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# taz.de -- Tagebücher des Sowjet-Politikers Maiski: Versprechen und manipulie…
> Die Tagebücher des sowjetischen Außenpolitikers Iwan Maiski sind
> lesenswert. Sie beleuchten Aufstieg und Fall eines Spitzengenossen unter
> Stalin.
Bild: Iwan Maiskin (stehend) spricht 1943 vor der Britischen Marine. Er unterze…
Fragen wir heute nach den Namen der wichtigsten Diplomaten der Sowjetunion,
fragen wir vermutlich vergeblich. Nur wenigen würde wahrscheinlich Andrei
Gromyko einfallen (Außenminister 1957–1985), den Älteren sein Vorgänger im
Amt, Wjatscheslaw Molotow (1939–1957). Beide waren langjährige Mitglieder
des Politbüros (fragen wir lieber – auch in postsozialistischen Ländern –
nicht, was sich hinter diesem Namen verbarg). Als jene Angehörige des
inneren Führungszirkels der Weltmacht, die öffentlich mit dem westlichen
Ausland kommunizierten, schrieben sie die Geschichte des globalen Kalten
Krieges mit.
Hinter den Großen der sowjetischen Außenpolitik agierte ein Apparat von
tausenden, später zehntausenden Mitarbeitern des Außenministeriums, das
lange Nationales Komitees für Auswärtige Angelegenheiten hieß. Ihre
westlichen Kollegen hegten für die meisten Sowjetdiplomaten keine
übermäßige Sympathie, galten sie doch als besonders steif, bis ins kleinste
Detail weisungsgebunden, unnahbar bis brüsk. Freilich gab es zahlreiche
Ausnahmen: eine recht dünne Schicht von nicht nur gut ausgebildeten,
sondern schlicht gebildeten, intelligenten Profis, die wahrscheinlich auch
in anderen diplomatischen Diensten Karriere gemacht hätten. Einer von ihnen
hieß Iwan Maiski.
Die Biografie beginnt typisch für eine ganze Generation der russischen
Intelligenzija. 1884 in einer jüdischen, russisch-orthodox assimilierten
Familie geboren, schließt sich Maiski während des Studiums revolutionären
Geheimzirkeln an, wird verhaftet und zu einem Zwangsaufenthalt im Ausland
verurteilt. In den Wanderjahren vor dem und während des Ersten Weltkriegs
lernt er „den Westen“, darunter Großbritannien, gut kennen, schließt
Freundschaft mit Gleichgesinnten, liest und diskutiert über die Zukunft der
Menschheit.
Nach der Rückkehr in das revolutionäre Russland entscheidet er sich für die
falsche – obwohl ebenfalls linke – Partei; die siegreichen Bolschewiki
werden ihm das erst Jahre später verzeihen und nie vergessen. Er steigt in
den diplomatischen Dienst ein und wird schnell mit der Leitung von
Gesandtschaften betraut. 1932 bekommt der Protegé des Außenministers den
Traumjob: Botschafter in London.
## Professioneller Spieler
Die Herausforderung ist immens. Mit der NS-Machtübernahme wird die
sowjetische Botschaft in Berlin ziemlich bedeutungslos, Washington wird bis
1941 irrelevant bleiben. Was zählt, sind Paris, Warschau und eben London.
Es geht nun nicht mehr um die Menschheit, sondern darum, dem eigenen Staat
einen optimalen Platz zu verschaffen innerhalb eines ohnehin wackligen
Mächtekonzerts, das von Adolf Hitler alle paar Monate
durcheinandergewirbelt wird.
Maiski erweist sich als professioneller Spieler, der seinen Gastgebern
Moskau als verlässlichen Partner Londons schmackhaft zu machen versucht;
letztlich erfolglos, woran er keine Schuld trägt. Seit München 1938 bzw.
der Zerschlagung der „Resttschechei“ im März 1939 sehen wir seine
Bemühungen auf einem Nebengleis geparkt, nach dem Hitler-Stalin-Pakt
scheint er gar auf einem toten Gleis gelandet zu sein.
Die Erlösung bringt der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Jetzt blüht
Maiski wirklich auf. Hinter verschlossenen Türen verhandelt er mit Winston
Churchill (diese Bekanntschaft pflegte er seit Langem) und Anthony Eden, er
verspricht und manipuliert, bedrängt die Briten, die 2. Front in Frankreich
so schnell wie möglich zu eröffnen, um die um ihr Überleben kämpfende
Sowjetunion vor dem deutschen Todesstoß zu retten. Es kommt alles anders;
Maiski wird im Sommer 1943 abberufen und in Moskau als einer von mehreren
stellvertretenden Außenministern kaltgestellt (kein Versprecher – sowas
gibt es), die 2. Front kommt erst im Juni 1944.
## Zensierte Memoiren
Schon jetzt altert der Verfechter des Großmächtekartells zu einem
Auslaufmodell. Seit 1945 geht es nur noch abwärts, bis der in
Bedeutungslosigkeit und Anonymität Verdrängte im Februar 1953 verhaftet
wird. Der Autor bleibt bis 1955 in Untersuchungshaft (was sich in dieser
Zeit um Maiski herum abspielte, wäre ein eigenes Buch wert), wird erst 1960
rehabilitiert. Als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften darf er dann
am Rande der sowjetischen Elite vegetieren, keineswegs als Elder Statesman,
eher als geduldeter „ehemaliger Mensch“, wie die einmalige russische
Bezeichnung für überflüssiges Menschengut lautet. Seine verstümmelten,
selbstzensierten und zensierten Memoiren werden in den 1960ern und 1970ern
in mehrere Sprachen übersetzt. Maiski stirbt vergessen 1975.
