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# taz.de -- Deutscher Überfall auf die UdSSR: Erobern, zerstören, auslöschen
> 3,3 Millionen Rotarmisten kamen in der Gefangenschaft ums Leben – dabei
> wusste jeder deutsche Soldat, dass kein Gegner getötet werden darf, der
> sich ergibt.
Bild: Die deutsche Wehrmacht in Vilkija, in Litauen (Archivbild vom 24. Juni 19…
In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritten etwa 3
Millionen schwer bewaffnete deutsche Männer in Wehrmachtsuniform begleitet
von SS-Einheiten die östliche Grenze des deutschen Machtbereichs und fielen
in die Sowjetunion ein. Im Marschgepäck trugen die deutschen Generäle nicht
nur die große Illusion, die Streitkräfte des riesigen Nachbarlandes im
Osten in einem Blitzkrieg von wenigen Monaten niederringen zu können. Sie
verfügten auch über ein Bündel von zentralen Weisungen des Oberkommandos
der Wehrmacht und des Oberkommandos des Heeres, in denen eine neue Art der
Kriegsführung festgelegt war.
Es handelte sich um Anweisungen zu exzessiver Gewaltsamkeit. Der durch die
Propaganda als „jüdisch-bolschewistisch“ gebrandmarkte Feind sollte nicht
nur besiegt, sondern „vernichtet“ werden. Die Devise der Wehrmacht lautete:
erobern, zerstören und auslöschen.
Dabei blieben tradierte Rechtsvorstellungen auf der Strecke. Die – speziell
für den Ostkrieg erlassenen – Wehrmachtbefehle, insbesondere der
Kommissarbefehl, der die umstandslose Liquidierung aller russischen
Politoffiziere verlangte, verstießen gegen das geltende Kriegsvölkerrecht
und gegen die althergebrachten Vorstellungen von einer ritterlichen
Kriegsführung.
Diese waren in der Wehrmacht keineswegs vergessen. Das erste der „10 Gebote
für die Kriegsführung des deutschen Soldaten“, die in jedem Soldbuch
abgedruckt waren, hieß es: „Der deutsche Soldat kämpft ritterlich für den
Sieg seines Volkes. Grausamkeiten und nutzlose Zerstörungen sind seiner
unwürdig.“ Angesichts der konkreten Befehlslage, die seit dem Tage des
Überfalls auf die Sowjetunion gültig war, klang dieses Gebot wie ein Lied
aus einer anderen Zeit.
Bis zum heutigen Tage beschäftigt uns die Frage, wie es zu dieser
verbrecherischen Kriegsführung kommen konnte, die doch gegen jedes
militärische Berufsethos verstieß. Das suchende Auge findet Vorgänge in den
deutschen Kolonialkriegen gegen die Herero und Nama, die als Vorgeschichte
des Vernichtungskrieges von 1941 bis 1944 im Osten angesehen werden können.
Weiterhin blicken wir auf antisemitische, antibolschewistische und
antislawische Traditionen, die im deutschen Militär bereits lange vor dem
Zweiten Weltkrieg wirksam waren. Nach dem Sieg über Frankreich 1940 griff
die Vorstellung von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht um sich, wenn sie nur
alle verfügbaren Mittel anwendete.
## Lebensraum im Osten
In den Monaten vor dem Überfall auf die Sowjetunion schwor Hitler als der
Oberste Befehlshaber der Wehrmacht höchstpersönlich das militärische
Führungspersonal auf den bevorstehenden Krieg ein. Er bezeichnete ihn als
einen „Weltanschauungskrieg“ und meinte damit, dass es um nichts Geringeres
als das Existenzrecht des deutschen Volkes gehe. Dieses konnte angeblich
nur durch die Eroberung von Lebensraum im Osten und die Vernichtung des
sowjetischen Staates sichergestellt werden konnte.
Hitler verlangte von den Generälen, in ihm nicht nur den Obersten
Befehlshaber der Wehrmacht zu sehen, sondern auch den „obersten
weltanschaulichen Führer“. Es gibt ein Datum und ein Ereignis, das den
ideologischen Schulterschluss zwischen Hitler und der Wehrmacht-Generalität
markiert. Gemeint ist die Geheimrede Hitlers in der Reichskanzlei vom 30.
März 1941. Hitler sprach vor etwa 250 Generälen, die wenig später das
Ostheer im „Unternehmen Barbarossa“ befehligen sollten. Es handelte sich
nicht etwa um ein speziell für den Ostkrieg ausgewähltes, ideologisch
besonders zuverlässiges Führungspersonal, sondern um „ganz normale
Generäle“.
In einer fast zweieinhalbstündigen Rede entwickelte Hitler in aller
Offenheit seine rassenideologischen Vorstellungen und seine
Vernichtungsabsichten. Er bezeichnete den Bolschewismus als „asoziales
Verbrechertum“ und sprach von einem „Vernichtungskampf“, in dem es nicht
darum gehe, „den Feind zu konservieren“, sondern in dem es auf die
„Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen
Intelligenz“ ankomme. Vom sonst üblichen „Standpunkt des soldatischen
Kameradentums“ müsse die Wehrmacht in diesem Krieg abrücken.
