# taz.de -- Historiker über 70 Jahre Kriegsende: „Stalin hasste die Frontkä… | |
> Der „Tag des Sieges“ war nicht immer der wichtigste Feiertag Russlands. | |
> Historiker Nikita Sokolow über die Kultur des Erinnerns, Glanz von | |
> Paraden und Stalins Ängste. | |
Bild: „Der Schrecken des Krieges verschwindet hinter dem Glanz der Paraden.�… | |
taz: Russland feiert den 70. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland. War | |
der „Tag des Sieges“ schon immer der wichtigste nationale Feiertag? | |
Nikita Sokolow: Unter Stalin war der 9. Mai nicht einmal arbeitsfrei. Es | |
gab keinen Feiertag. 1965 wurde der Tag erstmals mit einer Militärparade | |
begangen. Damit wollte der damalige Generalsekretär der KPdSU, Leonid | |
Breschnew, dem sozialistischen System wieder etwas Leben einhauchen und das | |
Ansehen stärken. | |
Warum ließ Stalin den Triumph nicht feiern? | |
Stalin hasste die Frontkämpfer. Das war nicht die Armee, die er gegründet | |
hatte. Sein Heer hatte der Feind 1941 schon geschlagen. In ihm herrschten | |
Angst und blinder Gehorsam. Erst die neue Armee 1943 war nicht mehr ein | |
rein Stalin’sches Produkt. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hielten die meisten | |
Russen die Deutschen nicht für Feinde. Die Bevölkerung wollte von den | |
Kommunisten befreit werden. Die ältere Generation erinnerte sich noch an | |
die deutsche Besatzung 1918. Damals stellten die Besatzer die Ordnung | |
wieder her und machten dem Bandenwesen ein Ende. Das erwartete man auch | |
diesmal. Erst als die Russen begriffen, dass diese Deutschen was anderes | |
vorhatten, zogen sie schweren Herzens aufseiten der Partei in den Krieg. | |
Fürchtete Stalin die Soldaten mit Fronterfahrung? | |
Ein zentraler Gedanke taucht in den Erinnerungen der Frontkämpfer immer | |
wieder auf: Uns wird der Krieg vom totalitären Gedankengut befreien! Acht | |
Millionen „frontowiki“ – Frontsoldaten – kehrten als veränderte Mensch… | |
aus dem Krieg zurück. Schon aus Dank erwarteten sie, dass ein Wandel | |
eingeleitet würde. In der Partei regten sich sogar Reformkräfte. Stalin | |
antwortete jedoch mit einer neuen Repressionswelle, die gezielt die | |
fähigeren Leute ausschaltete. Verschwiegen wird bei uns auch wieder, dass | |
Stalin nach dem deutschen Angriff 1941 kopflos auf seine Datscha flüchtete. | |
Traumatische Ängste müssen ihn gequält haben. | |
Darüber wird heute nicht mehr gesprochen? | |
Öffentlich nicht. Es gilt als unpatriotisch. Früher war es für uns eine | |
Selbstverständlichkeit: Nie wieder Krieg! Heute sind Erinnerungen an den | |
wahren Krieg aus dem Bewusstsein getilgt. Kühn und geschichtsvergessen | |
heißt es stattdessen: „Wir haben immer alle verprügelt und tun das auch | |
weiterhin.“ Der Schrecken des Krieges verschwindet hinter dem Glanz der | |
Paraden. Eine reflektierte Auseinandersetzung mit Kriegserinnerungen hat | |
nie stattgefunden. Das wird vom Stolz über den Sieg als offizieller | |
Leitidee verdrängt. | |
...Stolz und Größe sind zu tragenden Säulen des Systems geworden... | |
Unsere Verfassung verbietet eine ideologische Ausrichtung. Deren Rolle | |
übernahm die Geschichte. Das fing schon 2003 mit der Forderung nach einem | |
einheitlichen Schulbuch an. Dessen Ziel sollte es sein, alle dunklen | |
Flecken zu umgehen und den Schülern vor allem Stolz aufs Vaterland | |
einzuimpfen. In diesem Konzept werden die Nachbarn bewusst gedemütigt und | |
als Übeltäter und Halunken dargestellt. Wohingegen wir immer die Größten | |
sind und einen Sieg nach dem anderen errungen haben. Im selben Atemzug | |
beschreibt sich Russland aber als eine belagerte Festung, die permanent zur | |