Gabriel Gorodetsky stieß auf die Tagebücher im Moskauer Archiv 1993. Um sie
herausgeben zu können, ging er eine Partnerschaft mit kremlnahen Moskauer
Historikern ein (zur russischen Ausgabe merkt er kryptisch an, sie atme
„eine gewisse amtliche Strenge“), vor allem aber ging er in unzählige
Archive in Russland, Großbritannien und in den USA. Nach gut einem
Jahrzehnt Arbeit erschien die dreibändige, vollständige Edition der 1.800
Seiten Tagebuch in den USA. Die deutsche Ausgabe ist zwar ein stattliches
Buch, enthält jedoch nur rund ein Viertel der amerikanischen. Der
deutschsprachige Leser vertraut Gorodetsky, dass er das Wichtigste
ausgesucht hat – und legt das Buch verwundert aus der Hand. Warum?
Die amerikanischen Besprechungen klangen enthusiastisch – eine einmalige
Quelle, vielleicht das bedeutendste politische Tagebuch des Jahrhunderts
usw. Sie folgten damit der Selbstdarstellung des Herausgebers: Dem
angeblich „spontan“ verfassten Tagebuch komme „eine ungeheure
geschichtliche Bedeutung zu“, die Aufzeichnungen würden „einige Kapitel der
Geschichte, wie wir zu kennen glaubten, neu schreiben“ (S. 17). Dabei weiß
Gorodetsky besser als jeder Leser um den spezifischen Adressaten der
Notizen: Als Maiski 1943 in London packen musste – noch wenige Jahren zuvor
kam die Abberufung nach Moskau einem Todesurteil gleich –, instruierte er
seine Frau, „für jeden erdenklichen Fall der Fälle“ die Tagebücher direkt
an den Genossen Stalin zu schicken.
## Spontane Niederschrift?
Selbstverständlich sind die alltäglichen Notizen glaubwürdiger als die zwei
Jahrzehnte später geschriebenen Memoiren. Gorodetsky kann nachweisen, wie
Maiski eigene Ideen in den Mund prominenter britischer Gesprächspartner
legt, um sie dann in einem Kabel nach Moskau als wichtigen Vorschlag der
Gastgeber zu präsentieren; wie er seinen Dienstherren schlechte Nachrichten
vorenthält, um Zeit zu gewinnen und die Briten vielleicht doch für seine –
das heißt der Zentrale – Ideen zu gewinnen. Dass er damit mehr riskiert als
Diplomaten, die dasselbe tun – nur eben keinem Stalin unterstehen und die
Erfahrung der Großen Säuberung nicht kennen – stimmt durchaus, nur ändert
es nichts an der Tatsache, dass Maiskis Niederschrift alles andere als
„spontan“ zu nennen ist.
Authentisch ist sie hingegen in einem anderen Sinne. Wenn Maiski kein Wort
der Kritik zum Hitler-Stalin-Pakt einfällt, er den sowjetischen Überfall
auf Finnland 1939 als gerechte Antwort auf finnische Provokationen
abhandelt oder Katyn als Lüge der NS-Propaganda, ist er – wohl ohne an den
künftigen ersten Leser seines Tagebuchs denken zu müssen – ganz der treue
Diener sowohl des Landes als auch des Systems.
Das meiste Wissen über die Glaubwürdigkeit der Quelle verdanken wir dem
Herausgeber. Von Ausnahmen wie „Mein Kampf“ abgesehen, besteht dessen
Aufgabe ja grundsätzlich darin, die Quelle über zusätzliche Informationen
zu erschließen. Gorodetsky hat diese Regel über den Haufen geworfen: Statt
erklärende, trockene Fakten zu liefern, polemisiert er mit dem Tagebuch. Er
kommentiert einzelne Passagen in langen Kommentaren, weist Ungenauigkeiten,
Verdrehungen und Auslassungen nach.
Man muss seinen Interpretationen nicht immer folgen, trotzdem summieren sie
sich zu einem lesenswerten Buch über die Diplomatiegeschichte der 1930er-
und 1940er-Jahre und London in dieser Zeit. Nicht nur mir wird es so
gegangen sein: Eigentlich lernt man aus dieser ausufernden
Kontextualisierung mehr als aus der Quelle selbst. Kein Kompliment für die
Tagebücher, durchaus eines für den Herausgeber.
Und dann diese Titelseite … Die amerikanische Ausgabe trug den treffenden
Untertitel „Red Ambassador to the Court of St. James’s“. Der deutsche
lautet „Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler“. Gegen Hitler gekämpft hat
Maiski ganze zwei Jahre lang, 1941 bis 1943. Die vorangegangenen zwei Jahre
vertrat er mit ebensoviel Geschick die Interessen des de facto wichtigsten
Verbündeten des Dritten Reiches.
„Ein Diplomat im Kampf für Stalin“ würde sich vermutlich schlechter
verkaufen. Wäre aber treffender und weniger peinlich.
18 Sep 2016
## AUTOREN
Wlodzimierz Borodziej
## TAGS
Kalter Krieg
Sowjetunion
Großbritannien
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Lesestück Meinung und Analyse
Einiges Russland
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
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