## Nur vereinzelt gab es Widerstand
Die in der Reichskanzlei versammelten Generäle erkannten natürlich, dass
ihnen von Hitler eine Kriegsführung abverlangt wurde, die mit dem geltenden
Kriegsvölkerrecht und mit dem überlieferten soldatischen Ehrenkodex in
keiner Weise in Einklang stand. Aber sie protestierten nicht.
Nur ganz vereinzelt gab es Widerspruch gegen den
Kriegsgerichtsbarkeitserlass, weil er Gefahren für die Disziplin der Truppe
hervorrufen konnte. In der Folgezeit setzten die Generäle und Juristen in
den Führungsstäben die Hitler’schen Intentionen „geschäftsmäßig“ in
Einzelbefehle um.
So kam jene Serie von Befehlen zustande, die später zu Recht als
„verbrecherisch“ bezeichnet worden sind. Mit der unterlassenen Auflehnung
gegenüber dem von Hitler vorgegebenen verbrecherischen Kurs verlor die
Wehrmachtgeneralität an jenem 30. März 1941 jeden Respekt der zivilisierten
Menschen – und dies auf Dauer.
Ein besonders empörendes Kapitel des deutschen Krieges gegen die
Sowjetunion war der Umgang der Wehrmacht mit den sowjetischen
Kriegsgefangenen. In den Kulturnationen der Neuzeit hatte sich der
Grundsatz herausgebildet, dass Kriegsgefangene „mit Menschlichkeit
behandelt“ werden müssten. Mit dieser Tradition brach Hitler in seiner Rede
vom 30. März 1941 radikal, wenn er sagte, der Rotarmist sei „kein Kamerad“,
nicht vorher und nicht nachher, also nicht vor und nach seiner
Gefangennahme.
## Kaum eine Chance zum Überleben
Die Folgen waren entsetzlich: Von den 5,7 Millionen Rotarmisten, die in
deutsche Hand gerieten, kamen 3,3 Millionen ums Leben, was 57,5 Prozent der
Gesamtzahl ausmacht. Viele wurden erschossen, die meisten fielen einem
Massensterben in improvisierten Gefangenenlagern zum Opfer. Allein im
Winter 1941/42 ließen etwa 2 Millionen russische Kriegsgefangene in
deutschen Gewahrsam unter jämmerlichsten Bedingungen ihr Leben. Man muss
sich vorstellen: Ein junger russischer Soldat, der 1941 in die Hand der
Wehrmacht geriet, hatte praktisch kaum eine Chance zum Überleben.
Die Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen hat nahezu die
Dimension der Ermordung der europäischen Juden. Eine ähnliche
Aufmerksamkeit wie der Holocaust konnte es allerdings bis heute nicht
erregen. Den kriegsgefangenen Rotarmisten fehlte eine einflussreiche Lobby,
sowohl in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten als auch in
Deutschland. Bundespräsident Joachim Gauck stellte kürzlich zutreffend
fest, dass dieses Massenverbrechen bis heute in einem „Erinnerungsschatten“
liege.
Wie konnte es dazu kommen? Erstens wurden die Fakten nach dem Kriege nicht
offengelegt. Verschwiegen wurde insbesondere Tatsache, dass der Tod so
vieler gefangener Rotarmisten durchaus gewollt und in der Hunger- und
Ausrottungspolitik der NS-Führung eingeplant war und dass das Massensterben
in der vollen Verantwortung der Wehrmacht lag. Hier ließ sich nichts
abschieben auf die mörderische SS, welche im Falle der Judenmorde angeblich
alleine die „Drecksarbeit“ zu machen und zu verantworten hatte.
## Das Feindbild blieb
Zweitens erleichterte der Kalte Krieg die Verdrängung dieses Themas aus dem
öffentlichen Bewusstsein. Der Krieg war zu Ende, aber das
antibolschewistische Feindbild blieb. Hinweise auf Verbrechen der Wehrmacht
wurden als Nestbeschmutzung diffamiert.
Drittens wurde aufgerechnet: Auch die deutschen Kriegsgefangenen hätten
gelitten. Unterschlagen wurde die Tatsache, dass die deutschen
Kriegsgefangenen ebenso hungerten wie die russische Zivilbevölkerung,
während die russischen verhungern mussten, um die Versorgung der deutschen
Bevölkerung sicherzustellen.
Der verbrecherische Umgang der Wehrmacht mit den russischen
Kriegsgefangenen in den Jahren 1941–1945 war und ist eine unauslöschliche
Schande für die Wehrmacht und für die Deutschen insgesamt. Das Gebot Nr. 3,
das im Soldbuch der deutschen Soldaten stand, lautete: „Es darf kein Gegner
getötet werden, der sich ergibt.“ Dieses Gebot, auf das sich jeder deutsche
Soldat hätte berufen können, wurde von der Wehrmacht, der nachgesagt wurde,
sie sei „sauber“ geblieben, drei Millionen und dreihunderttausend Mal
gebrochen. Dieses Wissen muss endlich aus dem „Erinnerungsschatten“
herausgeholt werden. Historische Sensibilität kann den deutsch-russischen
Beziehungen nur nützen.
21 Jun 2016
## AUTOREN
Wolfram Wette
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