkei besser? Sie haben zumindest das | |
Stadtbild vieler deutscher Städte entscheidend geprägt. Piroggen-Buden gibt | |
es dafür so gut wie keine. Sogar die Vietnamesen, die ebenfalls als | |
top-integriert gelten, sind sichtbarer. Allein, weil man ihnen die Herkunft | |
ansieht. | |
Um mich zu de-assimilieren, fahre ich nach Polen. Nach Danzig, Breslau, | |
Warschau. Ich sehe Hipster und Hochhäuser und kaum einen Unterschied! | |
Ein paar dieser Hipster-Polen sind voriges Jahr nach Kopenhagen gefahren, | |
zum Finale des Eurovision Song Contest (ESC). Vorher hatten sie mehr als 40 | |
Millionen Klicks auf Youtube gesammelt. | |
## „Wir Slawen“ | |
„My Slowianie“, wir Slawen, heißt der Song des polnisches Rappers Donatan | |
([1][Youtube-Clip]). Im Video rühren Frauen in Trachten lasziv in | |
Butterfässern und singen: „Wir Slawinnen haben das, was kein anderer hat. | |
Wodka ist besser als Whiskey und Gin. Das, was unseres ist, ist das Beste, | |
weil es unseres ist.“ Man weiß nicht, ob das gute Ironie ist oder doch ein | |
Softporno. Aber vor zwanzig Jahren wäre so ein Song beim ESC undenkbar | |
gewesen. Mittlerweile hat er auf Youtube 55 Millionen Klicks. Kaum ein | |
polnisches Lied ist im Netz bekannter geworden. | |
Mein Heimatland hat sich verändert. Wie kein anderes aus dem ehemaligen | |
Ostblock hat es den Systemwechsel geschafft. Polen wird heute bewundert, | |
nicht belächelt. Die jungen Leute dort kennen den polnischen | |
Minderwertigkeitskomplex gar nicht! Die gehen ins Ausland und sind polnisch | |
und stolz drauf. | |
Soll man sich als Einwanderer angleichen? Oder doch lieber die eigene | |
Kultur leben? Und wenn ja, wie viel davon? | |
Diskutieren Sie mit! | |
Die Titelgeschichte „Wir Supermigranten“ lesen Sie in der [2][taz.am | |
wochenende vom 2./3. Mai 2015]. | |
1 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.youtube.com/watch?v=rr1DSgjhRqE | |
[2] /taw | |
## AUTOREN | |
Emilia Smechowski | |
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