Selbstverteidigung gezwungen wird. Warum das dann immer mit einer | |
Erweiterung des Staatsgebietes enden muss, könnte man jetzt fragen. | |
Und stellen Ihre Studenten solche Fragen? | |
Wenn ich in der Vorlesung das Leben einfacher Frontsoldaten oder | |
sowjetischer Zwangsarbeiter beschreibe, sind die meisten jungen Studenten | |
verstört: „Wieso müssen Sie uns das alles erzählen?“ fragen sie. „Bisl… | |
war alles schön, die Paraden, die ruhmreichen Geschichten...“ Sobald der | |
Preis des Krieges benannt wird, zerbröckelt das ideologische Konstrukt | |
ziemlich schnell. | |
Ist die Unkenntnis der Geschichte einer der Gründe, warum sich die Jugend | |
nach der Annexion der Krim so kampfbereit gibt? | |
Der Große Vaterländische Krieg ist in ihren Augen eine einzige ruhmreiche | |
Heldentat, bewusst vollbracht von einem kampf- und siegbereiten Volk. Die | |
Verwerfungen werden übergangen, als wäre das so einfach gewesen. Diese | |
Sichtweise spiegelt sich in solchen gedankenlosen Autoaufklebern wider wie | |
„1941 – 1945 können wir gerne wiederholen“ (nach russischer Interpretati… | |
begann der Zweite Weltkrieg erst mit dem Überfall Deutschlands auf die | |
UdSSR 1941; die Redaktion) oder „Nach Berlin!“ Die Jugend ist voll und ganz | |
zur Konfrontation bereit. Sie kennt ja die Schrecken des Krieges nicht, nur | |
die kanonisierten Erzählungen glorreicher Siege. Außerdem ist die | |
Darstellung der Vergangenheit im Moment das einzige, worauf die Jugend | |
stolz sein kann. | |
Historiker haben es zurzeit nicht leicht in Russland. | |
Die Zeit ist sehr schlecht. Russland steckt in allen Bereichen in riesigen | |
Schwierigkeiten. In solchen Zeiten nehmen die Angriffe auf Historiker zu. | |
Die letzte funktionstüchtige historische Vereinigung wurde schon 1929 von | |
Stalin im Zuge des Kampfes gegen die Geisteswissenschaften vernichtet. | |
Davon haben sich die Historiker nie mehr erholt. Es gibt keinen eigenen | |
Verband. | |
Ist die Geschichte wieder eine Auftragswissenschaft? | |
Viele Historiker sind bereit, die offizielle Politik zu unterstützen und | |
staatlichen Interessen zu dienen. Die meisten sind beim Staat angestellt. | |
Sobald sie Selbständigkeit zeigen, wird Strafe angedroht. | |
Wie könnte so eine Auftragsarbeit aussehen? | |
Präsident Putin hat im letzten Jahr die Taufe der Rus auf die Krim nach | |
Chersones verlegt. Woher er das hat, weiß ich nicht. Schließlich gehört die | |
Krim erst seit 1773 zu Russland. Niemand hat in diesem Zusammenhang jemals | |
Chersones erwähnt. Nun wird es Aufgabe sein, die Geschichte Chersones’ als | |
Ort der Christianisierung zu belegen. | |
Ein neues Gesetz verbietet die so genannte „Rehabilitierung des | |
Faschismus“. Auch Entscheidungen der Nürnberger Prozesse dürfen nicht mehr | |
angezweifelt werden. Was bedeutet das für die Forschung? | |
Aktivitäten der Alliierten in der Anti-Hitler-Koalition sind genauso von | |
dem Verbot betroffen wie die Erforschung der sowjetischen Gegenaufklärung. | |
Es wird riesige Graubereiche hinterlassen. Noch etwas Absurdes ist, dass | |
Ehrentage der Streitkräfte auch von Kritik ausgenommen sind. Der 23. | |
Februar ist seit 1918 Tag der Roten Armee, heute Tag der | |
Vaterlandsverteidiger. Februar 1918 war unterdessen kein Ruhmesblatt für | |
die Armee. Sie war gerade dabei, als Verlierer aus dem Krieg auszuscheiden. | |
Wie sollen Lehrer damit umgehen? Stellen sie die Geschichte anders dar als | |
im Geschichtsbuch, drohen ihnen fünf Jahre Gefängnis. | |
9 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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